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Die russische Delegation

Da kommt jemand«, flüsterte Jake und klopfte Topaz auf die Schulter.

Topaz brauchte einen Moment, um aus dem Tiefschlaf zu erwachen. Schließlich riss sie die Augen auf, schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Charlie wurde ebenfalls wach und setzte sich auf. Alle trugen noch die Kleidung vom Vortag.

»Unten«, wisperte Jake und deutete durch einen Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen. Auf der Straße stand eine Kutsche im wabernden morgendlichen Nebel.

Direkt vor dem Schlafengehen hatten die drei einen Plan ausgearbeitet, und jetzt war es Zeit, ihn umzusetzen.

»Du weißt, was du zu tun hast?«, fragte Charlie.

Jake nickte. »War mein Spezialgebiet im Schultheater«, log er.

»Hier sind deine Requisiten. Mit besten Grüßen vom Koch.« Charlie gab Jake eine Schüssel voll blutiger Innereien. »Und ihr beiden wundert euch, warum ich Vegetarier bin …«, fügte er trocken hinzu.

»Alle auf ihre Posten!«, befahl Topaz, dann schlichen sie die Treppe hinunter.

Vor dem Gasthaus stieg ein junges Paar aus der Kutsche und blickte naserümpfend die Häuserreihen entlang. Der Mann war groß gewachsen und hatte ein fliehendes Kinn; seine Begleiterin schien in ihrem Leben noch kein einziges Mal gelächelt zu haben. Obwohl es Juli war, trugen sie so viele Schichten Nerz-, Ozelot- und Marderpelze am Leib, dass sie selbst am Nordpol problemlos überlebt hätten. Die Frau nahm eine an ihrem Gürtel hängende Peitsche zur Hand, ließ sie direkt vor der Nase des greisen Kutschers durch die Luft schnalzen und bellte einen Befehl.

Röchelnd und hustend kletterte der alte Mann vom Kutschbock herunter.

Da kam Charlie aus der Eingangstür des Gasthauses gestürmt und lief mit panischem Blick auf die beiden zu.

»Zum Schloss Schwarzheim?«, fragte er.

Das Paar blickte ihn verdutzt an.

»English, Italiano, Français?«, fragte er weiter.

»Russki«, erwiderte die Frau entrüstet.

Charlie wechselte zu Russisch: »Verzeiht meine Indiskretion, aber könnte es sein, dass die edlen Herrschaften auf dem Weg nach Schloss Schwarzheim sind?«

»Schloss Schwarzheim, durchaus«, antwortete der Mann.

»Wie lauten die Namen der Herrschaften?«, fragte Charlie weiter und hielt die Gästeliste hoch, die Jake aus Mina Schlitz’ Zelt gestohlen hatte.

»Mikhail und Irina Volsky«, sagte die Frau ungeduldig.

»Aus Odessa«, fügte ihr Gemahl hinzu.

Charlie ging die Liste durch und entdeckte schließlich, beinahe ganz am Ende, die Namen. »Ah, hier. Gott sei Dank, dass ich Euch rechtzeitig gefunden habe. Die Lage ist äußerst prekär!«, sagte er und deutete auf die Straße. »Wegelagerer, so viele, dass man sie kaum zählen kann!«

Irina schnappte erschrocken nach Luft und blickte sich ängstlich um. Der greise Kutscher begann am ganzen Leib zu zittern.

»Wo?«, fragte ihr Ehemann.

»Die gesamte Straße entlang, in beiden Himmelsrichtungen, in den Wäldern, überall! Mindestens fünfzig! Barbaren, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat! Erst heute Nacht haben sie vier Menschen getötet und zerstückelt.« Charlie fuhr sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Kehle, und Irina griff erschrocken nach der Perlenkette um ihren Hals.

In diesem Moment kam Heidi aus dem Gasthaus getappt, um die neuen Gäste in Empfang zu nehmen. Noch während sie sich verschlafen die Augen rieb, versperrte Charlie ihr eilig den Weg.

»Das sind Freunde von mir, ich kümmere mich um sie«, flüsterte er auf Deutsch. »Du kannst wieder ins Bett gehen.« Er schob sie zurück ins Gasthaus, schloss die Tür hinter ihr und wandte sich wieder den Volskys zu: »Wenn Ihr mir folgen würdet, geleite ich die Herrschaften zu Ihrem Zimmer.«

»Zimmer?«, fragte Irina irritiert.

»Ihr solltet besser hierbleiben, bis die Gefahr vorüber ist. Hier seid Ihr in Sicherheit.« Charlie versuchte, sie ins Gasthaus zu bugsieren, doch die beiden schienen alles andere als begeistert.

