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Dinner und Atomium

Im Salon war es warm und gemütlich. Die alten Holzbohlen verschwanden fast unter einer Unzahl kleiner Teppiche und Läufer, die schweren Eichenholztische, an denen die Zeit unübersehbare Spuren hinterlassen hatte, quollen über von Seekarten und Navigationsinstrumenten, und an den Wänden hingen Porträts von tollkühnen Seefahrern und Entdeckern. Später sollte Jake herausfinden, dass es sich bei der Escape um eine Galeone aus dem siebzehnten Jahrhundert handelte, die im viktorianischen Zeitalter etwas modernisiert worden war und ein neues Herz in Form einer Dampfmaschine eingepflanzt bekommen hatte.

Rose führte Jake hinüber zu einem der Sofas neben der Feuerstelle. Sie legte die Tasche ab, schob ihre Armreifen zurecht und begann nach einem tiefen Atemzug mit ihrer Geschichte.

»Vor vielen Jahren, Jake, kurz bevor du geboren wurdest, haben deine Eltern eine Entscheidung getroffen. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten sie, nun ja, wie soll ich sagen, ein ungewöhnliches, ein aufregendes Leben voller Abenteuer und Entdeckungen.« Sie hielt einen Moment inne und dachte mit funkelnden Augen zurück. »Aber es war auch ein Leben, das enorme Gefahren mit sich brachte, und als Philip zur Welt kam, fragten sie sich, wie lange sie noch so weitermachen konnten. Als dann drei Jahre später du geboren wurdest, war die Frage ein für alle Mal entschieden. Sie beschlossen – und es war die schwierigste Entscheidung, die sie jemals getroffen haben –, ein ›normales‹ Leben zu führen. Und ich konnte diese Entscheidung nur unterstützen.«

Jake schaute seine Tante an und wartete darauf, dass sie die Bombe endlich platzen ließ.

»Sie haben etwas vor dir geheim gehalten. Aber dieses Geheimnis lässt sich nicht länger bewahren. Die momentane Lage lässt uns keine andere Wahl.« Rose atmete noch einmal tief durch und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Du hast eine besondere Fähigkeit, Jake. Eine Gabe, wenn man so will. Eine Macht, über die nur sehr wenige verfügen. Und du hast sie, ohne es selbst zu wissen, schon seit deiner Geburt. Deine Eltern haben sie, ich habe sie, und jeder auf diesem Schiff hat sie, in mehr oder weniger starker Ausprägung.«

»Eine besondere Fähigkeit?«, fragte Jake.

»Zuerst sag mir eins: Hat Jupitus deine Augen untersucht? Ich meine, mit einem Instrument?«

»Ja, gleich nachdem wir in die Bibliothek kamen.«

»Und hast du was gesehen?«

»Diamanten. Ich habe Diamanten gesehen.«

Rose schnappte vor Freude nach Luft und ergriff Jakes Hand. »Diamanten, wirklich? Wie wunderbar! Waren ihre Umrisse scharf, klar zu erkennen?«

»Ja, ich glaube, das waren sie.«

»Oberste Kategorie, kein Zweifel!« Rose klatschte in die Hände. »Wie bei deinen Eltern und mir. So was wird nicht zwangsläufig vererbt, musst du wissen. Diese Begabung ist selten, äußerst selten.«

»Und was für eine Begabung ist das?«

Rose blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie immer noch allein waren. »Es bedeutet, dass deine Gabe reiner ist als bei den meisten anderen. Diamanten besitzen große Kraft, und wenn sie scharf sind, sind sie sogar noch stärker«, vertraute sie ihm an. »Was würde Cole nicht dafür geben, wenn er Diamanten sehen könnte.«

»Jetzt sag’s mir schon! Was hat das alles zu bedeuten?«

Rose bedachte Jake mit einem ernsten Blick. »Du kannst in die Vergangenheit reisen. Wie andere Leute an fremde Orte. Und wenn du Diamanten gesehen hast, bedeutet das, dass du in jede Zeit reisen kannst, ganz wie es dir beliebt. So weit zurück, wie du willst.«

Jake sah seine Tante an und konnte ein Lachen nicht unterdrücken; aber es war ein nervöses, unsicheres Lachen. Ob sie genauso verrückt war wie alle anderen an Bord?

