7
Das Schloss im Meer
Jake stand geduldig am Bug der Escape und wartete. Nach und nach konnte er die Umrisse einer nebelverhüllten Küstenlinie erkennen. Direkt davor hob sich ein blasses Dreieck vom Festland ab. Im ersten Moment sah die Silhouette aus wie ein Riese in einer Mönchskutte, der mit großen Schritten durchs Meer auf sie zukam. Doch als Jake genauer hinsah, erkannte er, dass es sich um eine kegelförmige Insel handelte, gedrungen und grau wie Granit. Er hob Charlies Fernrohr, das er immer noch in der Hand hielt, wieder ans Auge, um das seltsame Eiland genauer zu betrachten.
Die breite Basis des Dreiecks bestand aus natürlichem Fels, aber gleich darüber erhob sich eine Vielzahl von offensichtlich von Menschenhand errichteten Mauern und Gebilden, auf- und nebeneinandergestapelt wie Bauklötze, die eine Pyramide bildeten.
»Hier ist es«, verkündete eine gedämpfte Stimme hinter ihm. »Mont Saint-Michel. Das Hauptquartier des Geheimdienstes der Geschichtshüter.« Topaz, die eins von Charlies Croissants kaute, trat neben ihn an den Bug.
Für Franzosen war Essen ja bekanntlich eine Kunstform, fiel Jake in diesem Moment ein, selbst der Verzehr von Frühstücksgebäck, und Topaz bildete da keine Ausnahme: Sogar die Art, wie sie die Krümel mit der Fingerspitze von ihren Lippen pflückte, war bezaubernd.
Während die Insel vor ihnen langsam größer wurde, erzählte ihm Topaz alles, was sie darüber wusste. »Der Ruhm dieser Festung reicht zurück bis ins Jahr 808, was auch der Grund ist, warum der Geheimdienst sie zu seinem Hauptquartier gewählt hat. In den über tausend Jahren, die sie existiert, wurden ihre Mauern kein einziges Mal überrannt.«
Mont Saint-Michel war aber nicht nur wegen der geografischen Lage der ideale Ort für das Hauptquartier, sondern auch wegen der historischen, wie Topaz weiter erklärte.
»Die Zwanzigerjahre des neunzehnten Jahrhunderts sind eine vergleichsweise friedliche Zeit«, führte sie aus. »Die blutigen Unruhen der beiden vergangenen Jahrhunderte haben sich gelegt. Der englische Bürgerkrieg, der österreichische Erbfolgekrieg und, nicht zu vergessen, die glorreiche französische Revolution sind vorüber. Das Vermächtnis Napoleons hat, ob beabsichtigt oder nicht, diesem Teil Europas einen gewissen Frieden gebracht.«
Außerdem war dieses Jahrzehnt noch verschont von den Tücken der Moderne, wie sie weiter berichtete. All die notwendigen Übel der bald anbrechenden industriellen Revolution waren noch nicht erfunden, und die Entwicklung der Dampfmaschine, die eines Tages zur »teuflischsten aller Erfindungen«, wie sie es ausdrückte, führen würde, steckte mehr oder weniger noch in den Kinderschuhen.
»Die Moderne ist zwar ganz merveilleux«, sagte sie, »doch die Gefahren lauern an jeder Ecke. Aber hier, im Jahr 1820, sind wir davon noch verschont.«
Nach diesem kurzen Crashkurs in Geschichte lächelte Topaz Jake freundlich an und stopfte sich das letzte Stückchen Croissant in den Mund. »Jetzt weißt du, warum sich der Nullpunkt genau hier und nirgendwo anders befindet.«
Jake wurde noch nicht ganz schlau aus Topaz’ Ausführungen. »Das Hauptquartier bleibt also die ganze Zeit über im Jahr 1820?«
»In diesem Jahrzehnt, ja. Aber am Silvesterabend des Jahres 1829 besteigen alle ein Schiff, reisen über den nächsten Horizontpunkt zurück zum 1. Januar 1820 und segeln dann erneut zur Insel, wo sie wieder die nächsten zehn Jahre bleiben, und immer so weiter. Klingt ziemlich verrückt, ich weiß, aber irgendwie scheint es zu funktionieren.«
Jake beschloss abzuwarten, ob sich die Dinge mit der Zeit nicht vielleicht von selbst erklären würden.