»In einem ordinären Gasthaus? Nie im Leben!«, rief Irina und machte sich los.

Da blickte der Kutscher plötzlich auf und starrte entsetzt auf eine Gestalt, die über die Straße kam und sich ihnen rasch näherte.

Es war Topaz, die, so schnell sie konnte, auf sie zugerannt kam. »Hilfe! Helft mir!«, schrie sie.

Je näher sie kam, desto weiter klappte Irinas Kiefer nach unten: Topaz’ Kleid und Hände waren mit frischem Blut bespritzt.

»Sie kommen! Viele …! Sie haben meinen Mann umgebracht! Sie kommen …!«, kreischte sie und rauschte an dem wie vom Donner gerührt dastehenden russischen Ehepaar vorbei ins Gasthaus.

Doch das war noch nicht der Höhepunkt der Show. Eine weitere Silhouette kam humpelnd näher. Es war Jake, der den sterbenden Ehemann spielte, und er gab alles, um das dramatische Potenzial der Rolle voll auszuschöpfen: Über und über mit Blut beschmiert, reckte er theatralisch eine Hand in die Luft, mit der anderen hielt er einen Klumpen triefender Tiergedärme gegen den Bauch gepresst. Während Topaz sich bei ihrem Auftritt eher auf Stimmlage und Intonation konzentriert hatte, legte Jake alle Energie in ausdrucksstarkes Mienenspiel und Gestik. Schlotternd, als stünde er unter schwerem Schock, taumelte er auf sie zu und streckte Irina eine von Blut tropfende Hand entgegen. Die Russin zuckte angeekelt zurück. Jake versuchte zu sprechen, doch seiner Kehle entrang sich nur ein röchelndes Stöhnen, dann versteifte sich sein gesamter Körper, und er fiel vornüber, um nach ein paar letzten Zuckungen reglos am Boden liegen zu bleiben.

In der Befürchtung, die Russen hätten Jakes Auftritt durchschaut, warf Charlie Topaz einen schnellen Blick zu und schüttelte verstohlen den Kopf.

Doch er hatte sich getäuscht: Die Volskys, nun vollends von der tödlichen Bedrohung überzeugt, stürzten panisch ins rettende Gasthaus. Charlie folgte ihnen und brachte sie nach oben in das Zimmer, das die drei eben erst freigemacht hatten.

Noch nie in ihrem Leben hatte Irina Volsky sich so glücklich geschätzt, in einem vulgären Gästezimmer mit niedriger Decke und rustikaler Holzeinrichtung Unterschlupf zu finden. Eiligen Schrittes lief sie aufs Fenstersims zu, warf den Blumentopf nach unten auf die Straße und verriegelte die Läden.

»Hier drinnen seid Ihr in Sicherheit. Wartet hier, bis Ihr weitere Nachricht erhaltet«, wollte Charlie die beiden noch beruhigen, da schlug ihm Irina schon die Tür vor der Nase zu, drehte den Schlüssel und zog ihn ab.

Als Charlie die Treppe wieder nach unten gelaufen war, fand er den armen Kutscher am ganzen Leib zitternd vor Angst vor.

»Hier lang«, sagte er und führte den alten Mann ins Esszimmer. »Bestellt Euch das beste Essen, das hier angeboten wird, und nehmt die schönste Suite, die die Wirtsleute haben.« Er drückte dem Mann zwei Goldmünzen in die Hand. »Und keine Sorge wegen der Banditen«, fügte er mit einem Zwinkern hinzu. »Es gibt keine.«

Der Kutscher schaute ihn verblüfft an.

Charlie deutete zum Fenster, hinter dem Jake sich gerade das Blut von den Händen wischte und, den beiden fröhlich zuwinkend, eine Verbeugung vollführte.

Der alte Mann lächelte.

Ohne weitere Zeit zu verlieren, ließen sie das Dorf hinter sich und fuhren mit der Kutsche der Volskys zu der Stelle, von der sie die Zufahrt zum Schloss ausgespäht hatten. Während der Fahrt entdeckte Topaz auf der mit Seide gepolsterten Rückbank das Einladungsschreiben. »Es ist mir eine große Freude, Euch nun endlich persönlich kennenzulernen …«, las sie erleichtert, denn das bedeutete, dass die Volskys dem Gastgeber der Konferenz noch nie begegnet waren. Unterschrieben war das Pergament in blutroter Tinte mit Xander Zeldt.