»Ich habe nicht gesagt, dass es leicht ist. Keine Reise ist einfach. Allein, einmal quer durch London zu fahren, kann schon kompliziert genug sein. An einen anderen Ort und gleichzeitig in eine andere Zeit zu reisen jedoch ist das Schwierigste, das man sich überhaupt nur vorstellen kann. Und du kannst es. Im Gegensatz zu fast allen anderen Menschen auf der Welt.«

Jake blickte Rose tief in die Augen. Er schüttelte den Kopf, wollte ihr sagen, dass er endgültig genug hatte von all dem Unsinn, aber ihre Miene blieb ungerührt.

»Ich weiß, du musst eine Menge Fragen haben«, sprach sie weiter, »aber du wirst es schon bald genug selbst erleben. Denn heute Nacht gehen wir auf eine solche Reise.«

»Nach Frankreich?«

»In die Normandie, genauer gesagt. Wenn auch nicht in die Normandie der heutigen Zeit. Wir reisen ins Jahr 1820. Zum Nullpunkt, verstehst du?«

»Zum Nullpunkt?«

»Zum Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter, der Organisation, für die all die Leute hier arbeiten. Die Leute auf der Escape und noch viele, viele andere. Die Agenten des Geheimdienstes stammen aus allen Teilen der Welt und aus jeder Epoche. Die Geschichtshüter sind eine wichtige Organisation, vielleicht die wichtigste, die jemals existiert hat.«

Jake spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief und die Härchen in seinem Nacken sich aufstellten vor Aufregung, aber er beschloss, hart zu bleiben. »Rose«, sagte er, »sosehr es mir auch gefallen würde, durch die Zeit zu reisen, wie du es nennst, aber ich muss jetzt …«

»Klingt alles ziemlich lächerlich, ich weiß. Und frag mich bitte nicht nach dem wissenschaftlichen Hintergrund, denn davon habe ich keinen blassen Schimmer. Jupitus kann es dir viel besser erklären als ich. Oder frag Charlie Chieverley, er ist der Wissenschaftler hier an Bord. Ich weiß nur, dass es irgendwas mit unseren Atomen zu tun hat. Sie haben so eine Art Geschichtsgedächtnis, erinnern sich an jeden Moment und jede Begebenheit, die sich je zugetragen hat.«

Jake fielen plötzlich die geheimnisvollen Worte wieder ein, die er an Deck gehört hatte. »Als Jupitus 1506 sagte, was genau hat er damit gemeint?«, fragte er nervös.

»Was hat er gesagt?«, fragte Rose zurück, wich seinem Blick aus und fingerte nervös an ihren Armreifen herum.

»1506«, wiederholte Jake. »Sag jetzt nicht, Jupitus hätte nicht das Jahr 1506 erwähnt.«

Rose kicherte verlegen. »Ja, ich glaube, das hat er, aber darüber wollen wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Deine Eltern sind immer wieder mal für eine Weile verschwunden. Es war einfach ihre Art, sich von ihrer Intuition leiten zu lassen.«

»1506?« Jake schüttelte den Kopf. »Du willst mir erzählen, dass das das Jahr ist, in dem sie sich gerade aufhalten?«

Rose legte Jake die Hände auf die Schultern und blickte ihm direkt in die Augen. »Wir werden sie finden«, versprach sie mit ruhiger, fester Stimme, »ganz bestimmt.«

In diesem Moment wusste Jake, dass Rose die Wahrheit sagte. Er hatte keine Ahnung, was genau es mit diesen Zeitreisen auf sich hatte, aber er wusste, fühlte es in seinem Bauch, dass ihre Geschichte stimmte. Und noch etwas begriff Jake in diesem Moment, und es war eine beunruhigende Erkenntnis: dass seine Eltern in der Tat verschollen waren.

Die Salontür flog auf, und die Dame mit dem Pelzmantel platzte herein. Als sie Jake und Rose erblickte, blieb sie abrupt stehen.

»Verzeihung. Ich dachte, es wäre bereits Zeit für das Dinner«, sagte sie irritiert.

»Es müsste jeden Moment so weit sein«, erwiderte Rose. »Wie geht es dir, Océane? Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Und du siehst … immer noch genauso aus wie früher«, gab Océane nach kurzem Überlegen zurück. »Vielleicht ein paar mehr Ringe unter den Augen.«

»Und du hast immer noch dieses unnachahmliche Talent für Komplimente«, gab Rose gut gelaunt zurück. »Das ist übrigens mein Neffe Jake.«

»Océane Noire«, sagte die Lady herablassend. »Es macht euch doch nichts aus, wenn ich bleibe? Meine Kajüte ist der reinste Eisschrank, wie üblich.« Sie setzte sich geziert auf die Chaiselongue, zündete sich einen Zigarillo an und blickte betont interessiert durch eins der Fenster hinaus aufs Meer.

