28
Die alles verschlingende Sonnenfinsternis
Die Aal fuhr um eine weitere Flussbiegung, und eine mittelalterliche Stadt kam in Sicht. Ehrfürchtig erhob sich Jake und sog den Anblick in sich auf. Ein schier endloses Panorama von Holzhäusern, deren Dächer aussahen wie Hexenhüte, erstreckte sich über beinahe das gesamte Tal. In der Mitte ragte ein gewaltiges Bauwerk auf, so groß, dass es fast ein Viertel der Stadt in Schatten tauchte.
»Der Kölner Dom«, sagte Alan mit leuchtenden Augen. »Im Moment das höchste Gebäude der Welt.«
»Tatsächlich?«, fragte Jake beeindruckt.
»Absolut – Köln dürfte zurzeit die reichste Stadt Europas sein. Es ist eine ›Freie Reichsstadt‹, sozusagen ein eigener souveräner Staat. Diese Tatsache und seine Lage direkt am Rheinufer, mitten im Zentrum Europas, sind die Gründe für seine Blüte.«
»Dein Vater sieht nicht nur gut aus«, sagte Miriam lächelnd, »er hat auch was im Kopf.«
Im Hafen wimmelte es nur so von Schiffen.
»Wie ein gordischer Knoten aus Booten«, schimpfte Miriam, während Alan versuchte, die Aal sicher durch das Knäuel aus Schiffen und durcheinanderschreienden Seeleuten zu manövrieren. Um ein Haar hätte er eine mit verängstigt dreinschauenden Eseln beladene Kogge gerammt. Zwei kleine Ruderboote hatten nicht so viel Glück und stießen prompt zusammen, woraufhin zwischen dem unrasierten Getreidehändler in dem einen und der stattlichen Dame mit Federhut und Samtumhang in dem anderen ein hitziger Streit entbrannte.
Während die Aal langsam auf einen der Anlegestege zutuckerte, begutachtete Jake fasziniert den riesigen Dom, jenes fantastische Bauwerk aus hoch aufragenden Spitzentürmchen und gotischen Pfeilern. Doch so groß er auch sein mochte, es war deutlich zu erkennen, dass er noch nicht fertig war. Hoch oben auf dem Dachstuhl sah Jake die Stümpfe zweier erst halb fertiggestellter Türme, zwischen denen sich ein riesiger hölzerner Kran gen Himmel reckte. Jake war wie hypnotisiert. Er hatte schon einige große Kirchen gesehen, ihren Anblick aber immer als etwas vollkommen Alltägliches hingenommen. Das hier jedoch, den Kölner Dom in seinen Entstehungswehen zu sehen, erfüllte ihn mit größter Ehrfurcht vor menschlicher Tatkraft und menschlichem Streben.
»Diese halb fertigen Türme da … Dort will Zeldt seine Bombe verstecken«, sagte er.
Alan warf einen Blick auf den Chronometer. »Fünf Minuten nach eins. Noch fast eine ganze Stunde bis zur Sonnenfinsternis. Wie wär’s mit einem Kaffee bis dahin?«
»Wenn es erst fünf nach eins ist, warum zeigt diese Uhr dann fünf vor zwei?«, fragte Paolo und deutete auf einen Uhrenturm gleich neben dem Hafen.
Alan sah ebenfalls hin und verglich die Anzeige mit dem Chronometer. Dann schüttelte er ihn kräftig, überprüfte die Uhrzeit erneut – und lief kreidebleich an.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst kein italienisches Fabrikat kaufen«, meinte Miriam kopfschüttelnd. »In diesem Land geht alles einen Tick langsamer.«
Die Sonnenfinsternis des 20. Juli 1506 hatte bereits begonnen.
Der hektische Lärm um sie herum schien ein wenig leiser zu werden und wurde von unvermittelt einsetzendem Vogelgezwitscher übertönt, bis plötzlich wie mit einem Paukenschlag völlige Stille herrschte. Nur ein paar Kiebitze, die sich im Schatten unter einer Brücke zusammendrängten, gaben aufgeregte Laute von sich.
Jake sah, wie ein kleines Mädchen nach oben deutete, und im nächsten Moment ertönten von überall her Rufe ungläubigen Staunens. An der ganzen Ufermauer entlang blieben die Leute wie angewurzelt stehen oder rannten sich gegenseitig über den Haufen. Nach und nach starrte jedes Gesicht himmelwärts.
