Stadt

»Ein Sumpf zieht am Gebirge hin. Verpestet alles schon Errungene;

Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, Das Letzte wär’ das Höchsterrungene.«

Goethe, Faust II

Karte: © Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, GStA PK, XI Karten, Allgemeine Kartensammlung, A 50695a

 

 

Mit Schweiß vermischtes Perückenpulver rann, eine weißliche Spur hinterlassend, juckend Friedrichs Nacken hinab. Er trug einen aprikosenfarbenen samtenen Rock, Culotten, eine weiße, mit Goldfäden durchwirkte Weste aus Brokat, darüber das breite Blauband. Stolz funkelte der riesige Stern auf seiner Brust, ein kostbarer Solitär hing ihm um den Hals, von einem schwarzen Band fixiert, das hinten, an der Perücke, befestigt war. Seine Nasenlöcher waren auffallend gelblich eingefärbt, das kam von dem geliebten Spaniol-Schnupftabak. »Ich fühle mich allzu überwach und sehr ungelöst und wie die schwangeren Weiber, wenn diese ein unordentliches Gelüste packt. Was schreibt er mir denn, mein Mathematicus?« Ungeduldig riss Friedrich mit spitzen, von den vielen Ringen etwas schweren Fingern den mit Wachs versiegelten Umschlag

»Eure Majestät, ich habe sie jüngst adoucieren lassen und auf solche Weise einige Monate gewonnen, da dann mit Brunnen und Kräutern vielen üblen Umständen abgeholfen werden konnte. Ein kurzer Schmerz, eine lange Zeit der Freiheit.«

Der König zog den Brief aus dem Umschlag. »Es freut mich sehr, dass es sich mit dir bessert; nun nimm dich nur gut in Acht mit Essen und Trinken und ordentlichem Gebrauch der Medizin. Dann wirst du mit der Zeit schon gut werden, Gott bewahre.«

Fredersdorf verneigte sich. »Hat übrigens das empfohlene Clistier bei der Verstopfung geholfen? Hier habe ich noch ein rares Elixier für Euch.« Er reichte dem König eine Glasphiole, die er in seinem Rockschoß aufbewahrt hatte. Sie war mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt. »Die Rezeptur stammt vom alten Theophrastus Paracelsus und hat mir und allen, die davon genommen haben, Wunder getan. Man schlucke nur wenig davon. Aber man muss aufpassen, dass man zusätzlich keine Quacksalberei einnimmt, sonst raubt es einem für seine Lebtage die männlichen Kräfte der Liebe.«

Wortlos nahm Friedrich die Phiole entgegen.

»Benötigt Ihr am Abend auch wieder die wollene Binde gegen Schmerzen im Leib?«

Friedrich antwortete nicht, er las jetzt. Zorn umwölkte seine auffällig flache Stirn, die völlig gerade in seinen scharfen, die kindlichen Wangen kontrastierenden Nasenrücken überging. »Was, die Rechnung sei noch nicht eindeutig?« Für einen Moment verblüfft, sich aber rasch

Fredersdorf nickte eifrig. Es freute ihn stets, wenn sein Herrscher andere schlechtmachte, denn rückte das nicht ihn automatisch in ein besseres Licht? Er zog dem König die Gamaschen aus und begann mit der Fußmassage. Die warme Sonne des späten Nachmittags fiel weich durch die blassrosa geränderten Kristallglasfenster. »Ich fand ihn schon immer suspekt. Vergessen wir nicht, er trägt keine Perücke.«

»Soll er doch nach Petersburg zurück.« Fredersdorf nahm sich, nachdem er die Sohle des linken Fußes durchgeknetet hatte, jeden Zeh einzeln vor.

»Ah, ja, das tut gut, Fredersdorf. – Moor bewahren! Das ist so abwegig, dass es mich ganz irremacht. Dabei ist ungezähmtes, undurchdringliches, schwarz daliegendes Sumpfwasser unser allergrößter Feind. Die Marsch, das Bruch, das Luch – das hat alles kein Gedächtnis, keine Schrift, das hat alles keine Geschichte. Ich will aus meiner Landschaft lesen können wie aus einem Buch. Sumpf zu trocknen: In der aufgeklärten Meinung gibt es kein größeres Übereinkommen, was die natürliche Welt angeht. Und dagegen stellt er sich. Das Oderbruch ist doch erst der Anfang. Weitere Lücher und Brücher werden folgen, das Warthebruch, das Fiener Bruch, die Zehdener Sümpfe … all dies machen wir fruchtbar, den ganzen Osten. Preußen soll prosperieren. Noch nimmt man uns nicht ganz für voll. Doch unsere Ökonomie wird zu einer der dynamischsten, leistungsstärksten, furchterregendsten in ganz Europa gemacht!«

Zurück in der Stadt

Bis auf Katharina und seinen ältesten Sohn Johann schienen alle Menschen um ihn herum von einer Art schrecklichem Wahnwitz befallen zu sein. So unmittelbar nach

Niemand war ihm fluid genug im Denken. Niemand besaß jene mäandernde Wendigkeit, die die Aufgaben des Tages verlangten. Obgleich doch alle von Aufklärung schwadronierten und von Rationalität. Genau da lag das Problem: Man musste eben mehr bemühen als die Logik, um zu vernünftigen Ergebnissen zu kommen.

Doch wenn er auf diese Weise sprach, schüttelten sie die Köpfe in der Akademie, man hielt ihn für leicht verrückt – oder gar aufsässig und flüsterte hinter vorgehaltener Hand, er habe dort draußen im Sumpf etwas abbekommen, und munkelte von Spätfolgen des Marschenfiebers. Doch er war nicht krank, nicht mehr, im Gegenteil. Er glaubte sogar, der einzige Mensch in seinem Umfeld von einer gewissen Gesundheit zu sein. Er musste sich nur umblicken, wenn er durch die Gassen, die geraden Straßen oder gar den Boulevard entlanglief: Wie sie alle in der gleichen Weise flanierten und promenierten, die Damen mit ins Auge getröpfeltem Belladonna und angeschnalltem Unterziehsteiß – dem Cul de Paris –, wie sie die gleichen Gespräche führten und ihren Tagesablauf in der identischen Weise zusammenrechneten. Wie sie auf die gleiche Art zur Börse gingen, auf die gleiche Façon einander einluden, banale Bälle besuchten, ins Theater stolzierten. Wie sie die gleichen überkandidelten Dinge aßen, sich einförmig bewegten, beim

Den ersten Tag – auch um nicht zu viel nach draußen gehen zu müssen – verbrachte er in dem staubigen, schlecht beleuchteten Archiv des General-Ober-Finanz-Kriegs- und Domainen-Directoriums. Dort befasste er sich mit den Stammbäumen des Simon von Haerlem, des Kammerdirektors von Schmettau und schließlich auch der Ahnenreihe des Staatsministers Marschall. Um Letztere zu recherchieren, stellte der Archivar, der seine Achtung vor dem berühmten Mathematiker durch Kopfnicken und angedeutete Verbeugungen mehr als einmal zum Ausdruck brachte, sogar eine Anfrage nach Danzig, wo laut Eintrag weitere Informationen zu erhalten seien. Diese würden allerdings erst am folgenden Tag per Courier eintreffen.

Die verbleibenden Stunden bis zum Abendessen beschloss Leonhard Euler der Introductio zu widmen und lief durch den warmen Sommerwind zur Akademie. Dort jedoch fing ihn ein aufgeregter Schmettau ab, noch bevor er sein Arbeitszimmer erreichte.