In diesem Moment betraten zwei Mannschaftsmitglieder den Salon und deckten eilig die Tafel in der Mitte des Raums. Hinter ihnen folgten die übrigen Passagiere: Charlie Chieverley mit Mr Drake, dem Papagei, eine strahlende Topaz St. Honoré und Jupitus Cole.

Jake bemerkte, wie Océanes Laune sich sofort besserte, als Jupitus in den Salon stolziert kam. Unverzüglich drückte sie ihren Zigarillo aus, richtete ihre Frisur und durchschritt mit einem vielsagenden Lächeln in Jupitus’ Richtung den Salon, um sich dann direkt neben ihn zu setzen.

Doch leider war die ganze Inszenierung vollkommen umsonst, denn Jupitus war weit weg in seiner eigenen Welt, versunken in Seekarten und Tabellen.

Da fiel Jake ein Instrument auf, das an Schnüren befestigt von der Salondecke hing. Es bestand aus drei goldenen, konzentrischen Ringen, alle in einem unterschiedlichen Winkel geneigt, und in der Mitte schwebte eine Kugel. An jedem der Ringe befanden sich Markierungen, manche davon erkannte Jake als Ziffern, dazwischen entdeckte er aber auch eine Vielzahl rätselhafter Symbole, die ihm rein gar nichts sagten.

»Das ist der Konstantor«, wisperte Rose. »Er bringt uns zum Horizontpunkt. Eine ziemlich wichtige Apparatur. Auf dem Deck ist noch einer. Siehst du, wie er sich bewegt?«

Jake schaute genauer hin. Rose hatte recht: Beinahe unmerklich schienen die goldenen Ringe sich einem gemeinsamen Äquator zu nähern.

»Wenn alle drei sich in dieselbe Ebene gedreht haben, sind wir am Horizontpunkt, und dann geht der Spaß erst richtig los. Das erste Mal vergisst man nie. Die beste Achterbahnfahrt, die man sich überhaupt nur vorstellen kann.«

Jupitus warf einen Blick auf seine Uhr und lief rot an vor Zorn. »Norland!«, brüllte er die Treppe hinunter. »Trägst du jetzt das Dinner auf oder nicht?!« Im Salon wurde es totenstill, als er noch hinzufügte: »Was für ein Nichtsnutz! Wozu braucht man einen Butler, der nicht einmal in der Lage ist, sich an vereinbarte Zeiten zu halten?«

Erstaunlich unbeeindruckt kam Norland aus der Kombüse herauf. Er zog an den Seilen des Speiseaufzugs, öffnete die Klappe, zog einen Stapel Teller heraus und verteilte die saftig gebratenen Hühnerkeulen darauf.

Unterdessen hatten die Passagiere Platz genommen; Jake saß zwischen Rose und Océane und direkt gegenüber von Topaz und Charlie.

Océane warf einen kurzen Blick auf die Gemüseplatte in der Mitte. »Ach, diese schreckliche englische Esskultur«, seufzte sie gelangweilt, aber niemand schenkte ihr Beachtung.

Während Jake sein Huhn verspeiste – das zum Köstlichsten gehörte, das er jemals gegessen hatte –, lauschte er gespannt auf die Gesprächsfetzen, die ihm an die Ohren drangen: Topaz fragte Mr Cole nach den Ereignissen in Byzanz, als er dort auf der Seidenstraße gegen die Chinesen gekämpft hatte, doch Jupitus spielte alles in seinem üblichen, unterkühlten Tonfall herunter, auch wenn er sich doch ein wenig geschmeichelt zu fühlen schien von dem Titel, den ihm seine Taten eingebracht hatten – Held der Türken.

Océane war ganz entzückt von Jupitus’ Geschichte und gab im Gegenzug eine ihrer eigenen zum Besten über die »ganz und gar inakzeptablen Zustände«, die sie in Paris hatte ertragen müssen, als sie sich einer »wilden Horde« von Anhängern der Französischen Revolution gegenüber gesehen hatte, »ohne auch nur eine Nagelfeile zur Hand«, um sich zu verteidigen.

Schließlich nutzte Norland – nachdem er ebenfalls Platz genommen und sich selbst die größte Portion genommen hatte – diese Anekdote als Überleitung zu einer reichlich langatmigen Geschichte, die darin gipfelte, wie er in den Tagen Kaiser Josephs II. Mozart höchstpersönlich am Flügel gehört hatte.

