Kapitel 29

W irst du mich auffangen, wenn ich falle?«, fragte Lee und zog ein Bein hoch, als sie versuchte, über die Reling zu klettern. Ihre Schuhe rutschten ständig ab und ihre Nervosität machte den Versuch nicht gerade anmutig.

»Ja, ich werfe meinen Körper auf den Boden, um deinen Sturz abzufedern.«

Lee schüttelte den Kopf. »Nein, dein knochiger Hintern macht alles nur noch schlimmer. Ich will, dass du deine Arme ausstreckst, um mich aufzufangen.«

»Klar«, antwortete Sophia. »Sag mir einfach Bescheid, wenn du kurz davor bist, zu fallen.«

»Ich gebe dir ein oder zwei Sekunden Vorsprung«, grunzte Lee und versuchte, sich festzuhalten. Sie war noch nicht einmal die Hälfte des Schiffsrumpfes hochgeklettert, was zu Sophias Enttäuschung bedeutete, dass dies noch eine Weile dauern würde.

»Ist es nicht ironisch, dass ich vorhin diejenige war, die geklettert ist und du am Boden warst und jetzt sind die Rollen vertauscht?«, überlegte Sophia.

»So schön ironisch«, murmelte Lee. »Du solltest jedes Detail in deinem herzförmigen Tagebuch festhalten.«

»Soll ich ein Foto für das Sammelalbum machen?«, scherzte Sophia.

»Auf jeden Fall und dann bestell deinen Sarg im Eilverfahren«, erwiderte Lee, während ihre Hand das Geländer erreichte und ein siegreiches Lachen aus ihrem Mund drang.

»Wow, du hast es bis zum Deck des Schiffes geschafft«, stichelte Sophia und wusste, dass es die Attentäterin von ihrer Angst ablenkte – oder sie hoffte zumindest, dass es so war.

»Ja und hier herrscht das reinste Chaos«, bemerkte Lee und ging weiter über das Schiff.

»Nun, dann sollten wir die Crew feuern.« Sophia konnte Lee nicht sehen, weil sie sich in die Mitte des Decks begeben hatte, neben den höchsten Mast, auf dem die Jammer-Mandel thronte.

»Ich glaube, das hat Mutter Natur schon für uns getan.« Plötzlich neigte sich das Schiff zur Seite und drohte zu kippen. »Wow, verdammt!«, rief Lee aus, gefolgt von mehreren Flüchen, als sie darum kämpfte, das Gleichgewicht zu halten.

»Geht es dir gut?«, fragte Sophia und lief auf die andere Seite des Schiffes, in der Hoffnung, einen besseren Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

»Prima«, antwortete Lee sarkastisch. »Ich stelle mich nur einer lebenslangen Angst auf einem verfluchten Piratenschiff, das gefährlich an der Seite eines rutschigen Hügels mitten im Dschungel hängt.«

»Das ist ein normaler Dienstag für mich«, meinte Sophia und ging einige Schritte rückwärts, um nicht auf der anderen Seite des Schiffes zu sein, falls es weiter kippen sollte.

Jetzt konnte sie sehen, wie Lee versuchte, den Mast hinaufzuklettern. Wenn sie vorher ungeschickt aussah, war sie jetzt wie ein Otter, der versuchte, auf einen Ball zu klettern.

»Wie soll ich da hochkommen?«, fragte Lee.

Das war eine wichtige Frage, denn die Strickleiter, die zum Ausguck führte, war verschwunden – wahrscheinlich wurde sie zerstört, als das Schiff Schwarzer Fels in der Mitte der Insel landete.

»Versuch zu klettern«, bot Sophia an, obwohl sie wusste, dass das nicht besonders hilfreich war.

Lee warf ihr ein böses Grinsen zu. »Wow, du bist ungefähr so hilfreich wie ein Politiker.«

»Benutze deine Beine«, schlug Sophia vor.

Anstatt ihren Rat zu befolgen, holte Lee ihre Machete heraus. Sophia dachte zuerst, sie würde versuchen, den Mast umzuhauen. Sophia wollte sie davor warnen, denn es könnte die Pflanze beschädigen, wenn er fiel. Anstatt den Holzmast zu zerhacken, schlug die Attentäterin die Klinge in den massiven Mast, sodass eine Art Sprosse entstand.

Lee zog sich zuerst mit den Armen hoch und nahm dann auf jeder Seite ein Bein mit, wobei sie den Mast umklammerte, wie es ihr passte.

»Das war ziemlich clever«, lobte Sophia.

»Ich habe einen Abschluss in Journalismus«, meinte Lee und klang bereits außer Atem, als sie auf der flachen Seite der Machetenklinge stand.

»Was hat das damit zu tun?«, fragte Sophia. Sie schaute über ihre Schulter und suchte nach dem Rauchmonster.

»Ich bin gut darin, mir etwas auszudenken«, lachte Lee.

Sophia lachte mit und war dankbar, dass die Bäume nicht hin und her schwankten. »Vielleicht solltest du dann Politikerin werden.«

Lee zog eine weitere Machete aus einer Scheide auf ihrem Rücken, die Sophia bisher nicht bemerkt hatte. »Nein, das wird nicht funktionieren, weil ich zu ehrlich bin.«

»Woher hast du die andere Machete?«, wollte Sophia verblüfft wissen.