»Es ist etwas Schlimmes passiert. Am Morgen haben sie Kümmerle unten in der Grube entdeckt. Am Krummen Ort. Mausetot.« Schmettau schüttelte hilflos den Kopf. Er sah bleicher aus als je zuvor. »Der gute Mann lässt sieben Kinder und seine Frau zurück. Sie kommen morgen aus dem Badischen hier an. Ach Gott, diese ganze Unternehmung steht unter keinem guten Stern.«

Euler lief zur Schleuse hinab. Dort befand sich die Apotheke Zum Goldenen Bären, von deren Besitzer Sigismund Marggraf er wusste, dass dieser auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten forschte. Sehr bekannt geworden war Sigismund auf einem anderen Gebiet, hatte er doch in einer Studie über die Runkelrübe die aufsehenerregende These aufgestellt, man könne aus jener ebenso Zucker gewinnen wie aus dem Zuckerrohr. Deshalb sei man auf den Import von Letzterem bald nicht mehr angewiesen, was Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft haben würde. Die Seemächte, die ihren Wohlstand aus dem Überseehandel mit jenem unter häufig menschenverachtenden Bedingungen angebauten Rohr bezögen, verlören dadurch an Bedeutung. Dies würde den Habsburgern zugutekommen, Russland, aber in erster Linie Preußen: eine Machtverschiebung, die vor allem England gehörige Sorgen bereiten würde, wie Sigismund in einer Schrift behauptete, die die Akademie herausgegeben hatte.

Euler traf seinen Freund im Kräutergarten hinter der Apotheke, wo Sigismund, dessen beinahe haarfreier hoher Kopf in der Sonne blinkte, seine Arzneimittel kultivierte. In knappen Worten erzählte Leonhard von den Vorkommnissen im Bruch und fragte den Apotheker, ob es wohl möglich sei, dass es sich bei Mahistre und Kümmerle als auch bei ihm selbst um ein und dieselbe Krankheit gehandelt haben könnte, einen Infekt möglicherweise. Und falls ja, auf welche Weise ein solcher Infekt, der Schwellungen und ungewöhnlich hohes Fieber verursache und manche Personen befalle, andere hingegen nicht, sich verbreiten

»Man hat mich in einem Dorf des Bruchs durch lang anhaltenden äußeren Druck auf meine Körperhülle geheilt.«

Sigismund zog seine Brauen steil nach oben. »Altes Wissen, wie mir scheint. Wenn’s funktioniert, soll’s mir recht sein.« Erneut kniete er sich und harkte die Erde zwischen verblühten, nur noch ihre Kapseln zeigenden Mohnblumen. »Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, mein teurer Freund: Zwar steckt die Forschung noch am Anfang, doch verstehen wir immer besser, wie sich negative Effekte vom einen auf den anderen Menschen übertragen, und begreifen unsere Historie allmählich als eine Geschichte der Auseinandersetzung mit ebensolchen Infektionen. Es ist ein andauernder, stets variierender Kampf gegen das Fremde – eine Auseinandersetzung, die in unserer Ratio ebenso wie in unserer Seele Spuren hinterlässt. Es ist das Drama des Hungerns und Fressens, des empfundenen Mangels wie des Aussaugens des anderen.«

Euler hob den Kopf und blickte in den wolkenlosen hellblauen Himmel. »Aber wie wandern diese Infektionen? Wie wird das Übel von einem Menschen zum nächsten gebracht?«

»Man spricht von Vektoren und Transmissionen. In Britannien ist man mit dieser Forschung am weitesten.« Mit einem kurzen Damaszener Messer ritzte Sigismund eine der Mohnkapseln rundherum an. »Diese unsichtbaren Partikel heißt man dort Virus Matter.«

»Könnte das Einbringen von Virus Matter in einen

»Davon haben wir bereits Kenntnis.« Zufrieden sah Sigismund dabei zu, wie der klebrige weiße Saft aus der angeritzten Kapsel trat und leicht antrocknete. »Es soll so etwas in der Neuen Welt gegeben haben. So setzten die Spanier den Eingeborenen zu: indem sie ihnen mit Krankheitsfäulnis infizierte Kleidung schenkten. Auch nicht mehr arbeitsfähiger Sklaven beliebt man sich auf diese Weise zu entledigen.«

»Wer so etwas vorhätte, müsste also das Virus Matter konservieren und benötigte einen Übertragungsmodus, um es erneut ins Ziel zu bringen?«

»Es klingt teuflisch, aber ja, so funktioniert es.« Sigismund knipste die angeritzte Kapsel mit den Fingern ab und legte sie auf ein weißes Baumwolltuch, wo bereits mehrere ebenso präparierte Kapseln lagen. Sie sahen aus wie kleine grüne Köpfe, die milchig weiße Tränen weinten.

»Wie könnte man sich gegen eine solche Attacke zur Wehr setzen? Sie müssen wissen, ich habe vor, demnächst zurück in dieses Bruch zu reisen.«

»Solange Sie den Übertragungsmodus nicht kennen, ist die Abwehr schwierig. Nehmen Sie Medizin mit, um den eigenen Körper zu stärken. Eine Pflanze kann vor ihren Feinden nicht türmen, sie wehrt sich durch das Gift, das sie in sich birgt. Dieses Gift, so wir Kenntnis davon besitzen, können wir nutzbringend einsetzen, für unsere Verteidigung. Es tötet die schädlichen kleinen Wesen, das Virus Matter, mitunter ab. Ich würde den Mohn empfehlen.« Sigismund ritzte eine weitere Kapsel an. »Die wirksamste Heilpflanze unseres Planeten. Ich habe gerade heute

 

Leonhard Euler stieß die gotisch zugespitzte, rundherum mit Eisen beschlagene schwarze Eichentür auf, bückte sich und trat in das etwas kühlere Innere. Seit einigen Minuten schwitzte er stark, aber es war ein anderes Schwitzen als jenes im Bruch. Tatsächlich bereitete ihm dieses Gefühl der überaktiven Schweißdrüsen, die seine Haut an unzähligen Stellen feucht werden ließen, das größte Vergnügen. Es durchströmte ihn ein Gefühl, das mit nichts zu vergleichen war – und an das selbst das beste Laudanum nicht herankam. Allerhöchstens erinnerte es ihn an die Wohligkeit, die er nach der Lösung einer besonders schwierigen Aufgabe empfand – wenn auch dieses, das jetzige Gefühl, stärker war.

Hinter ihm betrat Sigismund das enge Treppenhaus des Nikolai-Kirchturmes. Auch er strahlte. Ja, so sollte Leben sich anfühlen. So hatte Gott es doch sicher gemeint.

Der Aufstieg über zweihundert eng nach oben sich schraubende Stufen bereitete den Männern nicht die geringste Mühe. Euler bemerkte, wie die Staubpartikel der Luft auf seine Gesichtshaut trafen und bei dieser Landung feinste Sensationen hervorriefen, als kitzele ihn die Atmosphäre. Eine solche Sensibilität des Tastsinnes hatte er nie zuvor erlebt. In seinem Gehirn, das sich warm und flüssig anfühlte und als schwappe es in seiner Schale hin und her, besetzte das Opium offenbar genau jene Stellen,

Dann hatten sie den Ausstieg erreicht und gelangten nacheinander ins Freie. Sigismund hob den Arm, um seine Augen zu schützen. Die Sonne blendete heftig, doch als sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, wurden sie belohnt. Im warmen, goldenen Sonnenglanz sahen sie ringsherum auf die eng stehenden Giebel, den gotischen Kern der Stadt mit seinen Türmen und barocken Patrizierhäusern. »Sehen Sie dort drüben«, Sigismund zeigte auf die große Baustelle unweit des Schlosses, wo riesige Löcher für das künftige Forum Fridericianum gegraben wurden. »Von hier hat man erst das ganze Ausmaß der Pläne des Königs im Blick. Diese monumentalen Gebäude, die entstehen, werden die Kirchtürme, die sein Vater als prägend für das Stadtbild vorgesehen hatte, deutlich überragen.«

»Es ist sicher so«, antwortete Euler und blickte mit winziger Pupille nach unten, »Berlin verzichtet darauf, seine sakralen Ansätze zu verstärken, und gibt sich ein weltgewandtes Kleid. Eine Entwicklung, die ich nur mit einem Gefühl leichter Melancholie zur Kenntnis nehmen kann.« Er ging ein paar Schritte nach Osten und blickte auf das schattige, spitzwinkelige Gassenviertel rund um die Schleuse. »Da ist es organisch gewachsen. Das gefällt mir. Aber sobald man den Kopf hebt und nach draußen sieht, verliert sich diese Keimzelle in einem anderen Arrangement. Man sieht es allzu deutlich, wie die Schleuse um sich herum in immer weiter gezogenen Ringen Werk- und Lagerhallen produziert.«

»Klaren Geometrien folgende Konstruktionen, da haben Sie recht.« Sigismunds Stirn war ganz glatt, die

»Ich weiß, es ist ein Widerspruch.« Euler sah in Richtung Horizontlinie. »Vor wenigen Wochen hätte ich dieses Bild auch noch uneingeschränkter begrüßt. Was gibt es Schöneres als klare geometrische Formen? Doch seit ich ein ganz und gar ungeometrisches Dorf besuchte, es heißt Lewin, sehe ich das Leben mit anderen Augen.«

»Ja? Wie denn?«, fragte Sigismund interessiert.