Jede der Geschichten wurde in so beiläufigem Tonfall vorgetragen, als ginge es lediglich um Urlaubserlebnisse auf Mallorca. Für Jake allerdings fühlte sich alles an wie ein Traum oder als säße er in einem Theaterstück. Und doch … Was für eine ungeheure Vorstellung, wie fesselnd und verlockend, tatsächlich durch die Zeit reisen zu können! Rose hatte behauptet, er würde es früh genug selbst erleben, und jetzt konnte Jake es kaum mehr erwarten.

Ab und zu blickte er hinüber zu dem strahlenden, selbstbewussten Mädchen, das ihm gegenübersaß. Sie war anders als alle Mädchen, die er bisher getroffen hatte. In seinem Zimmer hingen ein paar Poster von Persönlichkeiten und Fantasiegestalten, die ihn faszinierten, und eine davon hatte es ihm ganz besonders angetan: Es war ein Mädchen, eine Prinzessin und Kriegerin – so stellte Jake es sich zumindest vor –, ihr Gesicht war blass und schön, ihr Blick erhaben und schüchtern zugleich; sie trug ein Diadem im Haar und eine glänzende Rüstung, und hinter ihr erstreckte sich eine düstere Landschaft mit Bergen und Schlössern und drohenden Sturmwolken darüber. Irgendwie erinnerte Topaz ihn an dieses Mädchen, so geheimnisvoll, so schön und mutig.

Mutig? Jake erschrak über sich selbst. Noch nie hatte er einen Gedanken daran verschwendet, ob ein Mädchen mutig wirkte oder nicht. Doch je länger er die Unterhaltung zwischen Topaz und Charlie beobachtete, desto mehr verlor er sich in ihren blauen Augen. Sie schienen zu leuchten von tausend Emotionen, die dahinter zu erkennen waren: Aufregung, Glück, Ungeduld und Erstaunen, alles zugleich. Im einen Moment schweiften Topaz’ Gedanken ab, und ihre Augenfarbe veränderte sich von Indigo zu einem dunklen Ultramarin, erfüllt von tiefster Trauer, dann, nur einen Moment später, brach sie in schallendes Gelächter aus, als Charlie einen einäugigen Papageienhändler nachmachte, den er in Tanger gesehen hatte.

Und während all dieser Unterhaltungen richteten die Anwesenden immer wieder einen erwartungsvollen Blick nach oben auf den golden schimmernden Konstantor und dessen sich langsam drehende Ringe.

Als alle fertig gegessen hatten, stand Jupitus auf und ging hinüber zu einer Kommode, auf der das furnierte Kästchen stand, das er so behutsam aus dem Safe im Londoner Büro geholt hatte. Als Erstes nahm er das silberne Gerät mit den Rädchen und winzigen Hebeln daran heraus, dann das Fläschchen mit der grauen Flüssigkeit und als Letztes ganz, ganz vorsichtig die Kristallphiole mit dem golden schimmernden Fluidum.

»Was passiert jetzt als Nächstes?«, flüsterte Jake Rose zu und fragte sich, warum alle plötzlich so still waren.

»Dieses kleine Ding da ist die Horizontschale.«

Jake sah, wie Jupitus die Hebel und Rädchen an dem Instrument sorgfältig ausrichtete.

»Er gibt das genaue Datum ein, zu dem wir reisen wollen«, erläuterte Charlie. »Gleich wird er einen Tropfen von jeder der beiden Flüssigkeiten in die Schale geben, die sie dann in einem bestimmten Verhältnis miteinander verschmilzt – einem sehr exakt einzuhaltenden Verhältnis. Wir nehmen jeder einen Schluck davon, und ab geht’s in die Tiefen der Geschichte.«

»Das Gerät verschmilzt die Flüssigkeiten miteinander?«, fragte Jake, der nicht ganz sicher war, ob er richtig verstanden hatte.

»Ganz genau. Auf molekularer Ebene«, antwortete Charlie und schob seine Brille zurecht. »Nimm einen bestimmten Anteil von dem goldenen Fluidum, und er bringt dich ins Jahr 1750. Ein bisschen mehr davon, und du findest dich an einer Frühstückstafel im alten Rom wieder. Vorausgesetzt natürlich, man hat die Kraft dazu – das heißt die Fähigkeit und die erforderliche Härte –, um durch die Zeit zu reisen. Glaub nicht, jeder könnte davon trinken und wäre schon unterwegs in die Vergangenheit. Das können nur sehr wenige Auserwählte, diejenigen mit Formen in den Augen, Diamanten oder Rechtecken. Und noch wenigere können an jeden Punkt der Zeit zurückreisen, der ihnen beliebt. Vor Christi Geburt und noch weiter.«

»Und was sind das für Flüssigkeiten?«, frage Jake, während Jupitus die beiden Fläschchen öffnete und je einen Tropfen daraus in einen kleinen Trichter an der Oberseite der Horizontschale goss.

