Kapitel 3

In Israel lebend, Deutschland im Sinn

Gerettet und sicher?

Gerettet waren nicht nur die Wolffsohns, sondern auch Thea und die Familie Saalheimer. Nach den dunklen Monaten in Deutschland kamen sie im März 1939 mit dem Schiff in Britisch-Palästina, in der Stadt Haifa, an.

Sonne! Freiheit! Und was für ein Blick – das Meer direkt vor ihnen! Die Gluthitze konnte ihnen nichts anhaben. Die Mädchen waren jung, endlich frei und im siebten Himmel.

Thea und ihre Familie waren Einwanderer de luxe: Sie wurden mit dem Auto abgeholt. Der Fahrer ihres Onkels Fredi, der schon Jahre zuvor nach Britisch-Palästina ausgewandert und dort Bankdirektor geworden war, brachte sie in ein Spitzenhotel auf dem Kamm des Karmelberges. (Übrigens und nebenbei: Wenn ihr in der Bibel lest, findet ihr eine spannende Geschichte über den Propheten Elias auf dem Karmelberg.)

Die Saalheimers waren also in Haifa angekommen. Tags darauf ging es nach Tel Aviv. Ihr Onkel Fredi war nicht nur ein reicher, sondern auch ein guter Mensch. Er nahm die Familie in seiner Vierzimmerwohnung in der Hajarkonstraße 99 auf. Das Haus mit schönster Architektur, direkt an der Strandpromenade, hatte ein deutscher Architekt gebaut. Auch er war Jude, auch er war vor Hitler geflohen. Das Schlafzimmer überließ Fredi Justus und Gretl.

Ankunft jüdischer Flüchtlinge am Strand von Tel Aviv, ca. 1939

Schon bald fanden die Saalheimers eine eigene Wohnung am Boulevard Chen 8, mitten in Tel Aviv: eine schöne Dreizimmer-Wohnung mit zwei Balkonen, großem Bad und einer wunderschönen Fassade. Das Haus war im sogenannten »Bauhaus-Stil« erbaut, dem modernsten Architekturstil seiner Zeit. Woher der Bauhaus-Stil stammte? Aus Deutschland. Dort war er von vielen Juden entwickelt worden. Nach ihrer Flucht bauten sie in ganz Tel Aviv schöne Häuser in diesem Stil.

Als Thea 1939 mit ihrer Familie dort ankam, war Tel Aviv ein verschlafenes Nest und die heutigen Riesenbäume auf dem Boulevard Chen waren nichts als kümmerliche Zwergpflanzen. »Diese mickrigen Streichhölzer werden nie wachsen«, verkündete Opa Justus. »Den ganzen langen, heißen Tag knallt die Sonne drauf, und Wasser gibt’s eh nicht.« Von Pflanzen verstand Justus so viel wie ich vom Seiltanzen, also weniger als nichts: Inzwischen ist der Boulevard Chen mit riesigen, Schatten spenden Bäumen bewachsen. Sie stehen in der Mitte zwischen zwei Fahrbahnen. Spielmöglichkeiten für Kinder gibt es zuhauf.

Tel Aviv ist heutzutage eine der lebendigsten Städte weltweit. Lebenslustig und eine »Stadt, die niemals schläft«. Gleich um die Ecke der Wohnung der Saalheimers steht die herrliche Konzerthalle der Israelischen Philharmoniker (die damals noch »Palästinensische Symphoniker« hießen), weitere zwanzig Schritte entfernt das Nationaltheater »Habima«.

Das zionistisch geprägte Jüdisch-Palästina war 1939 eine ganz und gar lockere Gesellschaft: Die Leute waren stolz darauf, als Bauern zu arbeiten, und auch diejenigen, die keine Bauern waren, kleideten sich lässig. Trotz der Wasserarmut duschten alle täglich, waren also immer picobello sauber. Verpönt war in der gewollt ein­fachen jüdischen Gesellschaft von Britisch-Palästina jede Art von bürgerlich-festlicher Abendgarderobe. Tel Aviv war anders. Die Stadt gehörte mit ihrem Bauhaus-Stil zu den Pionieren moderner Architektur und hier konnten die Leute zumindest manchmal festlich gekleidet sein, wie sie es aus Deutschland kannten.

Ein Haus im typischen Bauhaus-Stil: Tel Aviv, Nathan-Strauß-Straße 8. Hier wohnten Karl und Recha Wolffsohn von 1939 bis 1949 sowie Max, Thea und Michael 19501951

Bald nach ihrer Ankunft führte Onkel Fredi Thea und ihre Schwestern in ein Konzert der Palästinensischen Symphoniker. Arturo Toscanini, einer der berühmtesten Dirigenten der damaligen Zeit, stand am Pult. Endlich konnten die Mädchen Musik hören und ihre schicksten Kleider anziehen! Sie fühlten sich wie im Paradies. Endlich Musik, endlich Frieden, endlich Sicherheit!

Doch schon bald war Schluss mit der vermeintlichen Sicherheit. Bums. Bums. Bums. Kaum waren Opa Justus und seine vier Frauen in die Tel Aviver Wohnung eingezogen, da knallte es. Ein Geschoss nach dem anderen schlug gegen die Fassade des schönen Hauses Boulevard Chen 8.

Im Frühjahr 1939 herrschte nämlich Bürgerkrieg in Britisch-Palästina. Die arabischen Palästinenser wollten Juden und Briten aus Palästina rausbombardieren. Sie meinten damals – und manche meinen es noch heute –, das Land gehöre nur ihnen und nicht den Juden. Die Juden sahen und sehen das genau anders. Sie sagen: »Nur hier, in dem Land, aus dem unsere Vorfahren ursprünglich kommen und aus dem wir vor über 2000 Jahren vertrieben wurden, können wir frei und sicher leben und selbst über unser Leben bestimmen. Wir haben nichts dagegen, dass hier auch Palästinenser leben, aber mit uns und nicht gegen uns. Wir lassen uns nicht wegbomben. Und ins Mittelmeer lassen wir uns ganz bestimmt nicht schmeißen.«

Das kann und konnte man damals erst recht verstehen, denn seit Beginn des Kriegs verfolgten Hitler und die Nazis die Juden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und darüber hinaus. Britisch-Palästina war für die Juden die einzige Hoffnung auf ein sicheres Leben.

Doch auch in Britisch-Palästina wurden Juden beschossen, nur weil sie Juden waren. Zahlreiche Nachbarhäuser der Saalheimers wurden getroffen und einige Menschen starben dabei. Abgefeuert wurden diese Geschosse allerdings nicht etwa von Palästinensern, sondern von Deutschen! Deutsche, die sich »Templer« nannten und schon lange in Palästina lebten. Ihre Vorfahren waren ungefähr hundert Jahre vorher nach Palästina eingewandert und hatten dort Siedlungen gebaut. Die Templer waren ursprünglich fromme Christen, die in dem Land leben wollten, wo zweitausend Jahre zuvor Jesus Christus gewirkt hatte und gekreuzigt worden war. Jesus in Palästina? Ja, natürlich, denn Jesus, ihr erinnert euch, ist als Jude in Judäa geboren und gekreuzigt worden. Die Templer waren also deutsche Christen und Sarona, eine ihrer Siedlungen, lag in unmittelbarer Nähe der Saalheimer-Wohnung am Boulevard Chen. Von dort schossen die in der Hitler-Zeit alles andere als frommen Templer wahllos auf Juden. Viele Templer waren nämlich fern der deutschen Heimat richtige Nazis geworden: Sie verehrten den »Führer« Hitler wie einen Gott und waren, wie es sich für Nazis »gehörte«, Judenfeinde.

Auch die Palästinenser waren gegen die Juden, wenngleich, wie ich euch erklärte, aus ganz anderen Gründen.

So schlossen sich Templer und Palästinenser zusammen: Beide Gruppen wollten nicht nur die Briten ver­jagen, sondern auch die Juden. Deshalb ist es zwar traurig, aber nicht wirklich verwunderlich, dass Hitler sowohl den Templern als auch den Palästinensern Geld und Waffen für ihren Kampf gegen die jüdischen Einwanderer und die britischen Besatzer lieferte.

Natürlich zitterten bei jedem Geschoss-Einschlag nicht nur die Saalheimers, sondern alle Juden in Tel Aviv und ganz Palästina, ob jung oder alt. Natürlich fragten sie sich, genau wie Thea ihren Vater: »War es richtig, dass wir aus Deutschland hierhin geflohen sind? Hier werden wir ja schon wieder bekämpft!«

»Was für eine dumme Frage«, empörte sich Papa Justus. »Hier werden wir nicht wehrlos geschlachtet, hier können wir uns wehren. Zwar nicht du, die Mutti oder ich, aber die jüdischen Kämpfer. Durch ihre Gegenwehr verhindern sie, dass wir Juden abgeschlachtet werden. Je stärker wir sind, desto mehr schrecken wir unsere Angreifer ab. Irgendwann werden sie einsehen, dass der Kampf gegen uns nichts bringt.«

Zum Glück für Thea und ihre Familie verloren Palästinenser und Templer ihren Kampf und dadurch verloren auch die Templer ihre Siedlungen, allen voran das hübsche Sarona. Wenn ihr heute in Tel Aviv seid und den Stadtteil Sarona besucht, werdet ihr in den einstigen Templer­häusern wunderschöne Geschäfte und kleine, schicke Restaurants – richtige »Fresstempel« – finden. Sogar einen »Tempel«, wo man bayerische Weißwürste mit süßem Senf bekommt.