»Ich bin eine verdammte Attentäterin«, spottete Lee. »Ich trage immer vier bis fünf verborgene Waffen bei mir.«

»Gut zu wissen«, erwiderte Sophia grinsend und sah zu, wie Lee die Klinge gerade fest genug in den Mast schlug, damit sie stecken blieb. Dann griff sie vorsichtig nach dem Griff und zog sich hoch. Sophia dachte, dass sie auch einen Zauber benutzen musste, um sicherzustellen, dass die Klinge an ihrem Platz blieb. Sonst hätte sie sich gelöst, wenn sie ihren Fuß hochzog und auf die schmale Fläche trat. Wie auch immer, sie hielt – die Attentäterin machte sich auf den Weg den Mast hinauf.

Als sie auf der zweiten Machete stand, streckte sie die Hand aus, rief die erste Machete herbei und wiederholte den Vorgang.

Sollte Lee in dem Moment nervös sein, so zeigte sie es nicht.

»Du machst das toll«, lobte Sophia.

»Halt die Klappe, Cheerleaderin.« Lee atmete schwer. »Ich brauche deine positive Bestärkung nicht. Ich bin kein Kleinkind, das zum ersten Mal lernt, mit einer Axt umzugehen.«

Sophia schüttelte den Kopf. »Wo ich herkomme, bringen wir Kleinkindern normalerweise nicht bei, wie man mit einer Axt umgeht.«

»Und genau deshalb bist du so ein Weichei.« Lee war schon fast oben und solange sie nicht nach unten schaute, war alles in Ordnung.

Das Geräusch der sich bewegenden Bäume erregte die Aufmerksamkeit der beiden. Sophia drehte sich um und spähte zum Wald. Lee warf einen Blick nach unten, Angst in ihren Augen.

»Oh, verdammt!«, rief Lee aus.

»Was?«, fragte Sophia sofort. »Siehst du das Rauchmonster?«

»Nein, aber warum hast du mir nicht gesagt, wie hoch ich bin?«

»Ich dachte nicht, dass das viel helfen würde«, entgegnete Sophia.

Lee presste sich an den Mast, während sie die Augen zudrückte und sich nicht bewegte. »Ich kann nicht mehr! Ich kann nicht weiter! Ich kann das nicht tun!«

»Du schaffst das«, ermutigte Sophia sie und erspähte die heftig schwankenden Bäume hinter ihr. »Du schaffst das. Sag dir das.«

Sie wollte noch hinzufügen: ›Und beeil dich verdammt noch mal‹, beschloss aber, dass es besser wäre, es nicht zu tun, denn Lee sah aus, als würde sie gleich weinen.

»Geh weiter!«, befahl Lee sich selbst, öffnete ihre Augen und holte tief Luft.

»So weit ist es nicht mehr. Du hast es fast bis zum Ausguck geschafft.« Sophia fand es ironisch, dass Lee kurz zuvor nicht wollte, dass sie sie anfeuerte und jetzt bat sie darum.

Lee nickte und schluckte. Sie schien sich mit der Angst abzufinden.

Blind griff sie über ihren Kopf und hielt sich an der Rah des obersten Segels fest. Als sie es fest umklammert hatte, wagte sie es, die andere Hand loszulassen und sich hochzuziehen, wobei sie ihre Füße auf beiden Seiten hatte, während sie sich nach oben hangelte.

Sophia war von der Vorführung beeindruckt. Es war anmutiger als ihre vorherigen Versuche und angesichts der Tatsache, dass das Rauchmonster auf dem Weg war, war es noch cooler.

Vom waagerechten Balken aus waren es nur noch ein paar Meter bis zum Ausguck-Korb. Lee schlängelte sich über den Balken und kletterte in das fassartige Gebilde. Es brach fast zusammen.

»Du hast es beinahe geschafft«, teilte Sophia mit. »Greif einfach nach oben und pflücke die Blume, die an der Spitze des Mastes wächst.«

Anstatt das zu tun, schaute Lee auf den Wald in Sophias Rücken. »Du musst sofort von hier verschwinden!«

Als Sophia sich umdrehte, sah sie genau das, wovor sie sich gefürchtet hatte. »Nein! Ich bleibe hier und warte darauf, dass du runterkommst.«

Lee schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht runter!«

»Was?«, schrie Sophia. »Du musst!«

»Nein«, entgegnete Lee. »Ich werde mich von hier aus nach Hause begeben. Das solltest du auch tun, bevor dich das Rauchmonster erwischt!«

Die Attentäterin griff nach oben und rupfte die Jammer-Mandel mit einem siegreichen Gesichtsausdruck ab. Sophia atmete erleichtert aus und beobachtete, wie Lee ein Portal neben dem Ausguck-Korb öffnete.

Sie musste hineinspringen und wenn sie es nicht schaffte, wäre das eine schlechte Nachricht. Bevor sie mit der rosafarbenen Blume in der Hand ihren Versuch startete, schaute sie Sophia mit einem dringenden Blick an.

»Im Ernst!«, rief sie aus. »Es geht auf dich los!«

Sophia wagte einen Blick hinter sich und entdeckte die völlige Dunkelheit.

»Los!«, schrie Lee. »Ich komme schon klar!«

Da sie keine andere Wahl hatte und verzweifelt versuchte, eine dritte Begegnung mit dem Rauchmonster zu überleben, tat Sophia, was ihr gesagt wurde und öffnete ein Portal, als sie von einem alptraumhaften Grauen überwältigt wurde. Sie sprang durch das Portal, schloss es fast sofort und hoffte, dass das Rauchmonster ihr nicht gefolgt war.