»Bei der grauen handelt es sich um eine gewöhnliche Tinktur, aber die goldene …«

»… ist Atomium«, beendete Rose mit ehrfürchtiger Stimme den Satz.

»Atomium?«, wiederholte Jake. Das Wort klang faszinierend.

»Eine der seltensten Substanzen der Welt«, erklärte Charlie. »Ohne Atomium wäre das, was wir hier tun, überhaupt nicht möglich. Aber sei gewarnt: Es schmeckt wie etwas, das dein Dad in den Tank seines Autos schütten würde.«

Jupitus trat von der Horizontschale zurück, und alle anderen machten ebenfalls einen Schritt nach hinten. Océane hielt sich sogar schützend die porzellanweißen Hände vors Gesicht, und Jake war wie gebannt, während Rose ihn an der Hand mit sich zog.

»Die Schale wird ziemlich heiß«, erklärte sie.

Dann sah Jake, wie die Schale allmählich zu glühen begann und schließlich orangerot leuchtete wie geschmolzenes Metall. Selbst von der anderen Seite des Salons konnte er die enorme Hitze spüren, die von dem winzigen Gerät ausging, bevor es mit einem leichten Zittern und Pfeifen wieder in seinen Ursprungszustand zurückkehrte.

Weitere drei Minuten verstrichen, bis Jupitus es mit einer Stoffserviette um die Finger zur Hand nahm und es aufschraubte. Die Flüssigkeit darin funkelte wie gleißendes Sonnenlicht. Jupitus schüttete die wie flüssige Kristalle glitzernde Lösung in eine Wasserkaraffe, rührte das Gemisch mit einem langen Silberlöffel um und goss es in sieben kleine Kelche, die Norland auf einem Tablett bereitgestellt hatte.

»Auf unsere Reise!«, sagte Jupitus feierlich und hob seinen Kelch.

»Auf unsere Reise«, wiederholten alle im Chor.

Rose beäugte ihren Trunk. »Tja, ich schätze, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Auf meine Rückkehr zum Geheimdienst der Geschichtshüter also!«, sagte sie und leerte das Gefäß in einem Zug.

Charlie hingegen ließ eine kleine Pfütze am Boden seines Kelchs übrig und hielt ihn Mr Drake hin, wovon der Papagei offensichtlich wenig begeistert war und den Schnabel prompt in seinem Gefieder vergrub.

»Na komm schon. Inzwischen weißt du doch, wie es läuft«, redete Charlie ihm gut zu und zog eine Cashewnuss aus seiner Westentasche.

Mr Drake gehorchte zögernd, leckte den Kelch leer und holte sich dann mit einem heiseren Krächzen seine Belohnung.

»Bring den Rest des Atomiums Captain Macintyre und der Crew«, wies Jupitus Norland an, der mit der Karaffe auf dem Tablett verschwand.

Nach und nach richteten sich alle Augen auf Jake.

»Bon voyage, mein lieber Neffe«, sagte Rose. »Viel Glück für deine erste Reise.«

Jake hörte, wie alle anderen ihm zutoasteten, nur Jupitus murmelte etwas Unverständliches, und Océane sagte gar nichts. Er hob seinen Kelch, sah das Emblem mit der von zwei Planeten umkreisten Sanduhr darauf, nahm noch einmal einen tiefen Atemzug und trank – woraufhin er sofort einen so heftigen Hustenanfall bekam, dass Charlie ihm auf den Rücken klopfen musste.

»Mr Chieverley!«, rief Jupitus. »Sehen Sie zu, dass Sie in seiner Nähe sind, wenn wir den Horizontpunkt erreichen.« Er deutete mit dem Finger auf Jake. »Es ist sein erstes Mal, und ich möchte kein unnötiges Drama erleben.« Jupitus warf einen Blick auf den Konstantor und schaute dann auf seine Uhr. »Noch eine Stunde bis zum Horizontpunkt«, verkündete er, verließ den Salon und knallte die Tür hinter sich zu.