Wie sehr die Palästinenser damals von den Nazis unterstützt wurden, zeigt übrigens das Schicksal ihres Anführers. Der hieß Mohammed Amin al-Husseini. Nachdem der Palästinenser-Aufstand 1939 niedergeschlagen war, floh er nach Berlin, wo er von Hitler ehrenvoll empfangen wurde. Während des Zweiten Weltkriegs blieb er dort und versuchte, musli­mische Soldaten für die Deutsche Armee anzuwerben. Es half weder Hitler noch al-Husseini: Am Ende verloren Hitler und mit ihm all seine Anhänger den Zweiten Weltkrieg.

Hitler empfängt den Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, Berlin, 28. November 1941 – am Anfang des Holocaust

Glücklich?

Wie die meisten Juden, denen die Flucht aus Hitlers Reich gelang, war Thea trotz der Kämpfe zwischen Palästinensern, Briten, Templern und Juden zunächst überglücklich, Nazi-Deutschland entkommen zu sein.

»Ich bin so froh, am Leben zu sein und keine Angst mehr haben zu müssen!«, dachte sie oft. Doch nicht nur die Feindseligkeit von Templern und Palästinensern den jüdischen Emigranten gegenüber machte ihr Angst. Auch die Gedanken an Deutschland ließen sie nicht los. In Momenten, wenn ihr altes Leben ihr besonders fehlte, erkannte sie: »Wir sind noch einmal davongekommen. Wir konnten Hitler und seinen Mit-Mördern entkommen. Doch Davon­kommen und Glücklichsein sind nicht das Gleiche.«

Wie Thea erging es den meisten Neueinwanderern der 1930er- und 40er-Jahre. Sie kamen aus vielen Ländern Europas, vor allem aus Polen, Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei. Sie hatten in Europa alles verloren und mussten jetzt für wenig Geld viel und lange arbeiten – oft in Berufen, die nichts mit dem zu tun hatten, was sie eigentlich gelernt hatten. Sie lebten in einem Land mit e­iner fremden Sprache, die die meisten von ihnen nie gelernt hatten, und in einem heißen Klima, das sich deutlich von dem unterschied, das sie aus ihrer Heimat kannten.

Das neue Land – Der Jecke mit dem Propeller

Israel liegt am Mittelmeer. Mittelmeer, Sonne, Hitze, das gehört zusammen. Deutsche Kinder wissen es »und Erwachsene ebenso«, denn sie fahren oft und gerne ans Mittelmeer. Italien oder Spanien, Frankreich, Kroatien, Griechenland oder die Türkei: allesamt heiße Länder im Sommer. Vor dem Klimawandel schien in Deutschland die Sonne eher selten, daher die häufigen Urlaubsreisen ans Mittelmeer. Doch Thea, Justus und die anderen Saalheimers zogen damals, im März 1939, nicht der Sonne wegen nach Israel, sondern wegen Hitler. Nein, sie zogen nicht dorthin, sie flohen. In dieser alt-neuen jüdischen Heimat hofften sie und viele andere Juden, in Freiheit und Sicherheit leben zu können. Hier mussten sie sich nun ein völlig neues Leben aufbauen.

Theas mittlere Schwester Edith hatte mit dem neuen Land die wenigsten Probleme. Sie wollte aller Welt zeigen, dass sie nun eine neue Heimat hatte: Sie nannte sich fortan »Judith«. Edith war ein deutscher Name, der erinnerte sie an den verhassten Adolf Hitler. Judith hingegen ist ein hebräischer Name, er entstammte also der Sprache der alten und neuen jüdischen Heimat. Mit diesem Vornamen verbinden Juden und Christen die Geschichte der Judith aus der christlichen Fassung des Alten Testaments: Judith, das Idealbild einer schönen Frau, gaukelt dem assyrischen Feldherrn Holofernes vor, eine Liebesnacht mit ihm verbringen zu wollen. Tatsächlich enthauptet sie ihn als Strafe dafür, dass er das Land der Juden zuvor bekämpft und verwüstet hat. Eine Heldin also, kraftvoll, entschlossen und bildschön.

All das war meine spätere Tante nicht. Der selbst gewählte Vorname entsprach mehr ihren Wünschen als der Wirklichkeit: Von allen drei Saalheimer-Töchtern hatte sie im Leben am wenigsten Glück, zumal sie als Mitvierzigerin ihren Mann verlor und mit wenig Geld ihre beiden noch jungen Kinder großzog. Ihr Sohn Joram wurde in Israel ein berühmter und einflussreicher Anwalt. Zeitweilig war er sogar Chef des israelischen Minister­präsidentenamtes. Rührend kümmerte er sich bis zu ihrem letzten Tag im Jahre 2020 um seine Mutter.

Theas jüngste Schwester, Ruth, war als Einzige noch schulpflichtig. Nun heißt es oft, die Juden seien besonders gelehrt, sie seien das »Volk des Buches«. Ich verrate euch ein Geheimnis: Das ist, wie jede verallgemeinernde Aussage, Quatsch mit Soße. Es gibt nicht »die« Juden oder »die« Deutschen oder »die« Amerikaner und so weiter. Jeder einzelne Mensch ist er oder sie selbst. Zwar legen viele Juden Wert auf Bildung, aber natürlich gibt es auch unter Juden Leute, die sich nicht für Bücher interessieren. Das ist nicht anders als bei den nichtjüdischen Deutschen, obwohl, ebenfalls Quatsch mit Soße, gern gesagt wird, »die« Deutschen wären das »Volk der Dichter und Denker«. Ich bin sicher, auch ihr kennt zuhauf Deutsche, die weder dichten noch denken können.

Meine Tante Ruth interessierte sich für Bücher und Schule jedenfalls nicht die Bohne. Kein Wunder, dass ihre Schul­noten keine Begeisterungsstürme auslösten. Das war schon in Deutschland so gewesen, noch mehr aber in Tel Aviv, wo sie die Landessprache, Hebräisch, erst lernen musste.

Ruth selbst kümmerte das allerdings wenig. Eines Tages wurden wieder einmal Schulzeugnisse vergeben. Ruth kam gut gelaunt nach Hause.

»Na, Ruthchen«, begrüßte sie Opa Justus. »Wie ist dein Zeugnis? Zeig’s mal.«

Mit dem freundlichsten Lächeln der Welt antwortete Ruth: »Ach, Vati, damit’s dich nicht ärgert, hab ich es in den Yarkon-Fluss geworfen.«

Sicherlich gern weiter zur Schule gegangen wäre die damals siebzehnjährige Thea, die in Deutschland noch das Gymnasium besucht hatte. An Schule war für Thea seit dem 9. November 1938 aber nicht mehr zu denken. Schon gar nicht in Britisch-Palästina. Alle mussten ran, um Geld fürs Überleben zu verdienen, auch Thea.

Was aber machte Thea, um den Lebensunterhalt der Familie mitzuverdienen? Nun, sie schleppte gemeinsam mit ihrem Vater Pakete zur Tel Aviver Post. In der Hitze des Tel Aviver Sommers, beladen mit schweren Paketen, dachten weder Opa Justus noch Thea an die Schule oder an Schulzeugnisse. Wehmütig dachten sie an das Auto, das Justus in Bamberg gehabt hatte. Für ein Auto reichte in Tel Aviv das Geld nicht. Also zu Fuß zur Post. Noch ein Schritt und noch einer und noch einer. Die Sonne knallte und der Schweiß lief und lief und lief. Auch bei Thea, obwohl sie, anders als ihr Papa, locker gekleidet war: Rock und kurzärmelige Bluse. Bei Opa Justus lief der Schweiß noch mehr als bei den meisten Männern, denn trotz der Hitze trug er wie viele aus Deutschland geflohene Männer über seinem gebügelten weißen Hemd ein Jackett. Wegen der Jacketts, die sie trotz der israelischen Hitze trugen, nannte man in Britisch-Palästina die Juden aus Deutschland »Jeckes«. Die Nicht-Jeckes liefen ohne Jacken rum, in kurzen Hosen, meist aus Khaki, kurzen Khaki-Hemden und mit offenem Hemdkragen. Anders Opa Justus: Sein Hemdkragen war hochgeschlossen, ihm war also heißer als heiß. Noch bullenheißer wurde ihm durch seine Fliege, die wie angeklebt am obersten Hemdknopf saß. Wisst ihr, was eine Fliege ist? Das Ding heißt »Fliege«, sieht aber eher wie ein Schmetterling oder ein Propeller aus. Statt einer Krawatte trugen deutsche Männer früher gerne Fliegen. Im ofenheißen Israel kam kein Mann auf so eine Schnapsidee – außer wenn der Mann, wie Opa Justus, aus Deutschland stammte.