Jake blickte auf und sah, wie sich Stück für Stück eine schwarze Scheibe über die gleißende Nachmittagssonne schob. Das Schauspiel war in vollem Gang.
»Nicht in die Sonne schauen, Jake!«, rief Miriam. »Das ist gefährlich für die Augen.«
Überall zogen Mütter ihre Kinder dichter an sich; eine Gruppe Marktschreier schaute verängstigt nach oben; eine alte Nonne deutete mit zitterndem Finger auf den Himmel und murmelte ein Gebet. Hunde bellten nervös, Boote krachten führerlos gegeneinander.
»Den Kaffee verschieben wir dann wohl besser auf später«, sagte Alan, sprang auf den Steg und half den anderen aus dem Boot.
»Sollte ich nicht vielleicht besser hierbleiben?«, fragte Paolo. »Ich möchte niemanden bei der Arbeit behindern.«
Alan lachte nur und schob ihn vor sich her in die Menge. »Du willst doch wohl nicht den ganzen Spaß verpassen! Es wird ganz schön was geboten sein.«
»Das befürchte ich ja gerade«, murmelte Paolo.
Jake hätte sie nie gesehen, wenn die Menschen auf dem großen Platz zwischen Hafen und Dom nicht immer noch reglos dagestanden hätten, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt. Es waren mindestens fünfhundert, und nur einer davon rannte: eine kleine, schlanke Gestalt, die mit wehendem schwarzem Umhang auf einen Pier am anderen Ende des Hafens zueilte.
Es war Mina Schlitz.
Jake beobachtete, wie sie die Laufplanke der Lindwurm hinaufrannte. Sobald sie an Bord gesprungen war, legte das Schiff ab.
»Dad!«, rief Jake so laut, dass sein Vater wie angewurzelt stehen blieb. »Zeldt, er ist immer noch hier!« Er deutete auf die davonsegelnde Galeone.
Jetzt sah Alan sie auch, aber er kannte ihre Befehle. »In dieser Sache können wir nichts tun«, sagte er entschlossen. »Wir haben nicht mal mehr fünf Minuten, um die Bombe zu entschärfen.«
Jake blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er folgte seinem Vater in die Menge, seine Gedanken in Aufruhr. Er wusste, dass seine Verpflichtung dem Auftrag galt, den sie im Dom zu erledigen hatten – einem unfassbar wichtigen Auftrag. Doch etwas, das beinahe ebenso stark war wie sein Pflichtgefühl, zog ihn fort vom Dom, in die exakte Gegenrichtung: zur Lindwurm und zu Zeldts Geisel, Topaz St. Honoré. Während er sich durch die ängstlich staunende Menge schob, wanderten Jakes Augen immer wieder zurück zu den roten Segeln des Schiffs, doch als er und die anderen endlich die Treppen des Doms erreichten, waren sie verschwunden.
Alle, die sich im Dom befunden und soeben erst von dem Ereignis gehört hatten, kamen aus dem Portal gestürmt, um das Heraufdämmern der Apokalypse mit eigenen Augen zu sehen, und die Agenten mussten sich regelrecht durchkämpfen, bis sie endlich das Hauptschiff erreichten, einen schier endlosen Gang mit unzähligen Säulen und Pfeilern zu beiden Seiten. Das Licht, das durch die riesigen Fenster hereindrang, wurde immer schwächer.
»Dieses Gerüst da müsste der schnellste Zugang sein«, rief Alan und deutete auf ein hohes Holzgestell vor dem Hauptfenster, dessen Stufen bis hinauf unters Dachgewölbe führten. Von dem Gestell herab hingen mehrere Flaschenzüge und Seile mit Eimern daran, mit denen die Arbeiter ihr Material nach oben transportierten.
Jake bahnte sich einen Weg durch den Menschenstrom, der sich unablässig nach draußen vors Portal ergoss, und erreichte als Erster das Gerüst. Er sprang auf die unterste Stufe und rannte Ebene um Ebene hinauf. Je höher er kam, desto mehr konnte er durch die hohen Kirchenfenster von der dahinterliegenden Stadt erkennen, bis hinter den bunten Butzenscheiben schließlich auch die blassen Umrisse der Lindwurm wieder in Sicht kamen.