»Ich bemerke einen Funken, den ich zuvor nicht bemerkt habe«, antwortete Euler. »Zudem nehme ich wahr, wie sich die Geometrie durch das rührende, alte Antlitz unserer Welt – in diesem Falle der Stadt – hindurchfrisst. So etwas wie Runzeln wird es darauf bald nicht mehr geben. Und es ist erst der Anfang. Bauten der Seelenlosigkeit werden folgen, naturfremde Achsen. Und welche Menschen erhalten wir dann?« Er spürte ein Kitzeln im Nacken und überall auf der Kopfhaut, und es kam ihm ein Gedanke, der ihn schreckte und so zusammenfahren ließ, dass er gar nicht hörte, was Sigismund zu ihm sagte. Zu sehr war er mit dieser furchtbaren Überlegung beschäftigt: Bekämpfte nicht etwa der Mörder Mahistres und wohl auch Kümmerles genau diese Abstraktion, diese Ausbreitung der Seelenlosigkeit, indem er versuchte,

»Die Menge der Menschen wird sich immer ähnlicher«, sagte er düster. »Alle bewegen sich umeinander herum, um sich ihre kleinen Freuden zu bereiten, und über alles ist ein lückenloses Netz gespannt, damit es reibungslos verläuft. Wer sagt, dass auch die Menschen eine Herde werden, ebenso wie die Kühe, liegt so falsch nicht. Eine weidende Herde, wiederkäuend, mit ihrem Los zufrieden. Die Kuh, von der ja derzeit alles spricht, wird unser Modell: Gras fressen, gutmütig Milch geben, dann ab zur Schlachtebank.«

Sigismund lachte. »Immerhin finde ich sie ästhetisch überzeugend, die Kuh. Sie ist von überraschender Einfachheit, integriert barocke Elemente, wobei ich nicht alleine auf die Fleckung abziele. So widerspricht der elegante Schwung des grazilen Schwanzes der massiven Unbeweglichkeit des restlichen Werks, wodurch sich eine Spannung und Dynamik erzeugt.«

Euler hörte ihn gar nicht mehr. Er hatte sein linkes Auge geschlossen und führte mit dem Kopf kleine Schleifenbewegungen aus. Dabei vernahm er ein helles Sirren, das immer lauter wurde, immer näher kam, an sein Ohr heran, und dann drang es in ihn hinein.

Jetzt sah er etwas, bei geschlossenem Auge. Es war

Die Fontänen

Friedrich schloss seine gichtgeplagten Finger um einen Handwärmer aus Keramik. Angespannt lief er seinen terrassierten Weinberg hinab. Gerade eben hatte er ein Schreiben von Haerlem empfangen: Offenbar sahen einige der störrischen Oderbrücher noch immer nicht ein, dass sie von der Maßnahme profitieren würden, sondern betrachteten die angestrebte Senkung der Pegel ihrer sumpfichten Gewässer mit Grimm. Obgleich Er, der König in Preußen, höchstpersönlich befohlen hatte, dies Volk müsse seine Kähne einsetzen, um Erde für die Dämme zu stellen, erfuhr er nun, dass ganze Dörfer sich weigerten. Höchste Zeit, dass Soldaten kamen. Wachsamkeit war die Mutter der Sicherheit, und es gab keinen Grund, nur eine Spur Rücksicht zu zeigen. Dort im Osten verlief eine Grenze, die entscheidend war, und wer nicht mitzog,

Friedrich hatte das Blumenparterre erreicht und blickte voller Grimm auf den ruhigen Wasserspiegel des großen Bassins, an dessen gemauertem Rand sein Gast wartete. Eigentlich wollte er diesen nicht mehr sehen, doch hatte er ihn für den Nachmittag notgedrungen zu sich bestellt, da die große Fontäne, mit der er sein Sanssouci krönen wollte, noch immer nicht funktionierte. »Stets bersten die Rohre«, sagte er ungehalten anstatt einer Begrüßung und blickte seinen Besucher, der auf ihn zukam und sich verbeugte, mit leicht vorgewölbten Augäpfeln herausfordernd an.

»Weil sie aus Holz sind«, antwortete Leonhard Euler. Die stundenlange Kutschfahrt steckte ihm noch in den Knochen, er fühlte sich selbst ganz hölzern an und so anders als am gestrigen Tage auf dem Kirchturm. Geistig jedoch war er klar und hatte beschlossen, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, sondern die Gelegenheit am Schopf zu packen und sein Versprechen Oda und Radomeer gegenüber einzulösen. Da kümmerte es ihn auch nicht, dass Fredersdorf ihm bei Ankunft bedeutet hatte, auf keinen Fall das Oderbruch zu erwähnen, Seine Majestät habe bereits genügend Ärger damit. »Man muss Rohre aus Blei benützen«, fügte Euler hinzu und konnte sich, da der Geiz des Regenten sprichwörtlich war, den Zusatz nicht verkneifen: »Die kosten natürlich etwas.«

»Was Fragen der Kosten und Nutzen angeht, habt Ihr ja fürwahr eine Art Ehrgeiz entwickelt«, erwiderte

»Jedenfalls möchte ich Eurer königlichen Majestät nicht widersprechen, das wäre närrisch. In Wahrheit hat das Ganze nämlich weder mit Ehrgeiz noch mit Kreativität allzu viel zu tun. Rekapitulieren wir: Der Bericht legt lediglich dar, wie die Sache machbar ist. Eine andere Frage ist, ob alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden sollte. Welche Entscheidungen Eure Majestät treffen, hängt allein davon ab, wie weit Eure Majestät sich gestatten, vorauszuschauen.«

»Für das Projekt sind bereits 200000 Taler verausgabt«, entgegnete Friedrich ungehalten. »Wie viel Silber das gibt, diese Berechnung fällt Euch sicher leicht. Nach ein paar Jahren Steuerfreiheit müssen meine Kolonisten pro Morgen sechzehn Groschen an Pacht abführen. Es ist eine weitere einfache Rechnung, zumal für einen Rechenprofessor, wie viele Kolonisten wir ansetzen müssen, um die Kosten nach welchem Zeitraum wieder eingespielt zu haben. Wisst Ihr, dass ich überall in Europa Stationen aufbaue, um neue Einwohner zu werben? Ich überlasse es Eurer Einschätzung, ob meine Überlegungen langfristig sind.«

»Auch der Sumpf, Eure Durchlaucht, kann in der Zukunft für das Land seine Berechtigung haben. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass manchen Phänomenen der Natur ein noch zu beziffernder Wert beizumessen ist.