»Ja’allllla, oller Jecke«, rief der Postbeamte, als Opa Justus näher trat, um die Pakete abzugeben. »Ich verstehe, dir ist in unserer jüdischen Hitze eiskalt, und deshalb trägst du ein Jackett? Und die Fliege ist dein Propeller, und der Propeller gehört zum Flugzeug, mit dem du sicher zu Onkel Adolf Hitler nach Deutschland zurückfliegen willst, weil hier bei uns das Leben so hart ist. Oder ist schon Purim?«

Purim, das ist der jüdische Karneval. Oh ja, zu den deutschen Juden war man auch in Israel nicht immer nett. Mit einem entscheidenden Unterschied zu Hitlers Nazi-Deutschland: Zwar hat man über sie gelacht, aber keiner hat sie bespuckt, geschlagen, beraubt oder er­mordet.

Was steckte in den Paketen, die Opa Justus und Thea zur Tel Aviver Post schleppten? Darin war Damenkleidung, die Frauen bei ihm bestellt hatten. Wie einst in Bamberg verkaufte Opa Justus nämlich Damenoberbekleidung und Thea half ihm dabei. Weil fast alle Leute in Britisch-Palästina damals bitterarm waren und sich keine teure Kleidung leisten konnten, waren die meisten Kleidungsstücke schlicht und billig. Genäht wurden sie von Frauen, die wie Justus’ Familie vor Hitlers Nazis aus Deutschland geflohen waren. Die wenigsten von ihnen hatten Schneidern gelernt. Um ihr Leben bezahlen zu können – zum Beispiel die Miete für ihre Wohnung, ihr Essen und Trinken –, nähten sie jetzt Kleider. Billige Arbeitskleidung für die jüdischen Einwanderer, teure und gute Kleider für reiche Araber.

Eine der Frauen, die für Justus nähten, war Frau Goldberg. »Die mit dem Silberblick«, wie Thea sie scherzhaft nannte, kannten die Saalheimers noch aus Bamberg. Dort war sie als Fachärztin für Darmkrankheiten bekannt gewesen. Damals war eine Frau als Ärztin eine Seltenheit – in Deutschland, in Israel, überall. Das ist heute erfreu­licherweise anders.

Eine andere Dame, die für Opa Justus nähte, war Frau Kohn, die mit ihrem Mann aus Nazi-Deutschland nach Israel geflohen war. Sie war in Bamberg eine sehr er­folgreiche und hilfsbereite Rechtsanwältin gewesen. Von armen Leuten, Juden wie Nichtjuden, hatte sie kein Geld genommen. »Ich verdiene bei anderen genug, Ihnen helfe ich so«, pflegte sie ihre Großzügigkeit zu erklären. Ihr Mann war ein in ganz Deutschland berühmter Journalist. Bei Leuten, die krumme Geschäfte machten, war Herr Kohn gefürchtet. Er untersuchte, was das für krumme Dinger waren, die diese Leute drehten, und berichtete darüber in seiner Zeitung. Betrüger hassten Herrn Kohn, bei ehrlichen Leuten war er beliebt. Zu denen, die ihn hassten, gehörten die Nazis, denn er hatte auch deren Lügen und Betrügereien aufgedeckt.

Fremde Sprache, fremdes Land I –
Thea und der Busbahnhof

Um im neuen Land Fuß zu fassen, mussten Thea und ihre Eltern rund um die Uhr arbeiten. Da blieb kaum Zeit, um Hebräisch zu lernen, die Landessprache der jüdischen Palästina-Gemeinschaft. Das führte bisweilen zu lustigen Missverständnissen, die ihnen aber auch immer wieder vorführten, dass sie in der neuen Heimat noch Fremde waren.

Einmal suchte Thea den Busbahnhof von Tel Aviv. Sie wandte sich Hilfe suchend an eine junge Frau, die auf dem Bürgersteig neben ihr stand. Sie war etwa so alt wie Thea und sah aus, wie Thea sich eine Alteingesessene vorstellte, die nicht nur Hebräisch spricht, sondern auch Deutsch versteht. Thea, kurz entschlossen: »Hallo, Frau, ääääh giweret, hallo und schalom, äääh, ani möchte la äääh Bahnhof«.

»Ma at rotza?«

»Wie, was? Rotza? Rotze? Quatsch, ääää schtujot. Ich suche den Bahnhof.«

Doch die fremde Frau, die einfach nur »Was willst du?« gefragt hatte, verstand nur Bahnhof und lief weiter.

Zweiter Versuch. Der junge Mann, den Thea ansprach, antwortete schnippisch: »Popolska«. Er war Pole. Der Rest kümmerte ihn nicht.

Versuch Nummer drei: »Ja gawarisch pa russki«, antwortete die russischstämmige nette ältere Dame. Helfen konnte auch sie nicht.

Beim vierten Versuch klappte es. »Ach so, Meeedchen, du willst zum Bahnhof. Na, denn jehste fuffzig Meter gradeaus, denn rechts, erste links, dritte rechts. Kapiert, Fräuleinchen?«

Glück gehabt: endlich jemand, den Thea verstand!

Was Wunder, dass sich in der jüdischen Gemeinschaft von Britisch-Palästina schnell Landsmannschaften bildeten! Landsmannschaften, das waren Gruppen der jeweils selben Herkunftsnation oder -region. Ebenfalls kein Wunder: Im »Hauptquartier« der deutschjüdischen Gemeinschaft Tel Avivs begegneten sich sehr bald meine Eltern, Thea und Max. Wie kam es, dass aus der flüchtigen Begegnung der beiden Flüchtlinge mehr wurde? Noch wird’s nicht verraten. Wir schauen mal vorher, wie es Opa Karl und Sabta Recha in Tel Aviv erging.

Fremde Sprache, fremdes Land II – Opa Karl:
Gartenschlauch-Spritze und Gurkenwerfen

»Ruhe, scheeeeket! Ruhe, scheeeeeket, Klappe halten!«, rief mein Opa Karl nun schon mehrfach seit einer Stunde an jenem brütend heißen Tel Aviver Nachmittag. Er wollte seine Zeitung lesen. Es half nichts. Die Schreihälse und (ja, auch Frauen waren dabei) Schreihälsinnen schrien weiter. Weil alles nichts half, ging Opa Karl vom Wort zur Tat über: Kurz entschlossen griff er den Gartenschlauch, rief meiner Sabta Recha zu: »Muckchen, dreh bitte das Wasser auf«, und spritzte volle Pulle ins gegenüberliegende Erd­geschoss des Nachbarhauses, in dem sich eine Schule befand.

Ja, Opa Karl hatte »bitte« zu Muckchen gesagt. Das war im damals flapsigen jüdischen Britisch-Palästina eher unüblich. Gutes Benehmen galt als Zeitverschwendung. Dafür hatten die fast rund um die Uhr schuftenden jüdischen Pioniere in Britisch-Palästina keine Zeit, denn wo vorher fast nichts außer Strand, Wüstensand oder steiniger Boden gewesen war, bauten sie neue Städte wie Tel Aviv und machten das Land fruchtbar. Vor mehr als hundert Jahren hatten sie mit der Zucht der köst­lichen Jaffa-Orangen, -Grapefruit und -Clementinen begonnen. (Heute kennt und mag fast jeder diese Früchte. Sie schmecken saugut.) »Danke« oder »bitte« sagen, gutes Benehmen oder ordentliche, fleckenlose, gebügelte Kleidung war den zionistischen Pionieren egal. Gutes Benehmen, sagten sie, sei nur etwas für »Feine Pinkel«. Meine lieben Enkel nennen auch mich einen Feinen Pinkel. Und ganz unrecht haben sie nicht, denn ich werde ganz fuchsig, wenn jemand beim Essen schmatzt, schlürft, mit Messer und Gabel fuchtelt oder gar rülpst und pupst.