»Wusstest du, dass die Heiligen Drei Könige hier begraben sind?«, fragte Alan mit Begeisterung in der Stimme, während er mit polternden Schritten hinter Jake die knarzenden Stufen hinaufeilte. »Nach ihnen ist auch die größte Glocke des Doms benannt, die Dreiköniginnenglocke. Sie ist die schwerste in ganz Europa.«
»Hochinteressant«, rief Miriam dazwischen, »aber ich würde sagen, uns bleiben nicht mal mehr zwei Minuten, um den Weltuntergang zu verhindern.«
Sie liefen noch schneller und hatten bald eine schwindelerregende Höhe erreicht. Die Menschen im Kirchenschiff unter ihnen waren nur noch kleine Pünktchen, die sich durch die großen Flügeltüren nach draußen stürzten.
Als sie auf der achten Ebene angekommen waren, sah Jake, wie die Lindwurm gerade hinter einer Flussbiegung verschwand. Mit doppelter Geschwindigkeit eilte er weiter, seine Eltern dicht dahinter, Paolo keuchend und schnaufend am Ende, bis sie auf Höhe des Glockengestühls angekommen waren.
Jake blickte sich um: Vier Glocken hingen in dem nach allen Himmelsrichtungen offenen Gestühl, jede davon so groß wie ein kleines Haus. Sein Blick fiel auf eine Eule, die sich in einer dunklen Ecke verkrochen hatte und verunsichert piepte, als überlegte sie, ob es nun Nacht war oder nicht. Da hörte er ein weiteres Geräusch: das Knarren von Seilen. Ein Flaschenzug zog sich zusammen und setzte ein großes Rad in Bewegung – und dieses Rad wiederum eine der Glocken. Als sie gegen den mannsgroßen Klöppel schlug, erschallte ein donnerndes Geläut, so laut, dass es Jake bis in den letzten Knochen fuhr und er nur darauf wartete, dass seine Trommelfelle platzten.
Weitere Flaschenzüge setzten weitere Räder in Bewegung, bis alle vier Glocken mit ohrenbetäubendem Krach ertönten.
»Zwei Uhr!«, schrie Alan, als er hinter Jake heraufkam, gefolgt von Miriam und einem bedauernswert aussehenden Paolo.
Jake kletterte den letzten Teil des Gerüsts hinauf und durch die Decke des Glockenstuhls hinaus auf das windumtoste Dach. In den wenigen Minuten, die er schwitzend und keuchend heraufgehastet war, hatte sich der Himmel stärker verdunkelt, als er es je für möglich gehalten hätte. Nur noch eine hauchdünne Sonnensichel lugte hinter der schwarzen Mondscheibe hervor.
Jake blickte nach unten: Weit unterhalb der Wasserspeier, die ihre grimmigen Fratzen aus der Fassade reckten, sah er die Menge ehrfürchtig und zu Tode erschreckt auf die Sonne starren. Und wieder sah er die Lindwurm, jetzt ein kaum noch erkennbarer Punkt am Horizont.
Erneut drängte sich ihm das Bild von Topaz’ angstverzerrtem Gesicht auf, aber er kämpfte es nieder und ließ den Blick über das Dach schweifen. Links und rechts erhoben sich die Stümpfe der beiden noch im Bau befindlichen Türme, zwischen ihnen ein hölzerner Kran von kolossalen Ausmaßen, der sich gen Himmel reckte. Meter für Meter suchte Jake die hölzerne Gitterkonstruktion ab.
»Unglaublich!«, keuchte Alan, der soeben das Dach erreicht hatte. Das Schauspiel, das sich ihm bot – die grandiose Landschaft um sie herum, der Wind, der ihnen um die Ohren pfiff, und das Geläut der Glocken –, verschlug ihm den Atem.
Jake hatte den Blick immer noch unbeirrt auf den Kran gerichtet. »Da! Da!«, brüllte er plötzlich, genau in dem Moment, als auch Miriam und Paolo zu ihnen stießen. Endlich hatte er entdeckt, wonach er gesucht hatte: Auf halber Höhe des Krans sah er, funkelnd in den letzten Strahlen der nun fast vollkommen verdeckten Sonne, ein gelblich metallisches Schimmern – Zeldts goldene Bombe.
Alan zog sein Fernrohr heraus und inspizierte Jakes Entdeckung. Jake hatte recht. Es war tatsächlich die Pestbombe, die, versteckt hinter einem Querträger, darauf wartete, ihre entsetzliche Bestimmung zu erfüllen.