»Und dabei sagt man über Euch, Eurer Kalkulationskunst seien keine Grenzen gesetzt.«

»Es ist mein Anliegen, dass man der Wahrheit ins Auge blickt. Eure königliche Majestät hatten mir bei unserem Kartoffel-Diner freundlicherweise angekündigt, die Anschauung vom Schreibtisch reiche nicht. Jetzt haben wir das Resultat, für das Ihr mich ins Feld geschickt habt.«

»Passt auf, dass ich Euch nicht zurück nach Petersburg schicke«, entgegnete Friedrich barsch und sah seinen Besucher mit maskenhaftem Antlitz an. »Wir halten demnächst im Berliner Schloss eine große Konferenz zu der Maßnahme. Alle Grundbesitzer des Bruches werden geladen, um von der Vorzüglichkeit der Trockenlegung, von der alle profitieren werden, zu hören. Ich verbiete Euch hiermit, Eure Ideen zu meinem Vorhaben weiterhin kundzutun. Euer Geld steckt schließlich nicht darin. Und was die Fontänen angeht: Wir werden es weiterhin mit Holz versuchen. Ich werde nicht auch nur einen einzigen Taler verprassen.«

»Wie Ihr wünscht, Durchlaucht«, sagte Euler und erinnerte sich an Katharinas Warnung, dem König stets das letzte Wort zu lassen. Doch er konnte sich nicht beherrschen und fügte hinzu: »Aber dann werden die Rohre bersten.«

Kraniche versammelten sich auf den Schwemmwiesen bei Lewin und um die Große See herum zu Hunderttausenden. Ihr Geschrei, wenn sie sich labten und stärkten für die bevorstehende Reise nach Afrika, hallte über das Bruch. War es einmal ruhig, hörte man in den Dörfern, wie die frisch geschlüpften Störche in ihren Nestern mit noch weichen Schnäbeln vor Hunger leise klapperten. Aber ganz still wurde es nicht mehr in diesem Bruch. Die Arbeiten zwischen dem Krummen Ort und Güstebiese gingen voran, trotz des Todes des Ingenieurs und seines Vorarbeiters. Unmissverständlich musste allen Brüchern mittlerweile klar geworden sein, dass diese Sache real war und nicht mehr von alleine aus ihrer Gegend verschwand. Was hingegen am Entschwinden war, war ebenjene Beschaulichkeit, die dem Sumpf etwas Besonderes verliehen hatte: eine Stimmung, in der auch Wunder geschahen und die die Menschen verzaubern konnte. Nun jedoch lag ab Sonnenaufgang ein Stampfen über den Weiten des Bruches, wenn große Rammen auf den feuchten Boden trafen, um diesen zu festigen. Oder man hörte den rauen Ruf von Kurtz, der im Namen des Königs die Dörfer betrat, um Kähne zu requirieren, Faschinenholz zu verlangen oder die Männer aufzufordern, mit ihm zu kommen und beim Graben mit zu scharwerken.

Eine Zeit des Umbruchs hatte begonnen in diesem hohen Sommer. Immer wieder kam es im Heim der Hechtreißer zu lautstarkem Streit um den richtigen Kurs. Zwar galt Radomeer noch als Autorität und Anführer, doch manche sagten, sein Charakter habe sich verändert und seine Ausstrahlung dadurch gelitten. Aus dem Dorf Reetz

Und wer ihn genauer betrachtete, musste zugeben, dass eine solche Sichtweise nicht ganz von der Hand zu weisen war. Hatte der Wels früher noch, so leidenschaftlich seine Ansichten gewesen waren und sosehr er sich mit seinen Rivalen gestritten hatte, am Ende doch immer ein versöhnliches, alles übergreifendes Wort gefunden und war genau deshalb von allen geachtet worden, war seine Stimmung ins Bittere, Düstere gekippt. Denn einen Plan, wie mit den Veränderungen umzugehen war, besaß er nicht. Hatte er einst die verschiedenen Strömungen seiner Leute in sich aufgenommen, um letztlich eine gemeinsame Richtung vorzugeben, auf die sich alle einigen konnten, entwickelte er sich mehr und mehr zum Solitär und verlor dadurch an Einfluss. Tatsächlich nahm er sich das Vorhaben der Fremden sehr zu Herzen. Die große Grube am Krummen Ort, die Ausschachtung bis nach Güstebiese … für ihn war es, als wühlten die Arbeiter des Königs in seinem eigenen Fleisch herum. Als schnitten sie ihm die Lebenssäfte ab und trockneten seinen ureigenen Körper dadurch aus. Er sah in dem hohen Wall, den Haerlems Männer als Schutzdeich aufschütteten, um den Strom in seinem künftigen Bett zu halten, eine Mauer, die das Niedere Bruch abschneiden würde von jener Ader, die die Nährstoffe brachte und ohne die ein Leben nicht möglich war.

An diesem Abend, demselben, an dem Euler auf dem Rückweg von Potsdam nach Berlin in der Kutsche saß, war es voll im Heim der Hechtreißer, wie jeden Mittwoch, wenn die Männer für den am Tag darauf stattfindenden Wrietzener Fischmarkt den Fang präparierten. Schulter an Schulter

»Und wie willst du das anstellen, alter Mann?« Mecki schnitt mit sägenden Bewegungen einem großen Wels den Kopf ab. »Wisch dir doch erst mal den Bart.«

»Jacht, nüscht als leere Jacht«, hieb der Kopp vom Ende des Tisches in dieselbe Kerbe und sah nicht auf, während er seine Klinge ansetzte und einem prächtigen Zander den Rücken aufriss. »Kein Plan, nur ’ne Klappe zum Mautschen. Dem König ein paar Kähne nicht geben oder

Nun erhob Veit die Stimme. Das passierte sonst nie, wenn sein Vater das Wort führte, und alle schauten ihn aufmerksam an. »Männer«, sagte er und nahm einen vor ihm liegenden Hecht, spaltete ihn mit einem geschickten Schnitt längs des Rückens, ohne ihn voll zu durchtrennen, nahm Hauptgräte und Eingeweide mit präzisen Handgriffen heraus, wobei er Kopf und Schwanz mitentfernte. Er hatte den Tag über an einer heißen Quelle am Jedutenhügel verbracht, immer wieder im kaum auszuhaltenden dampfenden Wasser gesessen, sich zwischendrin im Engelspfuhl abgekühlt. Nun fühlte er sich klar, bis in die Poren entspannt, und er wusste, dass dies sein Moment war. »Es geht hier um nicht wenig«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort. »Wir alle haben Familien und wollen für sie das Beste. Doch manchmal ist das Beste eben nicht, dass man wartet und alles über sich ergehen lässt.« Er schaute sich um und spürte, dass die Männer ihm zuhörten. Er überlegte, wie er fortfahren sollte. Er wusste, er musste die blumige Sprache seines Vaters sprechen, da sie die Seelen der Männer berührte. Aber gleichzeitig sehnten sich alle nach konkreten Anweisungen, wie mit der Situation umzugehen war.

»Es geht hier um etwas, das ich Elixier nenne«, fuhr Veit fort, »etwas, das unser Leben, das wir so lieben, erst ausmacht. Was ich meine? Dieses Elixier ist in jedem Lächeln eines jeden Neugeborenen genauso wie in jedem Blick eines jeden Alten, der sein Leben lang gefischt hat und jetzt vor der nächsten Flut ruhig sitzen kann. Es ist die

Veit pausierte, weil einige vor Empörung aufbrüllten, während andere mit dem Knauf ihrer einschneidigen Hiebmesser auf den vor dunklem Hechtblut funkelnden Reißertisch klopften, sodass ein dumpfes Gepolter die Scheune erfüllte. Animiert fuhr Veit fort: »Du hast richtig gefragt, was wir tun können, Mecki. Wir alle wissen, über manche Dinge spricht man besser vertraulich. Wenn nun gleich der Abend in die Nacht übergeht, bleiben jene hier, die etwas tun wollen. Die anderen fahren auf ihren Nachen nach Hause. Ich sag nur so viel: Noch wird das Wasser für einige Tage steigen. Nutzen wir diese Zeit. Werfen wir diese größenwahnsinnige Sache, bei der wir nicht gefragt worden sind, die aber unser Leben auf so tief greifende Weise verändern soll, auf null zurück.«

Rumi

Einen Gutteil der Zeit bis zur Rückkehr von Leonhard Euler verbrachte Rumi mit der Erstellung der Akten zur Trockenlegung des Bruches. Die hierzu gehörigen Karten, Gutachten, Edikte des Königs, anderweitigen Papiere

Schwer fiel Rumi diese Tätigkeit nicht, wenn er sie auch nicht liebte. Häufig hockte er stundenlang auf einem harten Schemel in seinem Zimmer im Goldenen Löwen, kopierte, nachdem er mit schlanken Fingern die Feder aus dem hübschen Futteral aus Saffianleder genommen hatte, Schriftstücke und schrieb Dinge ab, die nicht von ihm stammten. Auch wenn es innerlich in ihm kochte und er kaum still sitzen konnte, da er noch immer kaum etwas über Raule wusste, nagelte ihn die Disziplin, die er von Schmettau gelernt hatte, am Platze fest, ließ ihn Feldgrößen vermerken, Dammhöhen und Kalkulationen notieren.