Zurück zu Opa Karl, der die Schreihälse des Nach­barhauses bespritzte, um endlich in Ruhe Zeitung lesen zu können. Pschschsch, strömte das Wasser aus dem Schlauch. Patschnass wurden alle Schreihälse. In der Tel Aviver Bullenhitze hatte niemand was gegen Abkühlung. Aber so nun doch nicht! Die Männer und Frauen, die sich im Erdgeschoss der Schule versammelt hatten, allesamt Lehrer, hatten trotz Opa Karls »Scheeeeket«-Rufen unverdrossen und immer lauter weitergeschrien. Jeder wollte den anderen niederbrüllen, denn jeder meinte, dass die Meinung des anderen nur dummes Zeug sei, weshalb man ihn oder sie besser überschreie als hinhöre. Jetzt aber machten sie sich gemeinsam über Opa Karl lustig: »Haha, der alte Jecke, nicht einmal Hebräisch kann der alte Knacker. Ruhe heißt auf Hebräisch ›schecket‹ und nicht ›scheeeeket‹.«

Auch in Deutschland gab (und gibt es) Schreihälse, aber irgendwie – warum, konnte Opa Karl nicht genau sagen –, irgendwie waren Geschrei und Krach hier in Tel Aviv anders als in Deutschland. Wahrscheinlich lag es daran, dass Opa Karl kein Wort verstand, und was man nicht versteht, ärgert einen. Denn, unter uns gesagt, die jüdischen Schreihälse, der Mosche und der Jankel und die Sarah in Tel Aviv, waren zwar unfreundlich, aber völlig harmlos. Ganz anders die Nazi-Schreihälse in Hitlers Nazi-Deutschland: Die waren für jeden Juden lebens­gefährlich.

Fremde Sprache, fremdes Land III – Sabta Recha

Noch viel feiner als mein Opa Karl war meine Sabta Recha. Es konnte in Tel Aviv noch so heiß sein – und in Tel Aviv ist es besonders im Sommer immer bullenheiß –, Sabta schritt hochelegant im schwarzen Kostüm, mit weißer Bluse und großem, rundem Hut durch die Stadt – selbst durch den Tel Aviver Karmel-Markt »Shuk Hak­armel«. Die Marktverkäufer lachten sich kringelig: »Schaut mal, die alte Schachtel, die läuft hier in dieser irren Hitze im Kostüm mit Hut rum, nicht mit kurzer Khaki-Hose und kurzärmeligem Khaki-Hemd wie wir anderen. Die denkt wohl, es wäre Purim.«

Da war er wieder, der Verweis auf Purim, den Opa Justus auch schon zu hören bekommen hatte. Was Purim ist, wollt ihr wissen? Purim ist der jüdische Karneval. Wie um fast jedes jüdische Fest rankt sich um Purim eine biblische Geschichte. Meistens schildern diese Geschichten, wo und wie Juden verfolgt und getötet wurden oder getötet werden sollten. Die Geschichte zu Purim findet ihr im Bibel-Buch »Esther«. Wie dort erzählt wird, fand sie vor langer Zeit statt: vor etwa 2500 Jahren im Reich der Perser, dem heutigen Iran. Persien war damals die stärkste Weltmacht. Ihr wundert euch vielleicht: Feiern die Juden etwa ein Fest, weil sie getötet werden sollten? Sind die irre? Sind sie nicht. Sie feiern, weil diejenigen, die sie töten wollten, rechtzeitig entmachtet und bestraft wurden. Der Haupt-Schurke, der die Juden Persiens töten wollte, hieß Hamann. H wie Hamann oder H wie Hitler. Und weil die Juden Persiens befreit wurden, feiern die Juden seit mehr als 2500 Jahren fröhlich und ausgelassen das Purim-Fest, den jüdischen Karneval, und wie beim Karneval verkleiden sie sich an Purim.

Der Karmel-Markt »Shuk Hakarmel« in Tel Aviv

Dass Recha sich mit ihrer eleganten Kleidung auf dem Markt zum Gespött der Leute machte, traf sie so schwer, dass sie den Markt in Zukunft mied und lieber ihren Sohn Max dorthin schickte.

Noch härter traf es sie aber, dass sich auch die Mitschüler ihres älteren Sohns Willi auf der Landwirtschaftsschule über sie kringelig lachten, als sie ihn einmal besuchte. Wie aus dem Ei gepellt war sie gekleidet, die feine, elegante Dame mit Hut.

»Dieser Huuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuut!« – die künftigen Bauern in ihren Khaki-Klamotten konnten sich gar nicht mehr beruhigen. Willi schämte sich für seinen Mutter, und die war nun erst recht stinksauer.

Kaiser Wilhelm II. mit Theodor Herzl 1897 an der Land­wirtschaftsschule, die später Willi Wolffsohn besuchte

 

Beide hatten recht, jeder auf seine Weise. Willi wollte ganz Bauer sein, Sabta eine gute Mutter, die ihren Sohn besucht. Die wohlgemeinte Absicht scheiterte daran, dass Sabta mit ihrem Körper in Britisch-Palästina war, mit Kopf und Herz aber in Deutschland. Im Deutschland, das sie von früher kannte, nicht in Hitler- Deutschland. Doch das Deutschland, in dem sie in ihrem Geiste lebte, war damals mausetot und tötete, nein, mordete Millionen Menschen, vor allem Juden.

Wie stark Sabta Rechas Heimweh und das Gefühl, in der Fremde gelandet zu sein, waren, zeigte sich auch bei einer anderen Gelegenheit: als nämlich sie, die sonst so feine Dame, ihrem Sohn Max Gurken ins Gesicht warf. Obwohl mein Vater Max schon früher als seine Eltern nach Britisch-Palästina gekommen war, sprach er nur unwesentlich besser Hebräisch als seine Eltern und Schwieger­eltern. Doch nach ihrer vermeintlichen Purim-Maskerade auf dem Karmel-Markt hatte Sabta Recha keine Lust mehr, dort einzukaufen. Folglich schickte sie meinen Vater. Er sollte schöne Gurken mitbringen. Und in der Tat: Er brachte Gurken mit. Doch was geschah? Sabta Recha warf die Gurken Max ins Gesicht. »Das sollen schöne Gurken sein?«, schrie sie verzweifelt und weinte bitterlich.

Ihr werdet mir zustimmen, wenn ich behaupte: Selbst wenn die Gurken alt und krumm waren, ist das kein Grund, um den eigenen Sohn mit Gurken zu beschießen und bitterlich zu weinen. Ihr habt recht. Recha weinte nicht wegen der Gurken. Sie weinte vor Heimweh – weil sie und so viele andere Juden aus Hitler-Deutschland vertrieben worden waren. Aus Deutschland, das vor Hitler und den Nazis ihre Heimat gewesen war. Der Ort, an dem sie sich wohlfühlten, wo sie Freunde hatten, zur Schule oder zur Arbeit gegangen waren, wo sie die Sprache perfekt beherrschten und viel Geld zum Leben gehabt hatten. In Berlin hatten die Wolffsohns wie Könige gelebt. Und jetzt? Hier in Tel Aviv? In einer win­zigen Zweizimmerwohnung hausten sie. Die teilten sie sich mit einem anderen aus Hitler-Deutschland geflohenen Ehepaar. Zwei Zimmer, zwei Paare, ein Badezimmer und Klo. Das war alles andere als schön oder lustig. Hier und jetzt, in Israel, waren sie, wie damals alle, bitterarm.

Recha weinte auch, weil sie im Grunde ihres Herzens fühlte und sich mit ihrem Verstand sagte: »Eigentlich sollte ich dankbar und glücklich sein, denn ich lebe, mein Mann lebt, meine Söhne Willi-Seew und Max leben. Millionen anderer Juden leben nicht mehr. Hitler und seine Mit-Nazis haben sie ermordet. Ich müsste also eigentlich glücklich sein, und doch bin ich es nicht.«

Fremde Sprache, fremdes Land IV –
Opa Justus und Oma Gretl

Wie die Wolffsohns und fast alle anderen Jeckes kannten auch Opa Justus und Oma Gretl außer »Schalom« kaum ein hebräisches Wort. »Schalom« heißt Frieden. Den wünscht man sich auf Hebräisch bei Begrüßungen und beim Verabschieden statt wie bei uns in Deutschland »Guten Tag« oder »Auf Wiedersehen«. Und, ja, meine Großeltern waren Deutsche, das merkten sie im fremden, jüdisch-zionistischen Britisch-Palästina jeden Tag.

Das unbeschreiblich miserable Hebräisch meiner Großeltern mütterlicherseits will ich euch kurz (ins Deutsche übersetzt) beschreiben. Ich war etwa elf Jahre alt, fuhr mit Opa Justus Taxi und saß auf seinem Schoß. Der Fahrer wollte für zwei Personen kassieren.

Opa Justus widersprach: »Ich zahle nur einen Platz. Mein Enkel sitzt auf meinem Tisch.«

Erstaunt fragte der Fahrer nach Opas mitgebrachtem Tisch. »Tisch, Tisch«, wiederholte Opa Justus und zeigte auf mich, der auf seinem Schoß saß. Am Ende bezahlte Opa für zwei Personen. So viel Hebräisch verstand er schließlich doch.