In der Zwischenzeit hatte Jake sich schon daran gemacht, den Kran so schnell zu erklimmen, wie seine Hände und Füße ihn hinauftragen konnten. Heulend zerrte der Wind an ihm, während unter ihm der Abgrund gähnte, der nur darauf zu warten schien, ihn zu verschlingen.
Als der Mond schließlich auch den letzten fahlen Sonnenstrahl verschluckte und alles in nachtschwarze Finsternis tauchte, schrien die Menschen unten auf dem Platz laut auf, doch Jake hörte sie nicht – er streckte den Arm aus und packte die Bombe.
Da tauchte mit einem Rauschen ein noch dunklerer Umriss vor dem Schwarz des Himmels auf und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit auf Jake zu. Es war die Eule aus dem Glockenstuhl, die ängstlich und verwirrt aufgeflogen war und mit solcher Wucht gegen Jake prallte, dass die Bombe seinem Griff entglitt.
Miriam stand am nächsten. Mit einem Hechtsprung bekam sie die Teufelsmaschine gerade noch rechtzeitig zu fassen und rutschte, die Bombe schützend an die Brust gepresst, auf den Rand des Daches zu.
»Miriam!« Alan wirbelte herum und eilte auf das Geländer zu in der Befürchtung, tatenlos zusehen zu müssen, wie seine Frau zu Tode stürzte. »Miriam?«, wiederholte er mit zitternder Stimme.
Doch Miriam war direkt auf einem der Wasserspeier gelandet, einer hässlichen Kreatur, halb Löwe, halb Fledermaus, mit weit aufgerissenen Kiefern und ausgebreiteten Schwingen.
»Ein … ein Schutzengel«, stammelte sie wie unter Schock.
»Ich hole dich!«, rief Alan und ließ sich an dem Geländer hinab.
»Zuerst die Bombe«, schrie Miriam zurück. »Wir müssen sie entschärfen.« Mit schweißnassen Fingern untersuchte sie das Gerät. »Nur wie?«
»Im Inneren sind zwei goldene Fäuste, darunter ist ein Glasbehälter!«, brüllte Jake, während er von dem Kran heruntereilte. »Siehst du ihn?«
Miriam kniff die Augen zusammen. Das Licht war so schwach, dass sie kaum etwas erkennen konnte. »Ich glaube, ja.«
»Greif hinein und zieh ihn raus!«, wies Jake sie an.
Miriam streckte die schlanken Finger nach dem Behälter aus. »Nur gut, dass ich letzte Woche bei der Maniküre war«, rief sie, doch dann sah sie, dass der Zeiger der eingebauten Uhr nur noch Sekunden vom Auslöser der Bombe entfernt war.
»Aua, verdammt!«, schrie sie plötzlich und zog die Hand zurück. »Das Ding hat mir einen elektrischen Schlag verpasst.«
»Vorsichtig, Schatz – ganz vorsichtig«, redete Alan ihr gut zu.
»Du musst es noch mal versuchen, Mum!«, rief Jake. »Uns bleiben nur noch Sekunden!«
Wieder griff Miriam hinein, und wieder bekam sie einen heftigen Stromschlag.
Die Uhr tickte, die Rädchen drehten sich.
Miriam biss die Zähne zusammen und versuchte es ein drittes Mal. Gerade als der Zeiger den Auslösemechanismus betätigte, bekam sie endlich den Glasbehälter zu fassen und zog ihn heraus. Erleichtert atmete sie auf – da hörte sie ein lautes Knacken. Es war der Wasserspeier, auf dem sie saß.
Alle stießen einen Entsetzensschrei aus, als der Kopf des steinernen Ungeheuers abbrach und Miriam stürzte. Die goldene Uhr entglitt ihr, doch Miriam konnte sich gerade noch an dem Flügel der Bestie festhalten, den Glasbehälter mit einer Hand umklammert, während die Uhr an dem Wasserspeier unter ihr in tausend glitzernde Trümmer zersprang.
»Halt aus, Miriam. Ich ziehe dich rauf!«, rief Alan. Doch als er einen Fuß auf den Wasserspeier setzte, bildete sich sofort ein weiterer Riss.
»Das wird nicht funktionieren«, warnte Miriam, ein Auge auf den gähnenden Abgrund gerichtet.
»Du bist zu schwer, Dad. Ich gehe«, sagte Jake, der endlich von dem Gerüst heruntergekommen war, und schob sich an seinem Vater vorbei. Vorsichtig trat er auf den Rücken des steinernen Fabeltiers.