Ging etwas schief und sah nicht so sauber wie gewünscht aus, musste das Schriftstück erneut begonnen werden, und häufig passierten solche Fehler ohne sein Verschulden und trotz seiner äußersten Konzentration. Oft war das Papier schlecht gearbeitet, saugte die Tinte auf und verteilte sie wieder nach Gutdünken, wodurch hässliche Flecken entstanden. Mit Leere im Kopf starrte Rumi auf solche Missgeschicke, in solche schwarz glänzenden Abgründe, die er zwar am liebsten bewahrt hätte, doch ging dies natürlich nicht. Manchmal saß er einfach nur da, zwischen Schreibakten, und verharrte in einem Moment der Ruhe, während er in das Nichts eines Tintenflecks sah, der über die Seite mäanderte, verführerisch

Was ihm zu dieser diffizilen, mitunter frustrierenden Arbeit Ausgleich verschaffte, war zum einen das Werk des armenischen Dichters Sayat Nova, zum anderen der Schriftverkehr des von ihm vergötterten Königs, für den aus feinstem Linnen hergestelltes Papier und die edelste Tinte zur Verfügung standen. Diese Briefe zu verfassen, gefiel dem Jungen, und er strengte sich über alle Maßen an.

Soeben hatte Rumi die Vorlage einer Depesche an Karl von Brandenburg so fein säuberlich wie wohlgeschwungen kopiert. Friedrich bat darin seinen Vetter in recht schroffen – Rumis elegant weiche Kalligrafie konterkarierenden – Worten, erst einmal abzuwarten, welche Wirkungen sich durch die Melioration zeigten, bevor über möglichen Schaden und entsprechende Ausgleichszahlungen zu verhandeln sei. Rumi schwang den langen Bogen am Ende der Unterschrift des Königs (ein Bogen, der ihn an eine Biegung in der Oder erinnerte), blies über die noch feuchte dunkelbraune Tinte. Dann fertigte er eine weitere, rascher und auf schlechterem Papier geschriebene Kopie des Briefes an. Diese heftete er in einem weiteren Ordner ab, einem geheimen Ordner, den er

Kutschbahn

Hoch konzentriert, um die vierstündige Fahrt in seiner altmodischen Fensterkutsche von Potsdam nach Berlin effizient zu gestalten, studierte Friedrich all jene Flusskarten, die Fredersdorf, der an einer Erkältung litt, für ihn vorbereitet hatte. Auch der König war gesundheitlich angeschlagen. Er war nicht mehr jung, das spürte er immer deutlicher, sondern ging in Riesenschritten auf die vierzig zu. Es hatte sich in der letzten Zeit eine physiologische Veränderung bei ihm vollzogen, die niemandem, der ihn öfter zu Angesicht bekam, verborgen geblieben war. Nicht nur verlief seine Nase spitzer und sanken die Wangen tiefer ein – häufig fehlte ihm die Muße, um ordentlich zu essen –, auch fielen immer mehr seiner Zähne aus, was zudem das Flötenspiel erschwerte. Friedrich war darüber etwas bitter geworden; den Zopf band er nur mehr streng und hielt ihn stets eng mit Taftband umwickelt, sodass er wie ein Stachel nach hinten stand.

Sie verließen die Bewaldung des Tiergartens und erreichten die Zollmauer mit einer Toranlage aus Pylonen und beigeordneten Wachhäusern. Hier sollte man ein Tor errichten. Rasch, während er draußen die Aufregung der salutierenden Soldaten vernahm, wollte er noch etwas essen, bevor es gleich losging im Schloss. Er krempelte die Ärmel zurück, nahm einen Happen von der italienischen Polenta mit Bœuf à la Russe, hätte aber fast aufgeschrien vor Zahnschmerz, krümelte auf die kostbar bestickte Weste und nahm stattdessen etwas Rebhuhnpastete, die besser zu kauen war, sowie eine Gabel Kalbsbries, spülte mit Champagner nach, den ihm Fredersdorf reichte, welcher erneut unangenehm schnüffelte. Bis zum Schloss waren es nur noch wenige Minuten. Das reichte, um ein Stück Stachelbeertorte und ein Eckchen Marzipankuchen mit Schokolade und Sauerkirschen hinterherzunehmen, zur Beruhigung der Nerven.

Denn die Lage hatte sich zugespitzt und Friedrich dazu gebracht, das große Zusammentreffen der Grundbesitzer des Oderlandes schneller anzuberaumen als ursprünglich geplant. Die Finanzierung des gesamten Projekts war mittlerweile, nicht zuletzt aufgrund eines durch Krankheit bedingten Ausfalls vieler Arbeiter am Krummen Ort, in ein kritisches Stadium getreten. Eine Unsumme an Geld war bereits ausgegeben worden, aber der Kanal, geschweige denn die Deiche, längst nicht fertiggestellt, da es auch immer wieder zu Akten der Sabotage wie dem Schleifen der Deichkronen kam. Außerdem pochten die

Friedrich verdrückte ein paar Kirschen, spuckte die Steine in seine rechte Hand und legte sie auf den Teller. Er schüttelte den Kopf, woraufhin Fredersdorf ihn beunruhigt ansah. »War etwas mit den Speisen nicht recht?«

»Und vor allem mein Vetter muss endlich seinen Widerstand beilegen«, sagte der König wie zu sich selbst. »Schließlich gehört ihm ein Viertel des Landes dort. Er wird doch von gewonnenem Acker am allermeisten profitieren! Dass mancher Mensch sich halsstarrig gegen das Neue sperrt, nur weil es eben das Neue ist …« Wieder konnte Friedrich nicht anders, als sein Haupt zu schütteln.

Aber wieso ging es nicht vorwärts? Warum stand die Kutsche noch immer auf dem öden, sandigen Platz? Friedrich schob den Vorhang zurück. Was er sah, erschien ihm zu bizarr, um wahr zu sein. Dort, auf seiner Lieblingsstrecke, dem Prachtboulevard, trampelten … Schweine. Ekelhafte Säue mit riesigen Zitzen wühlten da im Staub. Ein Hirte war bei ihnen, ein dreckiger Lausebengel, der die Viecher mit einer Gerte antrieb. Und was zum Teufel taten diese Bauernwagen, die in querer Reihung den Verkehr verstellten, beladen mit allerlei Werkzeug, Pflügen, Hausgerät? Noch mehr Vieh sah Friedrich: glotzende Kühe, sogar zwei Ochsen, Schafe, Esel, Ziegen und Hühner, überall Hühner. »Fredersdorf!«, hob er die Stimme. »Man schaffe dieses Gesindel hinfort.«

»Das sind Eure Kolonisten«, antwortete der Kämmerer näselnd verschnupft. »Die ersten. Sie wandern gerade ein.«

»Zwölfhundert Pfälzer aus der Gegend von Zweybrücken.« Fredersdorf musste niesen und entschuldigte sich. »Ein angeblich bescheidener, tatkräftiger, bodenständiger Schlag. Ohne störrisch zu sein oder auf Eigenständigkeit zu bestehen, so heißt es. Sind nur zu früh aufgebrochen, in ihre glorreiche Zukunft. Haben zu schnell ihre Siebensachen gepackt. Übereifrige Untertanen, löblich, nicht?« Er räusperte sich. »Konnten es wohl nicht mehr erwarten, aus ihrer Heimat zu flüchten.«

»Aber ist schon was fertig? Ja, wollen die den Boden bestellen, bevor er überhaupt trocken ist?«

»Da war Lautensack, unser Agent in der Pfalz, wohl übereifrig«, sagte Fredersdorf.