»Merkst du schon was?«, fragte Charlie Chieverley, als er mit Jake hinaus aufs Deck trat. Jake schüttelte den Kopf, und Charlie schaute auf seine Uhr. »Es ist jetzt beinahe eine Stunde her, dass wir das Atomium genommen haben. Du wirst bald was spüren.«

Die Escape fuhr jetzt über das offene Meer auf einen vom Mondlicht erhellten Fleck Wassers zu, den sie doch nie erreichen würde. Der Regen hatte aufgehört, aber es wehte immer noch eine steife Brise.

Charlies Art beeindruckte Jake. Er verfügte über einen trockenen Humor und kam Jake eher vor wie ein weltgewandter Erwachsener denn wie ein halbwüchsiger Junge. Wenn Charlie etwas nicht passte, dachte Jake, sagte er das, geradeheraus und ohne Umschweife, und Menschen, die den Mut besaßen, das zu tun, hatte er schon immer bewundert.

»Nur damit ich das alles richtig verstehe: Man nimmt also die zwei Flüssigkeiten, Atomium und diese graue Tink …«

»Auf das Atomium kommt es an. Das Zeug ist unfassbar selten.«

»Und das Mischungsverhältnis bestimmt, an welchen Zeitpunkt der Geschichte man reist?«

»Kurz gesagt, ja.«

»Aber wie stellt dieses Atomium das an?«

»Genau das ist die Frage!«, rief Charlie begeistert und rückte wieder einmal seine Brille zurecht. »Es verschafft unseren Atomen Zugang zum Flux Temporum, einem Netz aus allen Zeitströmen der Erdgeschichte, das sämtliche Zeitalter miteinander verbindet. Das Atomium klopft sozusagen bei jedem einzelnen deiner Atome an und macht eine komplette Bestandsaufnahme. Ein einziger menschlicher Körper hat mehr Atome, als du dir auch nur annähernd vorstellen kannst. Im Querschnitt eines einzigen Haares – und ich spreche hier von seinem Durchmesser, wohlgemerkt, nicht von der Länge – drängen sich Hunderte Milliarden davon zusammen. Und jedes einzelne wird im Lauf der kosmischen Entwicklung immer wieder recycelt. Ein paar Tausend deiner Atome könnten durchaus einmal Shakespeares gewesen sein, andere wiederum haben früher mal zu Dschingis Khan oder Julius Cäsar gehört, wieder andere stammen von einem Igel, der irgendwann in Norwegen gelebt hat.«

Jake versuchte, Charlies Ausführungen zu folgen, während er mit leuchtendem Blick weitersprudelte: »Das ist das eine. Aber auch jedes einzelne Atom ist absolut außergewöhnlich und verhält sich wie ein eigenständiges Mini-Universum. Stell dir Folgendes vor: Wenn man ein Atom auf die Größe der St.-Pauls-Kathedrale in London aufblasen würde, wäre sein Kern immer noch kaum größer als eine Erbse. Und was ist mit dem ganzen Raum dazwischen? Was ist da drin?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Jake mit einem verlegenen Lächeln.

Charlie beugte sich ganz dicht an ihn heran und nahm seine Brille ab, um dem Moment der Enthüllung mehr Dramatik zu verleihen: »Geschichte! Nichts anderes als die gesamte Erdgeschichte befindet sich darin.«

Wieder spürte Jake, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, und noch mehr Fragen stiegen in ihm auf. »Und der Horizontpunkt?«, fragte er. »Was hat es damit auf sich?«

»Es gibt viele Horizontpunkte. Sie sind über die ganze Erde verteilt, und an jedem davon konzentriert sich in ganz bestimmter Weise magnetische Energie … Du weißt doch, dass die Erde ein Magnetfeld hat, oder? Jedenfalls, die Horizontpunkte stellen die Energie zur Verfügung, die das Atomium braucht, um seinen Job zu erledigen. Wir benutzen allerdings nur die, die weit draußen auf dem Meer liegen. Mit den Festland-Horizontpunkten gibt es zu viele Probleme.«

Jake bemühte sich, diese schwer verständlichen Erklärungen zu verstehen. »Rose hat davon gesprochen, dass nur sehr wenige Menschen durch die Zeit reisen können. Aber wir bestehen doch alle aus Atomen, warum kann es dann nicht jeder?«

Charlie grinste. »Das ist die Frage, die niemand beantworten kann«, sagte er mit offensichtlichem Gefallen an diesem unlösbaren Rätsel. »Niemand weiß, woher wir die Kraft dazu nehmen, aber Tatsache ist, dass wer keine Formen sieht, auch nicht in die Vergangenheit reisen kann.«