Die Insel war mittlerweile deutlich zu erkennen, und er reckte den Kopf, um all die Türme und Spitzen, Strebebogen, Säulengänge und Rundbogenfenster zu bewundern. Von überall her drang das Geschrei von Seevögeln an seine Ohren, die im Schatten der Festung hin und her huschten.
Auch Mr Drake hatte, wenig erfreut, die neue Gesellschaft bemerkt und schien zu versuchen, alles auf einmal mit seinen wachsamen Knopfaugen im Blick zu behalten.
Auf einer Landzunge vor ihnen stand eine kleine Gruppe von Leuten, um sie in Empfang zu nehmen. Der Ostindienfahrer und seine Besatzung waren eigentlich Beweis genug dafür gewesen, dass Jake sich in einem anderen Zeitalter befand, doch das mehr als ungewöhnliche Willkommenskomitee verscheuchte auch noch die letzten Zweifel.
Jake hatte schon oft Menschen in altertümlicher Kleidung gesehen, in Filmen beispielsweise oder auf Kostümfesten, aber sie hatten nie restlos überzeugend gewirkt, nie schienen sie wirklich einer anderen Ära anzugehören, immer hatten sie zu aufpoliert und künstlich ausgesehen. Doch das hier war etwas anderes: Diese Leute waren echt.
Jake erkannte Kleidung aus jeder Epoche, vom viktorianischen Zeitalter bis zu den Tagen Elisabeths I. und noch weiter zurück. Er sah einen Mann mittleren Alters – in einem leuchtend roten Frack mit einem ebensolchen Zylinder –, bei dem sich eine elegant aussehende Lady in einem unglaublich ausladenden, rüschenbesetzten Reifrock untergehakt hatte. Der Gentleman gleich neben ihnen trug ein schwarzes Wams, das strenge Gesicht von einer weißen Halskrause umrahmt.
Die beeindruckendste Erscheinung jedoch war eine groß gewachsene Frau, die an der Spitze der Gruppe stand. Sie hatte große, silbrig blaue Augen, das lange stahlgraue Haar von der stolzen Stirn nach hinten gekämmt. Jake schätzte, dass sie mindestens fünfzig sein musste, aber irgendwie hatte sie es geschafft, sich die feinen Gesichtszüge ihrer Jugend zu bewahren. Ein dunkelblauer Marine-Umhang hing über ihren straffen Schultern, und neben ihr stand vollkommen reglos ein großer Windhund mit seidig schimmerndem Fell und glänzenden Augen.
Ein sanftes Lächeln umspielte die Lippen in ihrem nachdenklichen Gesicht, während sie einen nach dem anderen die Neuankömmlinge musterte. Als Jake an der Reihe war, spürte er, wie ihn eine Art erwartungsvoller Nervosität überfiel.
»Die Dame ist eine uralte Freundin von mir«, sagte Rose und trat neben Jake und Topaz an die Reling. »Galliana Goethe. Sie ist die Chefin hier und Kommandantin der Geschichtshüter.«
Inzwischen wurde die Escape bereits am Pier vertäut und eine Laufplanke ausgelegt, damit die Passagiere von Bord gehen konnten.
»Verzeihung«, meinte Océane und drängelte sich nach vorn. »Ich muss schnellstmöglich aus diesen schrecklichen neumodischen Kleidern heraus und will rasch noch in die Kostümschneiderei.« Mit diesen Worten warf sie ihren Fuchsmantel über die Schulter und schritt eilig über die Planke.
Topaz folgte ihr, und die Stimme des Mannes im roten Frack dröhnte: »Da ist sie ja endlich! Da ist unser Mädchen!«
»Truman, brüll nicht immer so«, ermahnte seine Frau ihn sichtlich gereizt.
»Das sind die Wylders, Truman und Betty«, erläuterte Rose. »Sie sind Nathans Eltern und Topaz’ Vormunde. Truman ist ein genauso eingebildeter Gockel wie sein Sohn, aber sie ist absolut hinreißend. Natürlich kommen beide aus vollkommen verschiedenen Jahrhunderten.«
Jake beobachtete, wie Topaz das Paar mit einer Umarmung begrüßte.
