Kapitel 17

A ls Sophia durch die Barriere eilte, erwartete sie, dass Gullington in Flammen stand, wie damals, als Trin Currante in das Hauptquartier der Drachenelite eindrang. Zu ihrer Überraschung war es auf dem Hochland ruhig, kein Cyberpunk-Zeppelin warf Bomben auf die Burg und keine Drachen kämpften gegen Cyborgs.

Sophia blickte in Richtung der Höhle, wo sie etwas zu sehen erwartete, aber dort war seltsamerweise nichts. Sie konnte immer noch nicht mit Lunis kommunizieren, obwohl sie erleichtert war, ihn zu spüren und zu wissen, dass es ihm gut ging. Sie beschloss, dass es am besten war, in der Burg nachzusehen und sprintete in diese Richtung.

Drinnen angekommen, fand Sophia die Burg irritierend ruhig vor. Es war nicht so, dass sie dort Krieg und Verwüstung vorfinden wollte, aber so gar nichts zu entdecken, machte ihr noch mehr Angst vor dem, was tatsächlich geschah. Sie fühlte sich wie in einem Geisterschloss.

Sophia schaltete ihre verbesserten Sinne ein, schloss die Augen und lauschte auf die Geräusche in der Burg. Aus der Küche hörte sie das Klirren von Töpfen und Pfannen. Jemand machte Geräusche im fünften Stock, der meistens unsichtbar war, es sei denn, Quiet entschied anders. Dann hörte sie Stimmen, die aus Hikers Büro kamen und eilte die große Treppe hinauf.

Sophia stürmte in Hikers Büro und fand den Wikinger vor, wie er mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und angespannten Schultern aus der Fensterfront schaute. Auf der Couch saß Mama Jamba und nähte etwas Kleines. Evan und Mahkah standen zögernd mit NO10JO neben dem Schreibtisch. Wilder war abwesend.

»Was ist los?«, fragte Sophia.

Hiker drehte sich um und warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Woher weißt du, dass etwas nicht stimmt?«

Sie schluckte. Er wusste nicht, dass Evan ein Handy besaß und ihr eine Nachricht geschickt hatte, dass sie zur Burg zurückkehren sollte. »Ähm … ich habe es einfach gespürt.«

Er dachte darüber nach, bevor er nickte. »Ich wusste, dass du nicht telepathisch mit Lunis kommunizieren kannst, da ich ihn angewiesen habe, seine ganze Aufmerksamkeit der Suche nach den Drachen zu widmen.«

»Was?« Sophia versuchte, das Ganze zu verstehen. »Die Drachen? Was ist mit ihnen passiert?«

»Sie sind entwischt«, mischte sich Evan ein.

Hiker schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind gegangen, wie es ihnen erlaubt ist.«

»Warte, wie?« Sophia wusste nicht genau, über wen sie redeten.

Hiker presste die Lippen zusammen und sah plötzlich viel älter aus. »Viele böse Drachen haben Gullington verlassen. Diejenigen, die gerade erst fliegen gelernt haben, sowieso.« Er deutete auf die Bank mit den Fenstern. »Es sind ungefähr ein paar Dutzend da draußen.«

»Du hast also Lunis geschickt, um sie zu finden?«, fragte Sophia.

Hiker nickte. »Und auch Coral, Bell und Tala.« Er deutete auf den Elite-Globus. »Er zeigt ihren Standort nicht an, weil sie nicht zu uns gehören wollen. Ich bekomme immer nur einen kleinen Hinweis, wenn sie schlüpfen und dann verschwinden die Bösen vom Globus.«

Sophia studierte den großen Globus in der Ecke. Er war voll von kleinen Punkten, die alle über Schottland schwebten. Hiker und ihr Punkt hatten einen Kreis um sich herum, denn sie waren als Zwillinge geboren, glaubte sie. Es gab noch weitere Punkte auf der ganzen Welt, die den Standort der anderen erwachsenen Drachen wie Lunis anzeigten. Sie war sich nicht sicher, ob erwachsen das richtige Wort war, um ihn zu beschreiben, besonders nach dem Witz, den er ihr neulich erzählt hatte.

»Wenn sie gehen dürfen«, begann Sophia langsam. »Warum hast du dann die anderen Drachen auf sie gehetzt?«

Er verstand ihre Verwirrung bei diesem Thema. »Es ist ihr Vorrecht, Gullington zu verlassen. Ich habe noch nie einen Reiter oder einen Drachen gezwungen, hier zu bleiben.«

»Eigentlich genau das Gegenteil«, scherzte Evan. »Normalerweise schmeißt du sie links und rechts raus.«

Die Grimasse auf Hikers Gesicht ließ den Reiter sofort verstummen.

