W -w-was zur Hölle ist da draußen los?«, stammelte Sophia, als sie durch die Tür von Johns Elektronikwerkstatt schlüpfte und diese hinter sich zuwarf.
Auf den Straßen von West Hollywood waren Demonstranten und Drachenanbeter in großer Menge unterwegs. Die Lage spitzte sich zu.
Alicia wandte ihre Aufmerksamkeit von der Cyborg-Piratin Trin Currante ab, die auf einem Behandlungsstuhl saß, als wäre sie Patientin in einer Arztpraxis. Mehrere Nadeln steckten in der Haut ihres ›menschlichen‹ Arms.
»Das geht schon seit Tagen so«, meinte Alicia mit ihrem italienischen Akzent. »Wir dachten immer, es würde nachlassen, aber seit Nevin Goosemans Ansprache ist es nur noch schlimmer geworden.«
Sophia presste ihren Rücken gegen die Tür und atmete tief durch. Sie war dankbar, dass Lunis nicht bei ihr war, obwohl er wüst darüber gemosert hatte, dass er in Gullington zurückbleiben musste, um auf die Drachen ›aufzupassen‹.
Es war eigenartig, wie unterschiedlich Drachenreiter in ihrer kurzen Karriere bei der Elite behandelt wurden. Zuerst glaubte niemand an ihre Existenz und hielt sie für eine Schauspielerin auf dem Renaissance-Jahrmarkt, als sie die Fairfax Avenue entlanglief. Die Welt erfuhr langsam von ihrer Anwesenheit und war immer noch unsicher wegen ihrer Rückkehr. Als die Drachenelite als Judikatoren Fortschritte machte, erwarben sie sich ein wenig Ruhm, der sich schnell in diese Drachenanbetung verwandelte. Jetzt gab es eine neue Gruppe, die Drachengegner, die eine Kluft zwischen den beiden bildeten.
So nannten sie sich selbst, hatte Sophia entdeckt, als sie nach dem Haus der Vierzehn die Allee zur Werkstatt hinunterging. Auf der einen Seite der Straße standen die Demonstranten, die mit ihren handgemalten Schildern marschierten und verschiedene Sprechchöre riefen. Sophia wusste nicht, worauf sie sich einließ, als sie durch das Portal trat, sonst hätte sie sich besser getarnt … oder überhaupt nicht.
Als die Menge der Drachengegner sie sah, reagierten sie sofort, indem sie lauter brüllten und ihre Schilder in die Luft hoben. Auf den Pappplakaten stand: ›Keine Teufel. Keine Drachen‹, ›Rettet uns vor den Drachen‹ und ›Rottet die Drachen aus, bevor sie uns ausrotten‹.
Bei ihrem Anblick zeigten die Demonstranten auf Sophia und riefen: »Da ist eine von denen! Eine Drachenreiterin!«
Sie war sich nicht sicher, was passieren konnte, wenn sie sie erwischten, aber Sophia wollte es nicht herausfinden. Sie ging davon aus, dass es für sie übel ausgehen würde, obwohl sie schon gegen viel Schlimmeres gekämpft hatte als gegen einen Haufen wütender, sterblicher Demonstranten. Trotzdem wollte sie nicht riskieren, in ein Scharmützel mit der Menge zu geraten, selbst wenn es nur um einen Wortwechsel ging. Der Ruf der Drachenelite hing am seidenen Faden und Schadensbegrenzung war von größter Bedeutung.
Zu ihrer Erleichterung hatten sich die Drachenanbeter zwischen sie und die Drachengegner gedrängt, sodass sie in den Laden flüchten konnte. Sie hielten auch Schilder in der Hand, aber auf ihren stand etwas ganz anderes: ›Drachen werden uns retten‹, ›Kein Gut ohne Böse‹, ›Drachen unterstützen – das ist Liebe‹.
Sophia war dankbar, dass sie ihre Idee, die Drachenrasse zu erhalten, scheinbar verstanden hatten. Sie war froh, dass sie sich vor die Drachengegner geschoben hatten, aber es wurde schnell klar, dass sie auch ihnen entkommen musste. Sie kamen mit offenen Armen und verträumten Blicken auf sie zu und sagten Dinge wie: ›Berühre mich, Drachenreiterin‹, ›Die erste Reiterin! Sie ist eine Göttin!‹, ›Unsere Retterin!‹, ›Wo ist dein prächtiger Drache?‹
Sophia wurde sofort von den Drachenanbetern eingekesselt und die Drachengegner kamen immer näher. Sie hatte keine andere Wahl, als die Mauer neben einer Reinigung zu erklimmen, über die Dächer verschiedener Geschäfte hin und herzuspringen und mehrere Ablenkungsmanöver zu starten, bis die Menge sie aus den Augen verloren hatte. Erst als sie sich in Sicherheit wähnte, kletterte sie an der Seite von Johns Elektronikwerkstatt herunter und schlüpfte hinein.