»Und was ist mit dem Schiff, der Takelage, den Tellern und Tassen? Wie kriegen die das hin?«

»Ganz zu schweigen von unseren Klamotten. Wäre nicht besonders lustig, wenn wir im Adamskostüm ankommen würden«, meinte Charlie mit einem Augenzwinkern. »Aber wenn wir in der Gruppe reisen, vergrößern wir dadurch unser Spektrum.« Er deutete mit einer ausladenden Geste auf das Schiff. »Auf telepathischem Weg sozusagen nehmen wir all das hier mit: die Escape, alles was sich auf ihr befindet und sogar etwas von dem Meerwasser unter ihrem Kiel. Die besten unter den Hütern, also normalerweise die Diamanten, zu denen ich glücklicherweise gehöre«, wie er nicht ohne Eitelkeit anmerkte, »transportieren das meiste. Nicht nur unbelebte Materie, sondern auch die anderen Hüter, die weniger begabten.«

»Hat Mr Cole dich deshalb gebeten, in meiner Nähe zu bleiben?«

»Nachdem du ebenfalls ein Diamant bist, wie mir gesagt wurde, dürftest du keine Probleme mit der Reise haben, aber beim ersten Mal ist es immer besser, vorsichtig zu sein«, antwortete Charlie flüsternd. Er blickte sich schnell um, und seine Stimme wurde noch leiser. »Als ich sagte, die Diamanten transportieren die anderen Hüter, meinte ich damit die Rechtecke und die Unscharfen. Ohne wenigstens einen Diamanten an Bord ist es fast nicht möglich, einen erwähnenswerten Zeitsprung zu machen.«

Auch wenn Jake immer noch nicht wirklich verstand, wie das Ganze funktionierte, war er doch auch ein wenig stolz darauf, ein »Diamant« zu sein. »Wenn wir also in die Vergangenheit reisen können«, fragte er weiter, »können wir uns dann auch selbst besuchen, als wir noch jünger waren zum Beispiel?«

Charlie schaute ihn an, als hätte Jake den Verstand verloren. »Du liest zu viel Science-Fiction, mein Guter. In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Leben kein bisschen von dem aller anderen Erdenbürger: Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Wir können uns immer nur an einem Ort aufhalten, und zwar in der Gegenwart, wo auch immer die gerade ist. Sieh mal« – Charlie hielt sein Handgelenk hoch und deutete auf seine Armbanduhr (die wie seine Brille ziemlich mitgenommen aussah und mit Klebeband repariert war) –, »diese Ziffern hier auf der kleinen Anzeige in der Mitte, das ist mein Alter. Vierzehn Jahre, sieben Monate und zwei Tage. Und ganz egal in welcher Epoche ich mich gerade aufhalte, diese Uhr zählt die Tage mit und addiert sie. An meinem Geburtstag spielt sie dann eine kleine Melodie, Beethovens Fünfte.« Er tätschelte die Uhr und pfiff sein Geburtstagslied, hörte aber abrupt auf, als er sah, dass bereits etwas Neues Jakes Aufmerksamkeit in Beschlag genommen hatte: Topaz St. Honoré war an Deck gekommen.

Jake blinzelte, und sein Mund wurde wieder trocken, während er beobachtete, wie sie auf den Bug zuschwebte.

»O weh«, kommentierte Charlie, »das nächste Herz, das an unserer Sphinx zu Bruch geht.«

Jake errötete ertappt.

»Auf fast alle Jungs hat sie diese Wirkung«, tröstete Charlie ihn.

»Äh, nein, überhaupt nicht …«, widersprach Jake. »Sie hat nur so etwas … Geheimnisvolles an sich. Kommt sie aus der Normandie?«, versuchte er das Gespräch von sich wegzulenken.

»Ja, seit Nathans Familie sie adoptiert hat. Die meiste Zeit lebt sie mit ihnen zusammen am Nullpunkt. Natürlich streiten die beiden ständig miteinander, so wie alle Geschwister.«

»Nathan?«, fragte Jake.