Der Riss wurde noch größer, und die Flügel von Miriams Schutzengel senkten sich bedenklich.
»Wir sind alle zu schwer«, murmelte Jake verzweifelt. Da kam ihm eine Idee. Er drehte sich um und schaute mit festem Blick denjenigen an, der sich als Einziger bis jetzt still im Hintergrund gehalten hatte. »Paolo Cozzo, Zeit für deinen Auftritt!«
Jake hatte recht: Paolo war ihre einzige Hoffnung.
»Che?«, erwiderte Paolo und machte einen Schritt zurück. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe schreckliche Angst vor Höhe.«
»Keine Widerrede«, knurrte Alan ihn an und zerrte Paolo zur Brüstung. »Wenn du Mist baust und meine Frau nicht rettest, werfe ich dich persönlich hinterher.«
»Das könnt Ihr doch nicht machen«, wimmerte Paolo. »Jemand würde es melden, und Ihr würdet unverzüglich entlassen werden!«
»Keine Widerrede!«, wiederholte Alan und schob ihn auf den Rand des Daches zu. »Wir halten dich an den Beinen fest. Du lässt dich nach unten hängen und ziehst Miriam rauf.«
Zitternd legte Paolo sich auf den Bauch, während Alan und Jake seine Beine packten und ihn langsam nach unten ließen. Die Sonnenfinsternis hatte inzwischen ihren Höhepunkt überschritten, und die ersten Strahlen fielen auf den Platz weit unter ihnen.
»Es muss doch eine andere Möglichkeit geben!«, protestierte Paolo und versuchte, sich zurück aufs Dach zu schieben.
»Tu es endlich!«, fuhr Alan ihn an, der gesehen hatte, wie Miriams Hand langsam abrutschte.
Paolo schob den Oberkörper wieder auf den Rücken des Untiers und streckte eine zitternde Hand nach Miriam aus.
Wieder ein Knacken.
»Du hast es gleich geschafft«, redete Alan ihm gut zu, »nur noch ein kleines Stückchen.«
Mit Tränen in den Augen reckte Paolo den Arm noch weiter, einzig und allein darauf bedacht, nicht nach unten zu sehen. Mehr denn je verfluchte er sich dafür, dem Geheimdienst der Geschichtshüter beigetreten zu sein.
Da geschah etwas Seltsames. Die Zeit um ihn herum schien stehen zu bleiben, und eine vollkommene Stille senkte sich über Paolo. Er hörte weder den Wind noch die Glocken noch die Stimme der anderen. Das Einzige, was er wahrnahm, war sein eigener Atem. Entschlossen riss er die Augen weit auf, blickte nach unten und machte eine Bestandsaufnahme: Er hing vom Dach des Kölner Doms herab, des höchsten Gebäudes der Welt, unter ihm lag eine riesige Stadt, und vor ihm baumelte eine Frau an dem steinernen Flügel eines Fabelgeschöpfs und hielt etwas in der Hand, das, sollte es zu Bruch gehen, ganz Europa den Tod bringen würde. Paolo spürte einen Gedanken in sich aufsteigen: Ja, er konnte es. Er konnte ein Held sein.
»Das werde ich nicht zulassen!«, brüllte er und streckte Miriam beide Arme entgegen.
Miriam klemmte den Hals des Glasbehälters vorsichtig zwischen die Zähne und ergriff Paolos rechte Hand. Dann ließ sie den Flügel los und packte seine linke.
Paolo keuchte vor Anstrengung, als er ihr ganzes Gewicht halten musste. Seine Wirbelsäule wurde auseinandergezogen, als würde sie jeden Moment zerreißen, aber seine Angst war purer Entschlossenheit gewichen, und er hielt Miriam mit eisernem Griff fest, während Alan und Jake ihn Stück für Stück zurück aufs Dach zogen.
Endlich konnte Miriam sich an der Brüstung festhalten und zog sich hinauf. Triumphierend hielt sie die heil gebliebene Flasche in die Luft, während Alan, außer sich vor Freude, die Arme um sie schlang.
Paolo, der immer noch gefährlich nahe am Abgrund stand, straffte die Schultern und nahm den Glasbehälter aus Miriams Hand, um einen Blick auf den todbringenden Inhalt zu werfen.
Da flog die Pestphiole plötzlich wie ein Jonglierball durch die Luft.