»Wie geht es dir, Liebes?«, fragte Betty und schlang liebevoll die Arme um sie. »Hattest du eine gute Überfahrt?«
»Lass dich mal ansehen«, polterte Truman und packte Topaz an den Schultern. »Groß bist du geworden. Siehst du, wie sie gewachsen ist, Betty? Was für ein Lulatsch für eine Vierzehnjährige!«
»Fünfzehn.«
»Fünfzehn? Du bist doch noch keine fünfzehn! Ist sie schon fünfzehn?«
»Fast sechzehn.«
»Sieh mal einer an – wie doch die Zeit vergeht! Noch gar nicht lange her, da warst du erst sechs.«
Topaz und Betty rollten die Augen.
»Da fällt mir auf, wie still hier alles ist«, sagte Topaz und ließ den Blick über den Rest des Begrüßungskomitees schweifen. »Ist Seine Großmäuligkeit heute unpässlich?«
»Nathan ist zu einer Mission aufgebrochen, um seine neueste amour fou zu retten«, seufzte Betty kopfschüttelnd. »Bestimmt hat die Ärmste sich Hals über Kopf in ihn verliebt, ohne auch nur zu ahnen, dass er sie genauso fallen lassen wird wie alle anderen.«
Nun ging Rose über die Laufplanke, Jake hinter ihr her, und Gallianas Gesicht erstrahlte.
»Es ist eine schiere Ewigkeit her!«, sagte sie und umarmte Rose.
Aus der Nähe sah Jake, dass Gallianas Umhang mit den verschiedensten Motiven, mit Sonnen, Monden, Uhren und Phoenixen bestickt war.
»Es ist tatsächlich eine Ewigkeit her«, erwiderte Rose, »aber du siehst hinreißend aus wie immer!«
»Bist du sicher, dass du nicht abgerissen sagen wolltest?«, gab Galliana zurück. »Ich habe drei Tage kaum geschlafen und mit Sicherheit dicke Tränensäcke unter den Augen.«
»Und selbst wenn – deine hohen Wangenknochen verbergen sie perfekt.«
Galliana schmunzelte, und Jake sah die Lachfältchen um ihre funkelnden blauen Augen.
»Sag nicht, dass das immer noch Juno ist …«, meinte Rose mit einem Blick auf den Windhund.
»Das hier ist Junos Enkeltochter Olivia«, erklärte Galliana und fuhr mit der Hand durch das seidige Fell des Hundes. »Mit jeder Generation werden sie noch ein Stückchen klüger.« Dann wandte sie sich an Jake. »Und das hier muss dein Neffe Jake sein.«
Obwohl Jake sich irgendwie eingeschüchtert fühlte von dieser stattlichen Frau, hielt er ihr lächelnd die Hand hin und sagte mit fester Stimme: »Schön, Sie kennenzulernen.«
»Und was für gute Manieren«, erwiderte Galliana und schüttelte ihm die Hand. »Du dürftest eine Menge zu verdauen haben nach deiner ersten Reise. Und sei ganz unbesorgt, wir werden deine Eltern finden.« Da fiel Gallianas Blick auf etwas, das sich vom Meer her näherte, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Was in aller Welt …?«
Gemurmel erhob sich, als auch die anderen den Schwimmer erblickt hatten, der sich durch die Wellen auf den Kai zukämpfte. Lediglich Topaz wusste sofort, um wen es sich handelte, und schüttelte genervt den Kopf.
»Ahoi auch!«, rief Nathan mit einem breiten Grinsen und kletterte aus dem Wasser. Er musste über eine Stunde in voller Montur durchs Meer geschwommen sein, dennoch wirkte er, als wäre das für ihn die leichteste Übung der Welt. Er schüttelte lediglich sein langes Haar und warf einen kurzen Blick in den kleinen Spiegel, den er aus seiner Hosentasche gezogen hatte.
Mit staunendem Blick beobachtete Jake, wie Nathan den Pier entlangschlenderte. Es war verblüffend: Dieser Junge konnte höchstens zwei Jahre älter sein als er selbst, und dennoch strotzte er nur so vor Selbstvertrauen. Zugegeben, er hatte auch etwas Arrogantes an sich, aber überall, wo er auftauchte, dachte Jake, mussten die Leute von seiner positiven Ausstrahlung hingerissen sein.