»Nathan Wylder. Du wirst ihn kennenlernen, wenn wir ankommen. Das heißt, zuerst wirst du ihn hören, er hat nämlich das lauteste Organ seit dem Niedergang des Osmanischen Reichs. Amerikaner. Wurde während des Bürgerkriegs geboren.« Dann fügte er mit mehr Bewunderung als Neid in der Stimme hinzu: »Er ist ein Held durch und durch.«

Jakes Gedanken waren immer noch bei Topaz. »Sie wurde adoptiert? Was ist mit ihrer Familie passiert?«

Charlie beugte sich ganz dicht an Jake heran. »Das ist eine lange und traurige Geschichte. Niemand spricht je darüber«, flüsterte er ihm ins Ohr und musterte Jake dann mit zusammengekniffenen Augen. »Spürst du das Atomium jetzt?«

Jake nickte. Es hatte ganz plötzlich angefangen – ein Pochen im Kopf, begleitet von einem Gefühl, als würde er schweben, ohne dass seine Füße sich vom Deck lösten, und binnen Sekunden war es noch zehnmal stärker, nein, schlimmer geworden.

Er taumelte ein paar Schritte nach vorn. Da ergriff Charlie seinen Arm und führte ihn zu einer schmalen Sitzbank.

»Setz dich. Das Schlimmste ist bald vorbei.«

Jake schaute hinaus aufs Wasser. Er wusste, dass es das Meer war, und doch erkannte er es irgendwie nicht. Ihm war weder warm noch kalt, und die Geräusche um ihn herum schienen aus großer Ferne zu kommen.

Einer nach dem anderen betraten jetzt auch die übrigen Passagiere das Deck, um sich bereit zu machen. Océane Noir ließ den Blick über die Wellen schweifen, als wären sie ihr Privatbesitz. Mit einem lauten Seufzer legte sie Jupitus eine Hand auf die Schulter, aber der ignorierte sie einfach.

»Noch fünf Minuten!«, kündigte der Kapitän an.

Jake drehte den Kopf und erblickte den zweiten Konstantor neben dem großen hölzernen Steuerrad. Er sah dem unten im Salon verblüffend ähnlich, war aber etwas größer und aus robusterem Metall gefertigt. Die drei glänzenden Goldringe drehten sich nun beinahe in derselben Ebene.

»Drei Minuten!«

Kopfschmerzen und Übelkeit waren mittlerweile vorüber, und Jake spürte nur noch freudige Erregung. Als Topaz sich in seine Richtung drehte und ihn anlächelte, sah er plötzlich etwas … Bilder, nein, Szenen, die er noch nie zuvor erblickt hatte, stürmten auf ihn ein: marschierende Armeen, Königreiche, großartige, halb fertige Kathedralen, schillernde Paläste, Mondschein, Kerzenlicht, Gebirgspässe, Heldentaten und Abenteuer. Etwas war in ihm aufgebrochen, und ein Gefühl von der Erhabenheit der Welt durchströmte ihn.

»Eine Minute …«

An Deck wurde es totenstill. Charlie rückte etwas näher an Jake heran, während Rose auf der anderen Seite seine Hand fest umklammerte. Alle Augen waren in gespannter Erwartung auf den Flecken Mondschein vor ihnen gerichtet.

»Zehn, neun, acht, sieben, sechs …«, zählte Captain Macintyre so leise, dass Jake ihn kaum hörte.

Jake hielt den Atem an. Wie aus dem Nichts erhob sich ein Wirbelwind, ein rasender Taifun, der sie alle einhüllte, Farben blitzten auf, und Rose und Charlie drückten sich so nahe an Jake, wie sie nur konnten. Dann hörte er wie in Zeitlupe den Knall einer Explosion, Diamanten schossen durch die Luft, wurden wie bei einem Vulkanausbruch in alle Himmelsrichtungen geschleudert, und der Vulkan war – Jake selbst. Doch schon im nächsten Moment stieg auch er in den Himmel auf wie eine Rakete, erhob sich über das Schiff, über das Meer.

Er kannte den Ausdruck »außerkörperliche Erfahrung«, aber wie die meisten Menschen hatte er noch nie selbst eine gehabt. Jake wusste, dass er mit beiden Füßen immer noch fest auf dem Deck stand, doch gleichzeitig fühlte er sich, als fliege er hoch über den Wolken und blicke auf sich selbst hinab.

Die Diamanten rasten auf den Rand seines Gesichtsfelds zu, und die Farben blitzten mit unbeschreiblicher Intensität, als er schließlich ein Geräusch wie von einem Überschallknall hörte.

Und mit einem Mal war alles wieder normal. Jake befand sich wieder auf dem Deck, Tante Rose neben ihm, und lauter Jubel brach aus, als alle einander zu dem erfolgreich absolvierten Zeitsprung beglückwünschten.

Charlie drehte sich zu Jake um und schüttelte ihm die Hand. »Ich hoffe, du hattest eine angenehme Reise«, sagte er. »Willkommen im Jahr 1820.«