Eilig gingen sie den Inhalt der acht auf dem Dach der Kutsche festgegurteten Koffer durch. Die ersten sechs gehörten zweifellos Irina, die sich offensichtlich eines außerordentlich eitlen Charakters rühmen konnte: Zwei waren voll mit Kleidern, weitere zwei mit Schuhen, und sowohl Kleider als auch Schuhe waren reich mit Pelzapplikationen verziert, was Charlie zu der Vermutung führte, dass die beiden ihr Vermögen durch den Handel mit »unschuldigen toten Tieren« gemacht haben mussten. Im fünften Koffer befanden sich Schmuck und Fächer, im sechsten vornehme Porzellandöschen mit allerlei Pudern und Pulvern darin sowie zahllose Parfümfläschchen. Die meisten Mädchen wären ob dieser Entdeckung wahrscheinlich im siebten Himmel geschwebt, aber Topaz blieb unbeeindruckt. Sie machte sich nichts aus Mode und Schminksachen.

Im siebten Koffer fanden sie schließlich Mikhails Garderobe: weit weniger reichhaltig, dafür alles von höchster, handverlesener Qualität.

»Was würde Nathan dafür geben, wenn er das hier sehen könnte!«, sagte Topaz und setzte sich ein samtenes Barett mit einer grünen Pfauenfeder daran auf. »Passt die Farbe auch zu meinen Augen?«, fragte sie in einer schamlosen Imitation ihres Stiefbruders. »Ich fürchte, sie hebt ihren Farbton doch ein wenig zu sehr heraus.«

Charlie zog ein mit Smaragden besetztes Wams hervor und hielt es vor die Brust. »Zu groß«, sagte er mit einem gewissen Bedauern in der Stimme. »Jake, das heißt, dass du den Ehemann spielen wirst. Die Rolle passt ohnehin viel besser zu dir, und ich werde den Part des Kutschers übernehmen.«

Charlie hatte recht: Er war zwar genauso alt wie Jake, aber ein paar Zentimeter kleiner, und außerdem hatte Jake eine sehr aufrechte Körperhaltung, was ihn geradezu für die Rolle des Edelmanns prädestinierte. Er half Jake in das Wams – es passte wie angegossen.

Topaz war beeindruckt. »Merveilleux. Du siehst aus wie ein waschechter Prinz!«

Jake neigte geschmeichelt den Kopf.

»Aber versuch ab jetzt bitte, nicht mehr so zu übertreiben«, warf Charlie ein. »Das hier ist die Realität, keine Theaterbühne.«

Jake nickte gehorsam, da kam ihm ein beunruhigender Gedanke: »Werde ich nicht Russisch sprechen müssen? Das könnte ein Problem sein.«

»Glücklicherweise ist ihre Verständigungssprache Englisch«, erwiderte Charlie. »Ein leichter russischer Akzent dürfte also genügen.«

»Und was ist mit Mina Schlitz und ihrer Eskorte?«, hakte Jake nach. »Sie werden mich sofort erkennen.«

»Auch darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbrechen«, meinte Charlie und zog den Lederbeutel hervor, den Jake schon an Bord der Campana gesehen hatte. »Mr Volsky ist zwar glatt rasiert, aber das brauchen wir ja niemandem auf die Nase zu binden.« Er öffnete den Beutel und begutachtete mit sichtlichem Stolz seine Sammlung an falschen Bärten. Schließlich zog er einen heraus und hielt ihn Jake vors Gesicht. »Ausgezeichnet«, sagte er zufrieden.

Topaz machte sich gerade an dem letzten Koffer zu schaffen, bekam den Deckel aber nicht auf. »Dieser hier scheint aus irgendeinem Grund abgeschlossen zu sein«, sagte sie und zog eine Klammer aus ihrem Haar. Topaz bog den dünnen Metalldraht gerade, führte ihn in das Schloss ein, und wenige Augenblicke später ertönte ein Klicken.

Als Topaz den Koffer öffnete, schnappten die drei Agenten laut nach Luft: Er war bis oben hin gefüllt mit funkelnden Kostbarkeiten. Gleich zuoberst befand sich eine Kassette mit Unterteilungen wie in einem Setzkasten, und in jedem der kleinen Abteile lag ein Ring mit einem geschliffenen Edelstein daran. Darunter fand sich eine weitere Kassette mit riesenhaften Diamanten, Smaragden und Rubinen, darunter noch eine und noch eine. Zuallerunterst schließlich entdeckten sie stapelweise Banknoten und mindestens ein Dutzend großer Goldbarren.

»Warum in aller Welt schleppen sie so viel Geld mit sich herum?«, fragte sich Topaz laut.

Charlie zog theatralisch die Augenbrauen nach oben. »Nun, ich habe das Gefühl, die Antwort auf dieses und alle anderen Rätsel dürfte hinter den Mauern von Schloss Schwarzheim liegen.«