Verblüfft blickte der König nach draußen und seine neuen Untertanen an. Unter diesen sprach sich gerade herum, wessen Kutsche sie da blockierten. In Windeseile verließen sie ihre bäuerlichen Wagen und strömten auf Friedrich zu, ließen aber gebührend Abstand, stellten sich auf, schon brachen sie zu Ehren ihres Königs in Gesang aus:

Isch bin e arma Exulant

So duu isch misch halt schreibe

Ma duut mich ausm Vatterland

Um Gottes Wort vatreibe

E Flüschtling bin ich halt numehr

Muss reise fremde Stroße

Do bitt ich dich, mei Gott unn Herr

Tu du mich net valosse!

»Sprecht zu den Leuten«, sagte Fredersdorf aufmunternd. »Jetzt ist die Gelegenheit. Gebt ihnen eine Geschichte, an der sie sich aufrichten, an der sie wachsen können. Schafft einen Mythos.« Der Diener öffnete das Fenster. Friedrich warf ihm einen wütenden Seitenblick zu, fasste sich aber und rief mit klarer Stimme in Richtung der Menge, die mucksmäuschenstill vor ihm stand: »Ihr seid über die Hügel gekommen, über das Land. Ihr habt Entbehrungen auf euch genommen, um diesen Staat zu erreichen. Helden seid ihr, also geht nur frisch an die Arbeit und bauet mit auf. Wer zu uns gelangt und die Ärmel hochkrempelt, soll nicht umsonst gekommen sein. Wir heißen euch willkommen. Gott bewahre euch.«

Die Pfälzer brachen in Jubel aus. Die Männer warfen ihre Hüte, die Frauen klatschten. Die Kinder spürten die Aufregung und sprangen zwischen ihren Eltern und der königlichen Kutsche durch den Staub. »Der Große!«, riefen einige der Männer, und immer mehr stimmten ein: »Der Große!«

Friedrich schloss den Vorhang. Tränen standen in seinen Augen. Sie hatten ihn so genannt, wie er genannt werden wollte, ohne Befehl! Deshalb hatte er sie ins Land gerufen, allein deshalb. Es hatte sich bereits rentiert. »Stell ihnen Husaren als Begleitschutz«, sagte er zu Fredersdorf. »Aber achte darauf, dass solche Menschen künftig auf der Seite um Berlin herumgeführt werden und nicht mehr mitten hindurch. So können wir unnötigen Éclat und Bruit vermeiden.« Seinem Kutscher rief er zu: »Pfund, jetzt aber los. Die Rennstrecke müssen wir wegen

Der Kutscher schnalzte, zog die Zügel nach links und bog in die Wallgasse ein. Auch ihn schmerzte der Ausfall der geliebten Kutschbahn. Doch mit Verzögerung ans Ziel gelangen würde er deshalb noch lange nicht. Pfund hieb auf die Pferde ein, ließ seine Peitsche knallen und hatte kurz darauf mit biegenden Rädern die sogenannte Letzte Straße erreicht. Von hier aus ging es gerade hindurch, parallel zu den Linden, in Richtung Paradeplatz. Hier war der König, der sonst Hinterwege mied, nie zuvor gewesen. Neugierig blickte Friedrich am Vorhang vorbei nach draußen und staunte, wie geduckt die engen dunklen Fachwerkhäuser standen, allesamt noch mit Stroh oder Schindeln gedeckt. Der Geruch, der ihm entgegenströmte, war erbärmlich und stammte von den Rinnen auf beiden Seiten des unbefestigten Weges, in die eine stinkende Brühe aus Kot und Urin aus den Häusern abgeleitet wurde. Streunende Hunde mit krätzigem Fell lieferten sich Kämpfe, armselig gekleidete Mägde schleppten gefüllte Kannen und Bottiche mit Brunnenwasser von hier nach dort. Halb verhungerte Kinder, Fünfjährige, Sechsjährige, Jungen wie Mädchen, saßen hinter den offenen Holztoren der Manufakturen an Webstühlen, spannen Seidenfäden. Ein mit Erbrochenem gefüllter Nachttopf wurde knapp neben der vorbeijagenden Kutsche aus einem Fenster gekippt.

Als sie das Molder Loch erreichten, einen armseligen Platz, wo sich die Stadt in den Ausläufern eines versumpften Spreearmes verlor, ging es wieder nach rechts. Über

Der Kasten

Rumi lief zum Hafen, um mit den Fischern zu reden, die über die Vorgänge im Bruch stets einiges wussten. Doch als er das windschiefe Fachwerkhaus passierte, auf dessen Schild Zur Großfriedrichsburg geschrieben stand, kam überraschend Raule aus dem Eingang hervor. Instinktiv versteckte sich Rumi hinter einer Häuserecke und beobachtete ihn.

Er hatte nicht gewusst, dass Raule, der vor der Tür stehen blieb und sich in aller Seelenruhe eine Pfeife füllte, in

Doch was hatte Raule in der Großfriedrichsburg zu suchen gehabt? Dass der Betreiber des Goldenen Löwen ein Freudenhaus aufsuchen würde, überraschte Rumi. Bislang hatte er vermutet, dass Raule Beziehungen zu Lulu unterhielt, auch wenn ihm deren Natur ebenfalls schleierhaft blieb. Lulu und Raule wirkten, ohne es verbergen zu können, intim. Sie zeigten dies aber nie offen. Lulu war Raules Angestellte und schmiss den Laden, während er Buchhaltung und Finanzen regelte und vergleichsweise selten im Hotel zu sehen war. Offenbar schenkte er Lulu volles Vertrauen, was das Tagesgeschäft anging. Auch sonst schienen die beiden sich blind zu verstehen, und doch hatte Rumi sie nie in sein Zimmer oder ihn in ihres gehen sehen. Nun also kam Raule aus der Burg, wie jenes Etablissement mit zweifelhaftem Ruf auch genannt wurde, in dem neben Gloria noch weitere Damen arbeiteten, und der zufriedene Ausdruck in seinem grobschlächtigen Abenteurergesicht deutete darauf hin, dass er nicht nur zum teutschen Caffee dort gewesen war.

Rumi beschloss, ihm zu folgen. Die Technik der unauffälligen Beschattung hatte er im vergangenen Jahr von Schmettau erlernt. Das Wichtigste dabei war, eiserne Nerven und Selbstkontrolle an den Tag zu legen. Problematisch

Gemessenen Schrittes ging Raule die Hauptgasse der Unterstadt entlang. Hier war genügend Betrieb, sodass Rumi in einem Abstand von etwa zehn Metern unauffällig blieb. Hin und wieder stoppte Raule, und sofort hielt auch Rumi an. Einmal erstand er von einem Händler eine frittierte Kohlmeise, die er sich gierig in einem Happen einverleibte, ein andermal pausierte er, um sich in einer Auslage etwas anzusehen.

So ging es einige Minuten durch das Gewirr der Unterstadt. Noch konnte sich Rumi keinen Reim darauf machen, wohin Raule unterwegs war. Seine Schlaufen durch die Gassen waren weit gezogen, und mehrfach passierten sie Ecken zum zweiten Mal. Spürte er, dass jemand hinter ihm her war? Oder ließ er sich beliebig treiben? Doch dazu passte nicht der rasche Gang und seine zielstrebige Haltung. Abrupt stoppte Raule erneut. Rumi drosselte seine Geschwindigkeit nicht, weil dies zu auffällig gewesen wäre, sondern ging mit zügigem Schritt unweit an ihm vorbei, ohne ihn anzuschauen. Rasch bog er hinter die nächste Ecke und blieb mit klopfendem Herzen stehen.