Kein Wort Hebräisch, nur Deutsch, genauer: fränkischer Dialekt, wurde in Opas wöchentlicher Skatrunde gesprochen. Statt wie einst in Bamberg im »Weinhaus Messer­schmitt« trafen sich die befreundeten Männer im Café Dalia an der Strandpromenade von Tel Aviv. Anders als im nördlichen Bamberg schien im südlichen Tel Aviv fast immer die Sonne. Aber sonnig war das Gemüt der Männer trotzdem nicht. Sie hatten Heimweh nach Deutschland, nach Bamberg. Doch sie wussten: »Wären wir in Bamberg, in Hitlers Deutschland, wäre unser aller Leben in Gefahr. Nur weil wir Juden sind. Da sind wir besser hier.«

Badevergnügen in Tel Aviv, ca. 1940

Oma Gretl spielte nicht Skat, sondern, ebenfalls jede Woche einmal, Bridge. Kaffeekränzchen, Damenkränzchen. Alles feine Damen, picobello und fein gekleidet. Keine Khakihosen oder -hemden, alle in Rock und Bluse. Wüsste man nicht, dass die Damen in Tel Aviv Bridge spielten, hätte man denken können, sie säßen in einem schönen deutschen Kaffeehaus. Auch sie lebten mit ihrem Körper in Israel und mit ihrem Kopf und Herzen in Deutschland. In Deutschland, nicht in Hitler-Deutschland, denn in Hitler-Deutschland hätten sie sich niemals so friedlich und ungefährdet treffen können.

Sprachen Oma Gretl und ihre Tel Aviver Freundinnen Hebräisch? Aber nein.

Hier eine Kostprobe von Oma Gretls Hebräisch. Ihre Putzfrau namens Alisa war zwar auch Jüdin, aber sie stammte aus dem Jemen, einem arabischen Land. Alisas Hebräisch war ungefähr so perfekt wie das meiner Oma Gretl. Schade, dass Oma kein Arabisch konnte und Alisa kein Deutsch! Die beiden Frauen hätten sich leichter verstanden.

Oma Gretl war zwar eine deutlich weniger feine Dame als Sabta Recha. Wenn es aber um die Sauberkeit des heimischen Fußbodens ging, war auch Oma Gretl eine Feine Pinkeline. Flüchtig hatte Alisa mit dem Scheuertuch den Boden gewischt. Larifari, wischwaschi hatte sie gewischt, aber nicht geputzt. Ich übersetze den Wortwechsel Oma – Alisa gleich ins Deutsche. »Du musst fürs Wischen Spucke auf dem Boden haben und damit putzen«, sagte Oma.

»Ah«, sagte Alisa, »Suppe nehmen«, goss die Rinderbrühe auf den Boden und wischte.

Thea und Max

Glück im Unglück: Wegen Hitler waren Thea und Max aus Deutschland nach Britisch-Palästina geflohen. Und wegen ihm lernten sie sich in Tel Aviv kennen und lieben. In Deutschland wären sie sich wohl nie begegnet, denn Thea wuchs in Bamberg auf, Max in Berlin, und als sie 1938 nach Berlin zog, war er schon in Halle. 57 Jahre waren Ima Thea und Aba Max verheiratet. Glückskinder, bis dass der Tod sie schied.

Ende 1938 war Max aus Hitlers Deutschland nach Britisch-Palästina geflohen. Doch wer hatte dort auf einen Fotografen gewartet? Niemand. Geld hatte Max nicht, Leben und Geldverdienen musste er. Wählerisch sein konnte er nicht, denn auch andere Neueinwanderer suchten Arbeit. War sie zu finden? Kaum, denn die Wirtschaft in Britisch-Palästina kränkelte, wie damals die Wirtschaft weltweit. Was tun? Max jobbte wie viele andere bestens ausgebildete deutschjüdische Flüchtlinge. Hier betätigte sich der Herr Professor Doktor Soundso aus München als Putzmann, dort der Herr Doktor med. aus Berlin als Koch. Für die Frauen gab es noch weniger Arbeitsplätze. Damals wurde von Juden wie Nichtjuden erwartet, dass die Frau an Heim und Herd und bei den Kindern zu bleiben und den Herrn Gemahl liebevoll zu bewundern habe.

Max Wolffsohn in Tel Aviv, 1939

Max musste von Job zu Job hopsen. Mal arbeitete er als Platzanweiser im Kino, mal als Diamantenschleifer, was für die Lungen höchst gesundheitsschädlich war. Schließlich wurde er Verwalter des Materiallagers einer britischen Militärbasis in der Nähe von Tel Aviv.

Max suchte nicht nur eine gute Arbeit, er suchte auch eine Frau, die eine gute Partnerin und zugleich selbstbewusst genug sein sollte, um sich gegenüber den starken Wolffsohn-Männern Karl und Willi/Seew zu behaupten. Max fand das Glück seines Lebens: die willensstarke, tatendurstige, kluge und schöne Thea.

Thea Saalheimer in Tel Aviv, ca. 1940

Wo in Tel Aviv haben sich Thea und Max kennen­gelernt, bevor sie meine Ima und mein Aba wurden? Da, wo sich die Menschen immer und überall treffen: dort, wo sie ihre Gewohnheiten, Wünsche und Vorlieben ausleben können. Ohne gemeinsame Interessen keine Liebe. Vor allem treffen sich Menschen da, wo sie dieselbe Sprache sprechen. Wenn man nämlich die Worte des anderen versteht, versteht man auch eher die Sprache seines Herzens und sein Leid.

Die wegen Hitler nach Tel Aviv geflohenen deutschen Juden trugen trotz Hitler die deutsche Sprache und deutsche Gewohnheiten im Herzen. Sie hatten in Tel Aviv das »Beit Israel« gegründet. »Beit Israel«, das heißt auf Deutsch: Haus Israel. Dort war man unter sich, denn die Mitbürger liebten blöde Witze über die höflichen, elegant gekleideten Jeckes und ihre guten Manieren. Diese Witze fanden die Jeckes natürlich nicht witzig, sondern ärgerlich. Ein richtiger Verein war dieser Jeckes-Klub nicht, eher eine Mischung aus Gemeinde und Verein – das Deutschland-Haus der Stadt sozusagen.

Die Mitglieder des »Beit Israel« waren allesamt deutschjüdische Flüchtlinge, egal, ob jung oder alt. Dort spielte sich ihr Leben ab, dort traf man sich, dort stritt, feierte und spielte man, dort fand man Bekannte, Freunde, Partner. Und genau hier lernten sich Thea und Max schon wenige Wochen nach Theas Ankunft in Palästina kennen, genauer: am 14. Juli 1939. Fortan war ihnen dieses Datum wichtiger als die Erstürmung der Pariser Bastille, die genau 140 Jahre vorher die Französische Revolution und damit in Europa ein neues Zeitalter eingeläutet hatte.

Die siebzehnjährige Thea und der zwanzigjährige Max verliebten sich ineinander. Die schöne blonde Carolin Hakenschwert aus Nazi-Berlin hatte Max längst vergessen. Die brünette Thea gefiel ihm viel besser, und Opa Justus war nun wirklich, anders als der Super-Nazi und SS-Vater Hakenschwert, ein liebenswerter Mensch. Auch zwischen den Familien Wolffsohn und Saalheimer stimmte die Chemie. Man mochte sich. Natürlich war man frei von jeder Nazi-Gesinnung – und nicht nur, weil alle jüdisch waren.

Thea Saalheimer und Max Wolffsohn, ca. 1940

Wie alle Frischverliebten wollten Thea und Max so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Das war für ein unverheiratetes junges Paar aber nicht so einfach, zumal Max damals gar nicht in Tel Aviv arbeitete, sondern im britischen Militärlager Sarafand zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Auch wenn die Menschen in Palästina mehr Freiheit genossen als in Deutschland – ein unverheiratetes Paar ohne Aufsicht? Das war in der damaligen Zeit bei den Jeckes verpönt.

Thea wollte Max aber unbedingt im Militärlager besuchen, wo er zuerst als Kino-Platzanweiser, dann als Warenlager-Manager arbeitete. »Alleine kannst du da nicht hinfahren«, meinte Max’ Mutter Recha, wie immer auf Sitte und Anstand bedacht. Doch sie wollte der jungen Liebe keine Steine in den Weg legen und beschloss, Thea zu begleiten. Und so fuhr die feine Sabta Recha, die in Berlin jahrelang vom Chauffeur herumkutschiert worden war, 1939/40 tatsächlich im unklimatisierten Bus in glühender Hitze mit Thea ins Militärcamp, damit das junge Paar sich sehen konnte.

Vor den Toren: Hitlers Soldaten

Wenn zwei Menschen sich lieben, sind sie glücklich, wenn sie zusammen sind. Um auch weiterhin zusammen glücklich sein zu können, heirateten Thea und Max im Dezember 1943.

Hochzeit von Thea und Max, Dezember 1943

Der Rabbiner Rosenberg, der Thea und Max traute, war ein alter Bekannter: Er stammte aus Berlin, wie Max, und zu Berliner Zeiten war er dessen Religionslehrer gewesen. Die beiden mochten sich damals überhaupt nicht. Über Max’ Unwissen, seine Faulheit und Geschwätzigkeit hatte sich Herr Rosenberg seinerzeit sogar bei Sabta Recha beschwert, doch das ließ sie kalt. »Wenn mein Sohn Max während Ihres Unterrichts schwätzt, ist Ihr Unterricht wohl langweilig«, hatte sie ihm ungerührt geantwortet. Boing.