»Aber«, fuhr der Anführer der Drachenelite fort, »dies ist eine ganz andere Zeit, als wir sie je erlebt haben. Zu meiner Zeit wurden Drachen schon einmal verfolgt, aber nie so wie jetzt. Nevin Gooseman hat es geschafft, dass die Menschen Angst vor Drachen haben – egal, ob sie als gut oder böse gelten. In dieser modernen Welt gibt es eine Technologie, mit der man sie abschießen kann.« Er schüttelte den Kopf, mit echter Sorge im Gesicht. »Die Drachen da draußen sind alle untrainiert und jung. Sie werden nicht nur nicht wissen, wie sie Angriffen ausweichen können, ich fürchte, sie werden auch Gewalt einsetzen.«

»Und das macht alles noch schlimmer«, stöhnte Sophia.

»So ist es«, stimmte Hiker zu.

»Wenn Drachen anfangen, Menschen aus Selbstverteidigung anzugreifen, wird die Welt alle als gefährlich betrachten«, erklärte Mahkah in seinem ruhigen, sachlichen Ton. »Es wird für uns unmöglich, ihre Taten zu rechtfertigen.«

»Und das könnte ihr Ende bedeuten.« Sophias Augen weiteten sich, als sie sich die Auswirkungen vor Augen führte.

Das war schlecht. Sehr, sehr schlecht.

»Was können wir tun?«, fragte Sophia, deren Brust plötzlich vor Adrenalin vibrierte. »Kannst du die Drachen hierher zurückrufen, damit ich auf Lunis starten kann?«

»Ich kann«, begann Hiker in einem zögerlichen Ton. »Aber ich werde es nicht tun.«

Der Wikinger begann plötzlich auf und ab zu gehen, das Kinn gesenkt und die Augen suchend.

»Ich glaube, du bist kurz davor, etwas zu sagen«, vermutete Sophia.

»So denkt er auch«, kommentierte Mama Jamba und zog eine Nadel durch den Stoff, den sie gerade nähte. Es war ein kleines Quadrat, als ob sie ein Kissen für eine Feldmaus machen würde. Wie man sie kannte, war das wahrscheinlich auch so.

Hiker hielt in seinem Schritt inne. »Ich glaube, wenn die Drachen euch auf Lunis, Coral oder Tala reiten sehen, werden sie nicht mehr so leicht kooperieren. Drachen, die sich nicht zu einem Reiter hingezogen fühlen, sind von Natur aus skeptisch gegenüber Magiern. Nur wenn ein Drache die Gesellschaft sucht, die ein Reiter ihm bieten kann, lässt er seinen Schutz fallen und lässt Menschen zu, aber das ist nicht sein erster Instinkt.«

Sophia hatte das vor kurzem in der v ollständigen Geschichte der Drachenreiter gelesen. Ironischerweise waren es die Drachen, die ihren Überlebensinstinkt aufgaben und sich mit der Gabe der Gemeinschaft mit einem Reiter belohnten, der eng mit ihnen verbunden war. Das bewies, dass es manchmal von Vorteil war, sich gegen die natürlichen Kräfte zu entscheiden.

»Die Drachen werden hoffentlich in der Lage sein, mit denen, die weggegangen sind, zu verhandeln und sie zu ihrem eigenen Wohl zur Rückkehr zu bewegen«, fuhr Hiker fort. »Ich glaube, das ist der einzige Weg, denn sie zu zwingen, würde zu einem Krieg führen.«

»Und die Medien würden sich darauf stürzen«, fügte Sophia hinzu und merkte, wie heikel diese Situation war.

»Ja, kannst du dir vorstellen, wie das die Flammen dieses ohnehin schon heißen Feuers global anfachen würde?«, fragte Evan. »Wir versuchen alle, die Welt davon zu überzeugen, dass Drachen gut sind und der Erde nützen und dann werden sie Zeuge, wie eine Horde Drachen am Himmel kämpft. Das würde überall zu totalem Chaos führen.«

Hiker bedeckte seinen Kopf mit seiner Hand. »Deshalb denke ich, dass die jungen Drachen überzeugt werden müssen. Aber sie zu finden ist der Schlüssel. Ihr könnt ein größeres Gebiet abdecken, wenn ihr euch verteilt. Dann könnt ihr mit euren Drachen kommunizieren, um ihnen ihren Standort mitzuteilen. Ich informiere Bell, dass eure Drachen die telepathische Verbindung zu ihren Reitern öffnen sollen. Ich glaube, das ist wichtiger, als dass sie jetzt alles daran setzen, die Drachen zu finden.«

»Ich nehme Europa, weil ich es am besten kenne«, sagte Evan selbstgefällig.

»Ich kann Nord- und Südamerika übernehmen«, bot Mahkah an.

»Und ich kann …«

»Du nicht!«, unterbrach Hiker Sophia.

Alle sahen mit verwirrten Blicken auf.

Er warf einen Blick auf die beiden Männer und zeigte auf die Tür. »Ja, so ist es gut. Teilt die Länder auf und sucht weiter. Reist zu den Orten, überprüft den Himmel und macht weiter, bis ihr Hinweise auf die Drachenbabys findet.«

Das war das erste Mal, dass Sophia den Begriff ›Drachenbabys‹ aus Hikers Mund vernahm. Er ließ die neuen Drachen niedlich und klein und vor allem harmlos erscheinen, was nicht im Geringsten der Wahrheit entsprach.