Rumi betrat das gut gefüllte Wirtshaus Adler, das sich eine Ecke weiter befand, aber einen lückenlosen Blick auf den Tischler bot. Er setzte sich ans Fenster, bestellte ein Bier, wischte einen goldenen Diebskäfer vom Wachstuch und wartete ungeduldig, bis fertig gezapft war. Als der Humpen endlich vor ihm stand, trank er ihn in einem langen, genussvollen Zug aus. Was man ihm serviert hatte, war ein Freyenwalder und weniger seifig als das trübe Wrietzener. Er blickte durch die angelaufenen Scheiben. Noch immer war Raule nicht wieder aufgetaucht. Angenehm regte der Alkohol seine Nerven an. Da durchzuckte

Auf dem Fischmarkt packten die Händler gerade ihre übrig gebliebene Ware für den Markt in Oderbergk ein, der am Tag darauf, also freitags, gehalten wurde. Eine alte Frau schleppte schwer an einem Bottich voller noch lebender Sumpfschildkröten, eine andere, die Rumi entgegenkam, hatte sich mehrere Aale über die Schulter gelegt. An einem länglichen Tisch, der leer geräumt, auf dem aber frische Blutspuren zu sehen waren, saß Kurtz (der weder Rumi noch Raule bemerkte) mit ein paar Fischern und Hechtreißern. Sie genossen den Feierabend und tranken Gerstenbier. Die Glocke der Laurentiuskirche schlug fünfmal.

Anstatt über den Markt zu laufen, ging Raule nach rechts, bewegte sich an dessen Rand entlang, bog an der nächsten Ecke links ab und an der folgenden wieder. Er hatte die kotige Gasse hinter dem Goldenen Löwen erreicht. Vor dem Kellereingang des Hotels hielt Raule an. Wieso war er nicht viel zielgerichteter dorthin gelaufen? Ein Hahn krähte trotz der späten Stunde. Mit seiner freien Hand kramte Raule in seiner Rocktasche herum, nahm einen Schlüssel heraus. Er sah sich um, ohne Rumi, der hinter einem Schuppen für Brennholz stand, zu entdecken. Dann stocherte er im Schlüsselloch, hatte

Er stand im Dunkeln. Links ging es in den Keller hinab. Dort brannte eine glockenförmige Rübölfunzel. Rumi war erst einmal dort unten gewesen, um für Lulu ein Bierfass zu holen. Mit angehaltenem Atem stieg er die Stufen hinab. Als er unten ankam und nach rechts in den langen Kellergang blickte, sah er dort eine Fackel. Raule musste sie angezündet haben. Doch war er nirgendwo zu sehen. Kein Laut war zu hören, der Keller lag vollkommen still. Langsam lief Rumi den Gang nach hinten. Links und rechts gingen die vergatterten Kellerräume ab. Die Wände und der Boden waren dunkel vor Feuchtigkeit, und in der Luft hing jener modrige Geruch, den die Faule See in manchen Nächten hatte. Als er um eine Ecke bog – so weit war er noch nie in diesen Keller vorgedrungen –, sah er eine zweite Stiege, die wieder nach oben führte. An ihrem Fuß stand der ominöse, an seiner Oberseite mit feinmaschigem Draht bespannte schwarze Kasten. Die Klappe am oberen Ende der Stiege stand offen.

Rumi versuchte zu hören, ob sich jemand über ihm

 

Rumi ging den gleichen Weg zurück, den er gekommen war, lief an dem länglichen Kasten vorbei, durch den Keller hindurch, zurück auf die Gasse und setzte sich in die

Rumi wünschte sich, Leonhard Euler wäre vor Ort gewesen, um mit ihm diese neusten Entwicklungen besprechen zu können. Gleichzeitig erregte es ihn, so ganz auf sich gestellt zu sein, und er beschloss, kein weiteres Bier zu bestellen, auch wenn es ihn danach verlangte, sondern klaren Verstandes zu bleiben. Er spürte, dass er auf der Hut sein musste, und begnügte sich mit einem großen Glas gekühlter Ziegenmolke, die ihn augenblicklich erfrischte. Nach etwa einer halben Stunde kam Raule zurück, wieder mit dem länglichen Kasten unter dem Arm. Gemächlich lief er um sein Hotel herum und betrat es über den vorderen Eingang. Rumi nickte dem Wirt der Lilie zu, legte vier Pfennige auf die Theke und ging nach draußen und ebenfalls in die Gaststube des Löwen. Weder Lulu noch Raule waren zu sehen. Lediglich ein alter Fischer lag auf der Ofenbank vor dem Fenster, das auf den Marktplatz ging, und schnarchte.

Da hörte er, wie jemand mit schweren Schritten die Treppe herunterkam. Rumi versteckte sich hinter der halb offenen Tür der Abstellkammer für das Gepäck der Gäste. Es war Raule. Wieder trug er den großen Holzkasten unter dem Arm. Doch war es derselbe? Der feinmaschige Draht zeigte an mehreren Stellen Risse, und die

Langsam lief Rumi den Gang entlang. Vor der Nummer 7 hielt er inne. Darin wohnte derzeit Haerlem. Rumi blickte zu Boden. Auf der Türschwelle waren Spuren von rotem Matsch. Er bückte sich und spähte durch das Schlüsselloch. In dem kleinen Ausschnitt war neben der Einrichtung, wie er sie auch aus seinem eigenen Zimmer, der Nummer 4, kannte, nichts weiter zu sehen. Rumi drückte die Klinke nach unten. Es war abgeschlossen. Rasch lief er ins Parterre zurück, wo noch immer nur der schnarchende Fischer auf der Ofenbank lag, warf einen Blick auf die geschlossene Tür von Lulus Kammer, ging hinter die Rezeption und nahm sich den Schlüssel vom Brett. Mit klopfendem Herzen eilte er nach oben, schloss die Tür zur Nummer 7 auf und trat ein, wobei er sich ducken musste, da im Türrahmen, der nach Essig roch, ein dickes Bündel belaubter Walnusszweige hing.

Er brauchte sich nur kurz umzuschauen, dann hatte er den schwarzen Kasten entdeckt. Er war genau unter dem Waschtisch eingepasst. Oben war der Kasten offen, wenngleich mit jenem Draht bespannt, dessen Maschen in etwa die Größe hatten, dass man einen kleinen Finger hindurchstecken konnte. Rumi stand eine Weile davor. Welchen Sinn hatte dies alles? Er nahm den Krug und wusch sich die Hände. Nun bemerkte er, wie das Brauchwasser über die leicht schief gesetzte Platte des Waschtisches lief und sich in dem schwarzen Kasten darunter

Das Schloss

Staatsminister Samuel von Marschall fühlte eine leichte Übelkeit und nestelte an dem kleinen Stehkragen herum, der den Übergang seiner Weste zu der schwarzseidenen, engen Halsbinde bildete. So ging es ihm nun seit ein paar Tagen: immer wieder diese Übelkeit, ein unangenehmes Seitenstechen und Kältezittern in den Extremitäten. Mal waren es die Hände, dann die Füße, dann der ganze Oberkörper. Dann fühlte er sich schlagartig wieder wohl. Am gestrigen Abend war er von seinem Gut in Ranfft angereist, hatte die Nacht in seiner Stadtresidenz, dem Palais in der Wilhelmstraße Nr. 8, verbracht und nun seinen Platz in dem ganz in Silber, Weiß und Gold gehaltenen Rittersaal eingenommen, dessen Wände gelber Stuckmarmor verzierte. Den König, der soeben eingetroffen war und mit seinem Kämmerer die Ansprache durchging, hatte er bereits begrüßt. Kurz hatte Friedrich Marschalls Skepsis bezüglich des Kolonistenwesens angesprochen (die Pfälzer hatten Friedrich geradezu enthusiastisch gemacht) und dabei auch seinen Posten als Leiter desselben infrage gestellt. Eines Postens im Übrigen, den der Minister nur angenommen hatte, weil er weit mehr als die Neubesiedlung des Oderbruches betraf, sondern die zielgeführte Anwerbung auswärtiger Siedler und Flüchtender für das