»Sie waren größtenteils friedlich«, erklärte Trin Currante und zuckte nicht zurück, als Alicia ihr eine weitere Nadel in den Arm stach. »Aber ich kann einige meiner Männer rausschicken, wenn du die Gruppen auflösen willst.«
Sophia schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ihr gutes Recht und ihre Stimmen sind wichtig. Ich höre zu. Es ist nur so, dass es nicht einfach sein wird, die Drachengegner zu überzeugen.«
Alicia stimmte zu und notierte einige Informationen auf einem Tablet. »Ich fürchte leider, dass die Dinge noch schlimmer werden, bevor sie sich verbessern. Die Medien schüren die Ängste.«
»Entsetzlich«, meinte Sophia trocken und rutschte auf einen Hocker. »Sie lieben es einfach, die Flammen zu schüren und noch mehr Drama zu machen, obwohl es keines geben muss.« Sie lachte morbide vor sich hin. »Ist es nicht ironisch, dass die Drachenelite eigentlich den Frieden fördern sollte und das hier ist dabei herausgekommen?« Sie deutete mit ihrer Hand zum Fenster des Ladens, wo man draußen auf der Straße die beiden Gruppen marschieren sehen konnte.
»Ich glaube, auf dem Weg zur Erfüllung unserer Bestimmung treffen wir oft auf eine ganze Menge Ironie«, merkte Trin weise an. »Vielleicht ist es die Art des Universums, unsere Entschlossenheit zu testen.«
Sophia nickte und lächelte. »Das Universum liebt ein hartnäckiges Herz, nicht wahr?«
Trin erwiderte den Blick, der sie viel menschlicher erscheinen ließ als zuvor, selbst mit dem Cyborg-Auge und den schwarzen Drähten als Haare. »Ich glaube, es belohnt einen dafür, dass man auf seine Ziele hinarbeitet.«
»Wo wir gerade von Zielen sprechen.« Sophia deutete auf die Testgeräte, die Alicia neben Trin auf dem Arbeitsplatz stehen hatte. »Wie geht es mit dem Gegenmittel voran?«
Alicia blickte auf und für einen kurzen Moment lag ein Zögern in ihren Augen. Sie überspielte es sofort und zwang sich zu einem höflichen Lächeln. »Wir sind noch in der Testphase. Es ist ein … Prozess.«
»Es macht mir nichts aus, dass der Fortschritt Zeit braucht.« Trin klang untypisch freundlich, als wollte sie die Wissenschaftlerin trösten.
»Ja, aber ich bin zuversichtlich, dass wir bald mit den Versuchen bei den anderen beginnen können«, erklärte Alicia.
»Anderen?«, fragte Sophia.
»Ja«, bekräftigte Alicia. »Ich glaube, die anderen Cyborgs …« Sie warf Trin einen vorsichtigen Blick zu. »Ist es okay, wenn ich dich und deine Männer so nenne?«
Ein mechanisches Geräusch ertönte, als Trin nickte. »Das sind wir, auch wenn wir uns etwas anderes wünschen.«
»Nun, wenn es einen besseren Begriff gibt, dann bin ich froh …«
»Es ist schon in Ordnung«, mischte sich Trin ein.
»Okay«, fuhr Alicia mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck fort. »Wie auch immer, die anderen Cyborgs reagieren vielleicht anders auf das Medikament, das ich teste, weil sie während verschiedener Versuche bei Saverus hergestellt wurden. Trin ist anders, weil sie eine der ersten war.«
Das mechanische Auge des weiblichen Cyborgs schwenkte in Sophias Richtung, während ihr menschliches Auge geradeaus gerichtet blieb. »Mika Lenna ist bei der ersten Gruppe von uns aggressiver vorgegangen. Ich war die Einzige, die überlebt hat. Er erkannte, dass er etwas vorsichtiger sein musste.«
»Oh.« Sophias Herz schmerzte plötzlich wegen Trin. Sie sah mehr wie ein Cyborg aus als viele ihrer Männer. Einige hatten Waffen als Arme und andere seltsame Vorrichtungen an ihren Körpern, aber sie hatten auch viele menschliche Züge. Trin bestand mehr aus Metall als aus Fleisch und Blut.
»Ich teste eine andere, vielleicht aggressivere Lösung für Trin«, erklärte Alicia und fuhr fort, ihre Notizen durchzusehen. »Ich denke, wenn ich die Versuche mit den anderen beginne, kann ich vielleicht herausfinden, wie ich die Formel verändern kann, dass sie bei Trin funktioniert.«
Sophia wusste nicht, wie sie ihre nächste Frage stellen sollte, aber sie hielt es für notwendig, sich zu vergewissern, dass sie verstanden wurde. »Das Gegenmittel hilft dir, die Magitech aus den Cyborgs zu entfernen«, begann sie und wählte ihre Worte sorgfältig, »aber die Metallteile? Wie funktioniert das?«
Alicia nickte und wirkte sehr sachlich. »Für einige gibt es ein Verfahren, um sie durch menschliche Teile zu ersetzen. Andere werden diese Möglichkeit nicht haben. Es wird von Fall zu Fall entschieden.«
Trin warf Sophia einen strengen Blick zu. »Ich habe es aufgegeben, wieder ganz menschlich auszusehen. Ich möchte mich einfach so fühlen.«
»Wir werden alles tun, um dich wieder zu dem zu machen, was du einmal warst«, beruhigte Alicia sie.
Die Cyborg-Piratin schaute in Richtung Straße, von der laute Stimmen zu hören waren. »Ich weiß das zu schätzen, aber ich habe mich darauf vorbereitet, dass es für mich nicht funktionieren könnte. Ich denke, ich werde mich damit abfinden, wenn du den anderen helfen kannst.«
Sophia bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. »Gib nur nicht auf. Vergiss nicht, das Universum liebt ein hartnäckiges Herz.«