Alle hielten den Atem an, sahen Bilder von Tod und Verheerung vor dem inneren Auge, als Paolo das Ding mit der anderen Hand wieder auffing. »Kein Grund zur Aufregung«, meinte er mit einem Achselzucken. »Habe mir lediglich einen kleinen Scherz erlaubt.«
Alan stutzte einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Als der Lachanfall vorüber war, nahm er das Fläschchen trotzdem lieber an sich. Paolos neu erwachter Humor in allen Ehren, aber in dieser Sache konnten und durften sie nicht das geringste Risiko eingehen. Dann kletterten die vier zurück in den Glockenstuhl.
Nachdem die unmittelbare Gefahr abgewendet war, kehrten Jakes Gedanken sofort zu Topaz zurück.
»Ich werde sie holen«, erklärte er mit entschlossenem Blick. »Zeldts Galeone ist noch keine fünf Meilen weit weg. Ich werde die Aal nehmen. Wenn ich allein fahre, werde ich sie schnell eingeholt haben.«
»Die Lindwurm? Jake, das ist keine gute Idee«, entgegnete Miriam.
»Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Was spricht also noch dagegen?«
Jakes Eltern sahen einander an, dann sagte Miriam leise, aber nachdrücklich: »Nun, unter anderem, dass wir anderslautende Befehle haben. Nathans Anweisungen waren sehr strikt. Es wird kein Versuch unternommen, Agentin St. Honoré zu retten, selbst wenn wir unseren Auftrag erfolgreich erfüllen.«
»Befehle?« Jake schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich werde nie wieder in den Spiegel schauen können, wenn ich es nicht wenigstens versuche.«
»Du wirst nirgendwohin mehr schauen, weil du tot sein wirst!« Miriam blickte ihren Mann verzweifelt an. »Sag’s ihm, Alan.«
»Sie hat recht. Das ist kein guter Plan.«
»Topaz’ momentane Lage hat mit dir nicht das Geringste zu tun, Jake«, fügte Miriam hinzu. »Die Sache ist sehr … kompliziert.«
»Überhaupt nichts ist kompliziert!« Jake spürte Zorn in sich aufwallen. »Es ist ganz einfach: Wenn keiner sie rettet, wird sie sterben. Und seit wann kümmert ihr euch um Befehle? Habt ihr etwa eure Befehle befolgt, als ihr losgezogen seid, um Philip zu suchen?«
Jake hatte damit gerechnet, dass seine Eltern nicht begeistert sein würden, und sich in Gedanken bereits einen Plan zurechtgelegt. Er nutzte das betretene Schweigen, das auf seine Frage hin entstanden war, schnappte sich das Fernrohr seines Vaters, rannte zu dem großen Korb voll Mauersteinen, der oben auf dem Gerüst stand, und leerte ihn aus. Mit einem schnellen Blick überprüfte er den Flaschenzug, an dem das Trageseil des Korbes befestigt war, dann schob er ihn über den Rand des Gerüsts und sprang hinein.
Miriam und Alan schrien laut auf, als das Gegengewicht nach oben sauste und Jake mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach unten schoss.
»Tut mir leid. Wartet hier auf mich!«, rief Jake nach oben.
»Jake!«, brüllten seine Eltern hilflos hinter ihm her.
Jake jagte dem steinernen Boden entgegen. Gerade noch rechtzeitig packte er das Seil mit dem Gegengewicht daran, um seinen Sturz vor der Landung abzubremsen. Der Korb schlug auf und zerschellte, Jake sprang heraus und lief durchs Hauptschiff Richtung Portal.
Miriam blickte ihren Gatten an. Sie hatte erwartet, Alan vor Zorn überschäumen zu sehen. Doch was sie stattdessen erblickte, war väterlicher Stolz.
»Würdest du bitte aufhören, so zu schauen?«, fragte sie mit drohender Stimme.
»Hast du denn schon vergessen, wie wir uns kennengelernt haben?«, fragte Alan zurück. »In Ägypten, 872? Du hast zwei feindliche Stellungen durchbrochen und dich bis zwanzig Meter unter die Cheopspyramide durchgegraben, um zu mir durchzukommen. Es scheint, als würde sich die Geschichte manchmal doch wiederholen.«
Alan beobachtete, wie sein Sohn tief unter ihnen aus dem Kirchenportal hinauspreschte und Richtung Hafen davoneilte. »Er ist eben ein Abenteurer durch und durch«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Daran lässt sich wohl nichts ändern.«