Als Evan und Mahkah sich nicht bewegten, warf Hiker ihnen einen strengen Blick zu. »Ihr habt eure Befehle. Geht jetzt.«

Mahkah war der Erste an der Tür. Evan war etwas langsamer und warf Sophia einen seltsamen Blick zu, als er vorbeiging, NO10JO auf den Fersen. Er flüsterte: »Erzähl mir, was passiert, wenn ich gehe.«

Sie schüttelte den Kopf und wusste, dass Hiker den anderen Drachenreiter gehört hatte. »Das werde ich nicht tun.«

Evan zwinkerte. »Okay. Gute Tarnung.«

Beinahe hätte sie ihn ausgelacht, aber sie blieb mit steinerner Miene und sah den Anführer der Drachenelite an. »Sir, du willst nicht, dass ich nach den Drachen suche?«

»Nein«, antwortete er sofort und wandte ihr den Rücken zu, während er sich wieder der Fensterfront zuwandte und die Haltung einnahm, die er eingenommen hatte, als sie eintrat. »Ich möchte, dass du deine Aufmerksamkeit darauf richtest, Ainsley zu helfen. Die Drachen zu finden ist wichtig, aber sie ist es auch. Wenn sich die Dinge für die Drachenelite zum Schlechten wenden, möchte ich zumindest, dass sie ihre Freiheit behält. Wir könnten alles verlieren, Sophia. Wenn das passiert, werden unsere Ressourcen begrenzt sein. Alles wird sich ändern.«

Sophia konnte es nicht fassen. Das hörte sich ganz und gar nicht nach Hiker Wallace an. Er war wirklich um Ainsleys Wohlergehen besorgt, weil sie die Drachenelite verlieren könnte. Das war ein guter Grund. Es war wichtig, den Ruf zu bewahren. Aber wenn sie ihn verlor, wäre es fast unmöglich, Ainsley zu helfen. Wenn die Regierungen Drachen verboten oder noch schlimmer, sie aus Angst vor ihnen einsperren würden, wäre Ainsley auf sich allein gestellt und säße ohne ihre Erinnerungen für immer in Gullington fest.

»Okay«, begann sie und fand ihre Stimme wieder, als sie plötzlich von ihren Gefühlen überwältigt wurde. »Ich werde mich an die Arbeit machen. Ich habe schon einige Fortschritte bei der Suche nach dem Heilmittel gemacht, aber ich glaube nicht, dass es schnell gehen wird. Ich vermute, dass ihre Erinnerungen vorher wiederhergestellt werden.«

Er nickte, immer noch mit dem Rücken zu ihr, seinen Gesichtsausdruck verborgen. »Nun gut. Dann solltest du jetzt gehen.«

»Aber zuerst«, sagte Mama Jamba und hielt mir das Stück Stoff hin, an dem sie gearbeitet hatte. »Ich habe etwas für dich gemacht.«

Es war nur ein einfaches Quadrat aus braunem Stoff, wie die Kleider, die Ainsley immer trug.

»Danke.« Sophias Stimme war unsicher. »Es ist wunderschön.«

»Es ist eintönig und langweilig«, korrigierte Mama Jamba. »Aber es wird seinen Job erledigen.«

»Job?«, fragte Sophia.

»Anscheinend weißt du es nicht, aber die Jammer-Mandel kann nur von den Händen eines Attentäters berührt werden, also brauchst du deine Freundin, um sie hier zu deponieren«, erklärte Mama Jamba. »Dann übergibst du den Beutel der Expertin für Zaubertränke und sie kann ihn in ihren Kessel leeren. Sobald sie im Zaubertrank ist, ist alles in Ordnung. Allerdings nur solange sie die Messgrößen für die Umwandlung richtig hinbekommt, sonst geht die Rosenapotheke in Flammen auf und zerstört die Roya Lane.«

»Also kein Druck«, scherzte Sophia und steckte den Beutel in ihren Umhang.

»Es gibt immer Druck, meine Liebe«, sagte Mama Jamba zu ihr. »Das ist so gewollt.«

»Nun, danke«, bedankte sich Sophia. »Es ergibt Sinn, dass die Blume geschützt werden muss. Du weißt nicht zufällig, wo man sie finden kann, oder?«

Daraufhin lachte Hiker tatsächlich. »Und ob sie das tut.«

Mama Jamba lächelte süß. »Natürlich weiß ich das. Aber warum sollte ich dir das sagen, wenn deine Freunde sich so anstrengen, die Informationen für dich zu finden?«

Sophia hätte ahnen müssen, dass Mama Jamba bereits eingeweiht war. »Ja, hoffen wir nur, dass Lee nicht zuerst König Rudolf tötet, bevor sie es erfahren.«