Aber nun, in Tel Aviv, schätzten sich die einstigen Kampfhähne. Dank Hitler? Wohl eher nicht. Sie spürten aber, dass es wegen Hitler und der Nazis Wichtigeres gab, als sich über Nichtigkeiten in die Haare zu bekommen. Apropos »Haare«: Herr Rosenberg war zwar Rabbiner, aber anscheinend einer von der modernen Sorte: Anders als die meisten Rabbiner und die sehr frommen Juden trug er keine Schläfenlocken – die langen Haar-Koteletten, die nicht geschnitten werden und die man »Peijes« nennt. Opa Justus, bekanntlich auch ein frommer, aber eben moderner Jude, machte sich gern über Peijes lustig. Er nannte sie »Läuseschaukeln«.

In aller Ruhe vorbereiten konnten Max und Thea ihre Ehe jedoch nicht. Im Gegenteil: Ein Jahr vor ihrer Hochzeit schien es, als würde ihr Leben und das ihrer Familien sowie das aller Juden im britisch-jüdischen Palästina ebenso ausgelöscht wie das Leben der Juden in den Teilen Europas, die Hitlers Soldaten seit 1939 erobert hatten.

Im Oktober 1942 standen Hitlers Soldaten, die Deutsche Wehrmacht, nämlich unmittelbar vor den Toren Britisch-Palästinas. Ihr General Rommel, genannt »Der Wüstenfuchs«, hatte die Truppen erfolgreich nach Nordafrika geführt – bis vor die Tore Kairos in Ägypten, das an Palästina grenzte. Thea, Max und überhaupt alle Juden in Britisch-Palästina sahen ihr Ende voraus. Sie hatten Angst, dass es ihnen ergehen würde wie den Juden in Europa: Diese wurden wie Vieh in Eisenbahnwaggons gepfercht und in KZ-Vernichtungs­lager gebracht. Viele starben schon auf dem Weg dorthin, die anderen wurden dort ermordet. Sechs Millionen Juden fanden so ihren Tod. Diese Höllenzahl konnte damals niemand ahnen, aber über das massenhafte Judenmorden der Nazihorden wusste man in Britisch-Palästina spätestens seit Mitte 1942 ziemlich genau Bescheid.

»Sind wir nach Palästina geflohen, um hier von Hitlers Mörderbanden gefangen und dann ermordet zu werden?«, fragten sich Wolff­sohns, Saalheimers und alle anderen Juden. Doch ein Wunder geschah – zwar nicht in Europa, aber zumindest für die Juden in Britisch-Palästina und den Nachbarländern: Hitlers Soldaten wurden von der bri­tischen Armee in die Flucht geschlagen.

An der Seite der Briten kämpften eine Menge aus Deutschland vertriebener Juden gegen die Nazis. Willi/ Seew und Max Wolffsohn waren auch dabei. So haben es Hitler und die Nazis geschafft, dass Deutsche wie Willi und Max gegen ihre ehemaligen Landsleute in den Krieg zogen – für eine Welt und ein Deutschland ohne Hitler, also für ein Leben in Freiheit und Sicherheit!

Soldaten der Deutschen Wehrmacht in Nordafrika, 1941

Uns führt diese Geschichte zu einer schwierigen Frage, die sich immer wieder stellt: Hitler, der Massenmörder, hat den Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Welt hat sich dagegen gewehrt, hat also ebenfalls Krieg geführt und ebenfalls getötet – um das Massenmorden zu be­enden.

Ihr merkt: Töten und Morden bedeuten nicht dasselbe: Der Massenmord an den Juden hatte nur deren Tod als Ziel. Das Töten der alliierten, also verbündeten Mächte, die im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler kämpften, geschah, um das Massenmorden Hitlers zu beenden.

Und jetzt die entscheidende Frage, die ihr für euch selbst beantworten solltet: Darf man, ja, muss man manchmal töten, um das Morden zu beenden? Um die Antwort zu erleichtern, frage ich anders: Durfte, ja, musste man Hitlers Soldaten im Krieg töten, um Hitlers millionen­faches Morden zu beenden? Durften, ja mussten Willi/ Seew und Aba Max deutsche Soldaten töten, um dem Massensterben der Juden in Europa ein Ende zu bereiten? Vergesst bei eurer Antwort nicht, dass Hitler es war, der den Krieg begonnen hat: Kein anderes Land hatte die Absicht, gegen Deutschland in den Krieg zu ziehen. Hitler wollte andere Länder erobern und nahm von Anfang an in Kauf, dass dabei Millionen seiner eigenen Bürger sterben würden. Deshalb sage ich: Ja, Willi/ Seew und Aba Max durften und mussten deutsche Soldaten töten, um Hitlers Morden zu beenden. Was sagt ihr?

Hitlers Mord an Millionen deutschen Juden ist eines der größten Verbrechen, die überhaupt je begangen wurden. Dumm war es außerdem. Warum? Weil Deutschland nicht nur den Krieg, sondern viele kluge Menschen wie Willi und Max und noch weitaus Klügere verloren hat. Auf solche Mitbürger verzichtet man klugerweise nicht. Man vertreibt sie nicht – und erst recht ermordet man sie nicht. Man vertreibt und ermordet überhaupt keinen Menschen!

Gottes »Buch des Lebens« – Neujahr und Jom Kippur

Nach dem Wunder von Rommels Niederlage waren viele Menschen gerettet, weit über Britisch-Palästina hinaus. Max und Thea waren glücklich, denn der Weltkrieg entfernte sich von ihnen und sie konnten endlich ihr Leben genießen. Wie eh und je schien die Sonne am Mittelmeer, sie gingen schwimmen, machten Picknick, feierten Feste. Sie waren jung, sie liebten sich und lebten in ihrer eigenen kleinen Welt. Doch in der großen Welt herrschte nicht Liebe, sondern Hass. Noch zwei weitere Jahre tobte der Weltkrieg, und in Europa setzten Hitler und die Nazis die Judenvernichtung fort.

Bei allem persönlichen Glück – das Wissen, welche furchtbaren Dinge in Europa passierten, ließ auch die Menschen in Britisch-Palästina nicht los. Nicht nur Thea fragte sich seit dem Sieg über Hitlers General Rommel immer wieder: »Warum müssen so viele Menschen wegen Hitler und den Nazis sterben? Warum habe ausgerechnet ich überlebt? Warum Max, warum meine Eltern und die Schwiegereltern, so viele andere aber nicht? Muss ich nicht ein schlechtes Gewissen haben, dass wir leben, unsere Brüder und Schwestern in Europa aber nicht?«

Hierauf gibt es keine schlüssige, überzeugende Antwort. Natürlich waren Ima Thea und Aba Max nicht schuldig, weil sie überlebt haben. Aber tief in ihrem Herzen und in ihrer Seele fühlten sie Schuld. Fast alle Über­lebenden fühlen sich gegenüber den Toten schuldig – und sind zugleich fürs eigene Überleben dankbar. Dankbar gegenüber Gott, wenn sie an ihn glauben. Oder, wenn sie nicht an Gott glauben, ganz einfach dankbar, ohne zu wissen, wem sie dankbar sein sollen.

So oder so, jeder Mensch – ob Christ, Jude, Muslim oder nichtgläubig – möchte leben, gesund bleiben oder gesund werden und glücklich sein. Darum bitten gläubige Juden Gott alljährlich an den »Hohen Feiertagen« im Herbst. Es gibt zwei »Hohe Feiertage« im Judentum: das Neujahrsfest (»Rosch Haschana«) und zehn Tage danach »Jom Kippur«, auf Deutsch: Versöhnungstag. Eigentlich wird an diesen Feiertagen nichts gefeiert. Ganz im Gegenteil, ein banges Gefühl liegt sozusagen in der Luft. Man bittet nämlich Gott, er möge einen in sein »Buch des Lebens« eintragen.

Die zehn Tage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur nennt man »Die schrecklichen Tage«. Warum »schrecklich«? Weil jeder in diesen Tagen sich mehr als sonst fragen soll: »Habe ich mich richtig benommen? Wem gegenüber nicht? Mit wem soll, ja, muss ich mich versöhnen, wen um Entschuldigung bitten?«

Nicht nur mit den Menschen soll man sich versöhnen, sondern auch mit Gott. Gemeint ist damit nicht, dass der liebe Gott wie ein Buchhalter eine Liste führt, auf der steht: »Thea hat am Freitag artig gebetet und sonst die ganze Woche über nicht, oh Schande.« Oder: »Opa Karl hat das ganze Jahr über nicht gebetet. Oh schlimme Schande.«

Versöhnung mit Gott meint: Jeder soll sein ganzes Leben lang von Jahr zu Jahr den Weg zum Guten, Richtigen, Menschlichen ein Stück weiter beschreiten. Den Weg zum menschlichen, moralischen Handeln, das allen Menschen gegenüber gilt, aber auch der Natur, der Umwelt, der ganzen Welt gegenüber. Denn Gott ist die Welt und die Welt ist Gott.