»Bitte verzeiht mein Zuspätkommen«, verkündete Nathan mit lauter Stimme, »aber ich musste eine junge Maid vor einem Schicksal bewahren, das noch schlimmer gewesen wäre als selbst der Tod.«
Galliana schien ebenso wenig beeindruckt wie Topaz. »Darf ich Euch daran erinnern, Agent Wylder, dass in dieser Organisation kein Platz ist für persönlich motivierte Heldentaten, ganz egal wie verlockend die Belohnung auch sein mag? In Lebensgefahr begibt man sich, wenn es schon sein muss, ausschließlich aufgrund einer dienstlichen Verpflichtung. Habt Ihr mich verstanden?«
»Kristallklar«, erwiderte Nathan und sonnte sich in der Aufmerksamkeit. »Aber seid versichert, dass es bei der Angelegenheit nicht um persönliche Motive ging. Die betreffende Dame reagierte lediglich etwas … übereifrig. Wie so viele«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu.
»Mon Dieu!«, schnaubte Topaz verächtlich. »Die Bescheidenheit meines Bruders kennt ja keine Grenzen.«
Nathans Blick wanderte zu Topaz. »Du bist also in einem Stück zurück, ja?«, fragte er beiläufig.
»Sieht ganz so aus«, erwiderte Topaz schnippisch.
»Deine Haare sind … anders.«
»Offen.«
»Hübsch. Irgendwie weicher.«
Das war die ganze Begrüßung der Geschwister.
»Ich weiß, dass ihr alle müde sein müsst, aber Zeit ist von größter Bedeutung«, sagte Galliana an alle gewandt. »Wir treffen uns pünktlich um zehn Uhr im Prunksaal. Zu der Besprechung hat jeder von euch zu erscheinen.«
Dann begann die Versammlung sich aufzulösen.
»Agenten Wylder und St. Honoré …?«, rief Galliana zu Nathan und Topaz hinüber. »Würdet ihr Jake das Schloss zeigen und ihm erklären, was wir hier tun?«
»Jake?!«, rief Nathan aus. »Jake Djones?«, wiederholte er und klopfte ihm auf die Schulter. »Warum hat mir niemand gesagt, dass du hier bist? Mein Name ist Nathan Wylder. Wahrscheinlich hast du bereits viele Geschichten über mich gehört, und höchstwahrscheinlich sind auch alle davon wahr«, sprudelte er drauflos, um dann in ernsterem Tonfall weiterzusprechen: »Wir werden deine Eltern finden, und wenn es das Letzte ist, was wir tun!«
»Kommandantin«, unterbrach Topaz, »vielleicht sollte ich lieber allein mit Jake gehen. Wenn wir es zusammen versuchen, vermiese ich Nathan nur die Show.«
»Oh bitte«, widersprach Nathan, »niemals könntest du mir die Show vermiesen, und wenn du es auch noch so sehr versuchst.«
»Genug davon«, ging Galliana verärgert dazwischen. »Das gilt für euch beide. Ich wünsche, dass unser neuer Mitarbeiter ein vollständiges Bild bekommt. Und, Jake, finde dich mit den anderen um zehn Uhr im Prunksaal ein. Ich möchte, dass du dabei bist, damit du verstehst, was hier gerade im Gange ist.«
Jake nickte. Am liebsten hätte er Galliana sofort mit allen möglichen Fragen bestürmt, doch gleichzeitig spürte er, dass er damit wohl würde warten müssen. Außerdem hatte Topaz ihn bereits am Arm genommen und führte ihn zum Eingang des Schlosses.
Am Fuß des Berges befanden sich zwei große, mit dicken Eisennieten besetzte Torflügel, an deren Vorderseite ein mittlerweile wohlvertrautes Symbol eingraviert war: die Sanduhr mit den zwei Planeten. Doch dieses hier war weit feiner gearbeitet und detailreicher, und man konnte erkennen, dass es sich bei den beiden Planeten jeweils um die Erde handelte. Außerdem sah Jake, dass das Häuflein im unteren Kolben der Sanduhr exakt dieselbe Form wie Mont Saint-Michel hatte.
»Bereit?«, fragte Topaz.
Jake nickte. Er war mehr als bereit.
Topaz drückte die mächtige Klinke, und die Tür schwang mit einem hohlen Ächzen auf.