Am Ende des Versöhnungstages, besagt der jüdische Glaube, trägt Gott für das nächste Jahr die einen ins Buch des Lebens, die anderen ins Buch des Todes. Natürlich bitten alle Juden, ins Buch des Lebens eingetragen zu werden.

Über die bange Zeit, als sie befürchten mussten, von General Rommel besiegt zu werden, sagte Thea später: »Oh ja, als Hitlers Soldaten im Herbst 1942 vor den Toren von Britisch-Palästinas standen, habe auch ich Gott darum gebeten, ins Buch des Lebens eingetragen zu werden. Nicht nur für mich bat ich, sondern auch für meine Familie und für die anderen Juden. Ich hatte Glück, meine Familie hatte Glück, wir Juden in Britisch-Palästina hatten Glück. Aber für die vielen Juden in Europa ging das Hitler-Nazi-Unglück weiter, und das zu wissen war auch für uns sehr, sehr schlimm.«

»Geschäfte ja – Freundschaft nein«

1945. Endlich waren Hitlers sechsmillionenfache Judenvernichtung und der von ihm entfachte Weltkrieg zu Ende. Nun aber entbrannte mit neuer Härte der Kampf um Palästina. Die Briten wollten dort weiter Herr im fremden Haus bleiben. Juden und palästinensische Araber waren sich einig: Briten raus aus Palästina! Wer aber sollte Herr im Hause Palästina sein?

»Wir«, sagten die Juden. »Wir sind Zionisten. Das heißt: Wir wollen hier den Jüdischen Staat gründen und ihn ›Israel‹ nennen. Wir sind aber bereit, das Land zu teilen. Ein Teil das jüdische Israel, der andere Arabisch-Palästina.«

»Nein!«, widersprachen die palästinensischen Araber. »Ganz Palästina gehört nur uns. Keine Teilung!« Es flogen Bomben, aber es herrschte noch kein Krieg. Mal töteten die Bomben Juden, mal Palästinenser, mal Briten.

Nicht alle warfen Bomben, und nicht alle Juden, Araber und Briten waren einander spinnefeind. Zum Beispiel der sehr wohlhabende Herr Dajani, der mit seiner arabischen Frau im arabischen Teil Jerusalems in einem wunderschönen Haus lebte.

Herr Dajani handelte wie Opa Justus mit Damen­oberbekleidung. Die beiden waren enge Geschäftspartner. Sie arbeiteten gut, gerne und vertrauensvoll zusammen. Beide hatten viele Vorteile davon.

Oft saßen die beiden auf der bepflanzten, Schatten spendenden Terrasse des Dajani-Hauses. Justus genoss die ihm angebotene Havanna-Zigarre, Herr Dajani seine Wasserpfeife. Frau Dajani servierte köstlichen türkischen Kaffee. Dazu gab es delikate arabische Backwaren. Sie schmeckten viel besser als bei den Juden, die damals nicht genug Geld hatten, um sich gute Zutaten für gutes Essen leisten zu können. Häufig nahm Opa Justus zu seinen Besuchen Thea mit. Sie half ihm, die schweren Pakete nach Jerusalem zu bringen. Herrn Dajani freute das, denn obwohl verheiratet, mochte er jüdische Frauen, und Thea war keine Ausnahme.

Bei ihren Zusammenkünften tauschten die Herren geschäftliche Erfahrungen aus, sie planten die nächsten Verkäufe, sprachen vertrauensvoll miteinander und waren freundlich zueinander. Man redete Englisch. Das holprige Englisch von Herrn Dajani klang wie Arabisch, das holprige Englisch von Opa Justus klang wie Deutsch.

Opa Justus wurde es warm ums Herz. Er schwärmte: »Ach, lieber Herr Dajani, wenn alle Araber wie Sie wären, gäbe es keinen Konflikt zwischen Arabern und Juden. Dann wären wir miteinander befreundet.«

Herr Dajani erstarrte. Ohne eine Miene zu verziehen, sagte er kalt: »Geschäfte ja, Freundschaft nein.«

Wortwörtlich hatte Opa Justus diesen Satz bereits in Bamberg gehört – von seinem dortigen christlichen Anwalt. Judenfeindschaft ist eben weder eine arabische noch eine deutsche Erfindung. Es gibt sie seit dreitausend Jahren, und kein Ende ist in Sicht. Warum? Es gibt mehr als dreitausend Antworten auf diese dreitausend Jahre alte Frage. Aber keine Antwort erklärt, warum die Juden in aller Welt zwar respektiert, privat aber oft ausgegrenzt werden.

Vorsicht, liebe Leser und Leserinnen, macht nicht den Fehler, von einem einzelnen auf alle Menschen derselben Gruppe zu schließen. Herr Dajani war ein einzelner Araber, sein Verhalten war das Verhalten eines einzelnen Mannes. Aus diesem Einzelfall kann und darf man unmöglich schließen, dass alle Araber so oder so sind. Wie bei allen Menschen gibt es bei Arabern solche und ganz andere Menschen, und natürlich existieren enge Beziehungen zwischen Arabern und Juden, die über das rein Geschäftliche hinausgehen – ebenso wie es unter Juden und Christen enge Freunde gibt. Aber eben auch Feinde.

Schon wieder »Juden raus!«

Nachdem seit etwa zwei Jahren wieder so viele jüdische und arabische Bomben gegen die Briten in Palästina geworfen worden waren, hatte die britische Herrschaft genug. Zwar hatte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung gegen sie gekämpft – weder Herr Dajani noch Opa Justus haben so was je getan –, doch die britischen Politiker sahen ein: »Es bringt uns nichts, es kostet uns nur viel, wenn wir hier noch länger bleiben. Es kostet uns Menschenleben und Geld. Was soll’s? Macht doch euren Dreck alleine, ihr Juden und ihr Araber. To hell with you! Für uns gilt: Ab die Post, zurück nach Großbritannien.«

1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zogen die britischen Truppen aus Israel ab.

Abzug der britischen Truppen aus Palästina, Mai 1948

Wie ging es weiter? Die Zionisten verkündeten: »Das ist unser Land! In Gänze. Aber notfalls finden wir uns mit einer Teilung ab, einem jüdischen Staat und einem arabisch-palästinensischen.«

Die palästinensischen Araber verkündeten: »Das ist unser Land! In Gänze! Keine Teilung! Alles ist unser!« Bestenfalls galt der Satz von Herrn Dajani: »Geschäfte ja, Freundschaft nein.«

Der beste Fall trat nicht ein. Ein Bürgerkrieg zwischen Juden und Arabern in und um Palästina folgte.

Es gab noch einen letzten Rettungsversuch. Den unternahmen die »Vereinten Nationen«, abgekürzt: UNO. In der UNO sind alle Staaten dieser Welt vertreten, die großen ebenso wie die kleinen. Jeder Staat hat eine Stimme, egal ob es ein riesengroßes oder ein winzig kleines Land ist. Am 29.11.1947 beschloss die UNO die Teilung von Britisch-Palästina in je einen Jüdischen und einen Arabisch-Palästinensischen Staat.

Nein, war die Antwort der Palästinenser. Die Juden sollten raus aus Palästina, schließlich waren sie fast 2000 Jahre weg gewesen. Schon am nächsten Tag schossen die Palästinenser. Der Bürgerkrieg begann. In die Heimat ihrer Vorfahren geflüchtet waren neben den wenigen Juden aus Deutschland zum Beispiel solche aus Russland, der Ukraine, Belarus oder Polen. Als Rettungsanker, als Zuflucht vor Hitler und anderen Mördern brauchten und wollten sie endlich einen eigenen Jüdischen Staat, den Staat Israel. Nun sollten sie auch hier raus. Wohin? Zurück ins jeweilige Land ihrer Mörder und Möchtegernmörder? Nach Deutschland, nach Polen, in die Ukraine, nach Russland oder Belarus?

»Nie und nimmer!«, beharrte Ima Thea. »Da halten wir es lieber mit den Bremer Stadtmusikanten.«

»Wie meinst du das?«, fragte Ruth.

»Na, in dem Märchen gibt es doch den Satz, den der Hahn spricht: ›Etwas Besseres als den Tod findest du überall.‹ Und wenn schon, dann nehmen wir unsere Angreifer mit in den Tod.«

Aba Max stimmte zu. Willi/Seew, Ruth und Judith ebenfalls.

Thea, Max und ihre Familien überlebten. Sie blieben dort. Aus dem »Juden raus!« wurde in Palästina nichts: Den Bürgerkrieg um Palästina gewannen die Juden. Am 14. Mai 1948 wurde der Jüdische Staat Israel ausgerufen. Jubelnd sangen und tanzten die Israelis auf den Straßen und fielen sich in die Arme. Wieder einmal hatte man versucht, die Juden zu vernichten. Und wieder gelang ihnen die Auferstehung. Die jüdische Auferstehung heißt Israel.

14.5.1948: Ben Gurion verkündet die Staatsgründung Israels

Seitdem haben alle Juden der Welt einen Rettungs­anker. Hierhin, nach Israel, können sie jederzeit kommen, wenn es je wieder solche Unmenschen wie Hitler und die Nazis geben sollte. Jeder anständige Mensch sagt zwar: »Nie wieder Hitler, nie wieder Nazis!« Das denkt, sagt und meint auch ihr bestimmt. Aber leider sind nicht alle Menschen so anständig wie ihr.

Als Israel gegründet, also unabhängig wurde, war ich fast auf den Tag genau ein Jahr alt. Verkündet hatte die Gründung des Jüdischen Staates Israel ein Mann, der aussah wie mein Opa Karl.

Justus Saalheimer und sein Enkel Michael

Thea Wolffsohn und ihr Sohn Michael 1947/48

Jahre später, ich war ungefähr fünf, ging ich mit Ima Thea durch Tel Aviv: »Schau mal, Ima, da ist ein Plakat mit dem Kopf von Opa Karl.«

»Du hast recht«, antwortete Ima Thea. »Er sieht wirklich aus wie Opa Karl. Er ist es aber nicht.«

»Wer ist es dann?«

»Ben Gurion.«

»Und wer ist dieser Ben Gurion?«

»Das ist der Mann, der Israel gegründet hat. Er hat auch die Unabhängigkeit Israels verkündet.«

Ben Gurion sah nicht nur klug aus, er war ein wirklich kluger Kopf und in der Lage, mit seinen Gedanken seinen Gefühlen entgegenzusteuern. Das zeigte sich wenige Jahre später: Da war Ben Gurion der erste israelische Politiker, der in Kontakt mit der neuen deutschen Regierung trat. Mit Deutschland zu verhandeln, war so kurz nach der Judenvernichtung für viele Juden und Israelis undenkbar. Ben Gurion aber sagte: »Nicht jeder Deutscher war ein Mörder und nicht alle Deutschen waren Nazis. Es gab auch gute Deutsche. Und meist gute Deutsche regieren heute ein neues Deutschland.«

In Deutschland fand Ben Gurion einen Politiker, der ähnlich dachte wie er. Dieser Deutsche hieß Konrad Adenauer – er war nach dem Krieg der erste deutsche Bundeskanzler. Beide wurden Freunde, und das war auch der Beginn einer ganz neuen Freundschaft zwischen Israel und Deutschland, ja, zwischen dem neuen Deutschland und den Juden. Davon erzähle ich im nächsten Kapitel.

Hitler tot – Nazis putzmunter

Den Bürgerkrieg in und um Palästina hatten die Paläs­tinenser begonnen und verloren. Deshalb konnte am 14. Mai 1948 die Unabhängigkeit Israels verkündet werden. Am 17. Mai wollten Ima Thea und Aba Max meinen ersten Geburtstag feiern. Doch daraus wurde nichts, denn schon wieder herrschte Krieg.

»An deinem Geburtstag saßen wir, wie manchmal, stundenlang unter dem Treppenhaus, um uns vor Fliegerangriffen der Ägypter zu schützen. Einen Luftschutzraum oder Bunker gab es nicht«, erzählte mir Ima Thea später. An meinem ersten Geburtstag waren der Zweite Weltkrieg und der Bürgerkrieg zwischen Zionisten und Palästinensern zwar vorbei, dafür aber kämpften der Jüdische Staat Israel und viele arabische Nachbarstaaten gegeneinander. Die waren nämlich von den Palästinensern nach ihrer Niederlage im Bürgerkrieg um Hilfe gebeten worden. Sie kamen, halfen – und verloren diesen Krieg, der allgemein als »Unabhängigkeitskrieg Israels« bezeichnet wird.

Auch nach diesem verlorenen Krieg kauften und produzierten die arabischen Staaten weiter Waffen und verstärkten ihre Armeen, um Israel doch noch von der Landkarte wegzuwischen.

Atemlos und zunächst ungläubig hörten Ima Thea und Aba Max im Radio die Nachrichten von »Kol Israel«, der »Stimme Israels«: »Wie unser Geheimdienst aus sicherer Quelle erfuhr, beraten ehemalige Offiziere der deutschen Nationalsozialisten das Militär in arabischen Staaten, vor allem in Ägypten und Syrien. Hitlers unvollendetes Werk – die Vernichtung der Juden – soll durch die Vernichtung des Jüdischen Staats fortgeführt werden.«

Ima Thea schnappte nach Luft. »Hitler ist tot, aber die Nazis leben. Ist Hitler vielleicht doch auferstanden?«

»Ach, Unsinn«, widersprach Max. Aber viele Nazis machten auch nach dem Zusammenbruch von Hitler-Deutschland mit ihrer Judenfeindschaft weiter. Dieser Hass ist endlos, es gibt ihn weiterhin.

Ein Kind vieler Kulturen

Am Tag meiner Geburt, am 17. Mai 1947, war ich Palästinenser, ein neuer Erdenbürger von Britisch-Palästina.

Als am 14. Mai 1948 Israels Unabhängigkeit verkündet wurde, wurde ich drei Tage vor meinem ersten Geburtstag Israeli. Jüdisch bin ich sowieso lebenslang. Das hat die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, für mich beschlossen. Wer als Jude geboren wird, bleibt immer Jude.

Thea Wolffsohn mit Michael, davor Seew/Willi Wolffsohn im Genossenschaftsdorf Schadmot Dworah, am Berg Tabor, in Galiläa, 1952

Meine Kindheit war sehr schön. Tel Aviv war damals noch eine kleine und ärmliche Stadt. Als ich vier Jahre alt war, zogen wir um. Ramat Gan war noch kleiner und ärmlicher als Tel Aviv. Das Haus, in dem wir dort wohnten, war wahrlich kein Palast, aber die Wohnung war größer als die in Tel Aviv. Sie hatte drei große statt zwei kleine Zimmer und war, weil sie im damals popligen Ramat Gan lag, billiger. Meine Eltern konnten sie mit ihrem geringen Einkommen bezahlen. Gleich um die Ecke unserer Wohnung wurde in der Fabrik »Elite« Schokolade hergestellt. Die Fabrik war so nah, dass der wunderbare Duft frischer Schokolade zu uns rüberwehte. Ich roch die Schokolade oft und aß sie selten, dazu hatten meine Eltern nicht genug Geld. Trotzdem war ich als Kind sehr glücklich.

Auch als ich 1953 in die Schule kam, fühlte ich mich dort wohl. Ich erinnere mich nur an zwei unangenehme Erlebnisse:

Meine Großeltern Wolffsohn lebten damals schon wieder in Deutschland. Sie schenkten mir einen schönen Leder-Schulranzen, auf den ich mächtig stolz war. In Israel war damals, so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, alles Deutsche verpönt, und so zerkratzten mir meine Klassenkameraden den Ranzen mit Metallgegenständen und Steinen, weil er aus »Nazi-Deutschland« stammte. Ganz kaputt machen konnten sie ihn nicht, dazu hatte er eine zu gute Qualität – echte »deutsche Wertarbeit« sozusagen. Übrigens kaufen die Israelis heutzutage längst mit Wonne deutsche Waren. »Made in Germany« war in meiner Kindheit in Israel tabu und gilt heute als toll. So ändern sich die Zeiten und wir mit ihnen! Manchmal tatsächlich zum Besseren.

Mein zweites unschönes Erlebnis hatte damit zu tun, dass ein Klassenkamerad von mir abschreiben wollte. Peinlich (aus meiner heutigen Sicht) belehrte ich ihn besserwisserisch, er würde doch viel mehr lernen, wenn er sich alles selbst erarbeite. Außerdem sei Abschreiben unehrlich. Doch jener Knabe wollte weder klug noch ehrlich werden. Vor lauter Wut stieß er mich gegen einen rostigen Nagel in der Schulbank.

Die Wunde nähte unser Hausarzt und Familienfreund Dr. Fritz Eisen aus Danzig. Auch er war erst Deutscher, dann Nicht-mehr-Deutscher, ab 1948 Israeli. Vor dem Vernähen gab mir Dr. Eisen eine Spritze. Dummerweise hatte ich Angst vor Spritzen. Ich beschimpfte den netten Mann mit hebräischen Flüchen: »Gemeiner Esel, Hintern eines Kamels!«

Endlich gehörte ich auch sprachlich zur jüdisch-israelischen Gemeinschaft! Aber nicht lange – denn fünfzehn Jahre nach ihrer Flucht ins gelobte Land zogen meine Eltern mit mir zurück nach Deutschland, ins Land der Täter. Wie das kam, darum geht es im nächsten Kapitel.

Purim (jüdischer Karneval) im Kindergarten, Tel Aviv 1951. Michael Wolffsohn hintere Reihe, Dritter von links.