Soeben trat Karl von Brandenburg ein, begleitet von seinem Diener, einem jungen, rot livrierten Mohren, und lief ganz in der Nähe vorbei, ohne Marschall auch nur im Geringsten zu beachten. Der Staatsminister wusste, dass der einen hohen Federhut tragende Prinz und Herrenmeister der Johanniter ihn nicht ausstehen konnte und überzeugt davon war, er besetze ein Amt bei Hofe, das urmärkischen Familien zustehen sollte, nicht Zugereisten wie ihm. Karl nahm kein Blatt vor den Mund, um überall zu verbreiten, Marschall sei in Wahrheit nur ein Parvenu, eine Canaille und gar kein »richtiger«, kein »echter« hiesiger Adel. Marschall wiederum war über die fehlende wirtschaftliche Expertise bei den Johannitern genügend in Kenntnis gesetzt, um anzunehmen, dass er selbst viel

Doch musste ihn der Prinz und Markgraf deshalb mit derartiger Verachtung behandeln? Marschall wusste, er war ohnmächtig gegen einen solch mächtigen, wenngleich bornierten Mann und musste kuschen, egal, was Karl über ihn verbreitete. So schrieb es das Geburtsrecht nun einmal vor, und im Grunde war das gut so und musste so sein, damit die gegenwärtige Ordnung, an die Marschall mehr glaubte als an irgendetwas anderes auf der Welt, bewahrt blieb. Deswegen – wenn man die persönlichen Animositäten einmal beiseiteließ – war ihm die Argumentation Karls gegen die Trockenlegung auch keineswegs fremd oder unverständlich. Zwar schob der mächtige Grundbesitzer und Führer der Johanniter monetäre Gründe ins Feld, doch ging es nicht um Grundlegenderes? Mit seinem Taschentuch wischte sich Marschall den Schweiß von der Stirn. Eben überraschte ihn ein kalter Schauer, der ihm sogar die Zähne klappern ließ.

Der Saal füllte sich. Auch Fritze machte Marschall aus sowie den in soldatisch knappen Offiziersrock gekleideten Kammerdirektor Schmettau, den Finanzexperten Beggerow, den hohen Offizier Retzow, die Minister Boden und Blumenthal, den Bürgermeister von Freyenwalde sowie

Ach, die Bauern, dachte er jetzt. Überall im Bruch, wenn die Maßnahme nicht noch scheitern würde, wären die Bauern bald frei und würden im Zuge der Neugestaltung des Landes auf Zusammenlegung ihrer einzelnen Stücke drängen – und dadurch immer mehr selbst Subjekte werden und sich infolge aus der jahrhundertealten Tradition, wie der Grund und Boden zu verteilen war, lösen. Landreform. Dies schlimme Wort. Davor war Karl von Brandenburg bange. Es würde zu Unruhen kommen. Man brachte jetzt, wenn man nicht achtgab, einen Stein ins Rollen, und irgendwann hatte man einen Bauernstaat, und wo heute das Schloss stand, gäbe es in einer unseligen Zukunft, die den Glauben an Gott verloren hatte, womöglich einen Palast für jene Bauern. Jede Neuerung bedeutete einen potenziellen Eingriff in die Herrschaftsstrukturen, die doch vom Herrn gewollt waren. Dessen muss man sich bewusst sein. Jene Aussage des Königs, nur der erste Diener seines Staates zu sein, hatte fürwahr etwas Ketzerisches. Ja, wir Adeligen schalten uns gerade selbst aus, dachte Marschall, in dem die Verbitterung ganz rasch aufgestiegen war, während in diesen Momenten der König in Preußen,

In seiner Rede vor den Vertretern der Rittergüter, Städte und Orden erklärte Friedrich, dass es sein Wille sei, auf dem entwässerten Bruch nach einem sorgsam kalkulierten Plan über 130000 Morgen neuen Landes zu gewinnen und darin insgesamt eintausendzweihundertzweiundfünfzig große Familien von Einwanderern anzusiedeln. Die Bevölkerung der Gegend werde sich dadurch vervielfachen, und es würden dreiunddreißig neue Ortschaften entstehen. So habe man die Kapazitäten berechnet, und in mindestens solcher Höhe stünden die Interessenten bereit. Da diese Kolonisten auch auf Gebieten angesetzt würden, die im Besitz der Anwesenden seien, kämen auf diese zunächst Investitionen für den Bau der Häuser und Ähnliches zu. Falls die Kosten für diese erforderlichen Etablissements nicht aus eigenen Mitteln bestritten werden könnten, biete Er ihnen an, die benötigten Kapitalien zu nur fünf Prozent Zins zu leihen. In bequemen Raten von 500 und 1000 Talern könnten diese nach und nach rückgezahlt werden. Er persönlich bürge für das Geschäft. Ohnehin würden von diesen Familien über die Hälfte, nämlich sechshunderteinundvierzig, auf Seinem eigenen Land angesiedelt. Weitere einhundertneunzig auf dem Gebiet des Markgrafen Karl – Friedrich nickte seinem Vetter lächelnd zu –, gerade einmal zweiundvierzig in Wrietzen und Oderbergk – und nur der Rest (er sprach die Zahl, immerhin dreihundertneunundsiebzig Familien, nicht aus) auf den Ländereien des Adels. Zudem sei darauf

In knappen, präzisen Worten formulierte Friedrich danach seine Zielsetzung: Preußen sei ein Staatskörper mit zu geringer Bevölkerung, gerade die Mark zu dünn besiedelt und durch die Kriege weiterhin ausgezehrt. Das ändere er nun. Menschen, die in ihren Heimatländern wegen ihres Glaubens verfolgt oder durch maßlose Abgabenforderungen verarmt seien, erhielten dadurch eine neue Chance und Möglichkeit. Es sei eine Sache, Land durch Krieg zu gewinnen, eine andere, bereits besessenes Gebiet durch innere Kolonisation urbar zu machen und zu peuplieren. Und was sei eine Scholle schon wert, besaß man keine zweibeinige Ressource, die diese bestellte?! Auch habe man mit der Ansiedlung der Hugenotten in Berlin bereits gute Erfahrungen gemacht, die bewiesen, dass die Eingliederung fremder Menschen durchaus gelinge.

Nach der Ansprache, die mit viel Ruhe aufgenommen wurde, zog sich der König erschöpft, aber zufrieden, weil er glaubte, großen Eindruck gemacht zu haben, mit seinem Gefolge in sein prächtig eingerichtetes rundes Arbeitszimmer im Schlossplatzflügel zurück. »Na, wie haben die Stände es wohl aufgenommen?«, fragte er Schmettau, der mit wachsweißer Miene und Aktentasche unter dem Arm neben ihm hereilte.

»Willensstärke und Mut zeichnen Euch aus, Eure Majestät. Eine historische Weichenstellung ist mit der Peuplierungspolitik verbunden, deren Tragweite erst künftige Generationen zu erfassen mögen.«

Friedrich blieb stehen und blickte ihn aufmerksam an.

»Es mag derzeit noch wie eine einsame Entscheidung aussehen«, antwortete Schmettau. »Man muss die Skepsis verstehen: Teilweise sind die Stände hoch verschuldet. Der Ritter Mentzel beispielsweise hat auf seine mit 60 Talern pro Morgen erkauften Güter 43 Taler pro Morgen eingetragene Passiva. Er hat mir vorhin vorgerechnet, dass ihn jeder Flüchtling 600 Taler kosten wird. Dies könne er unmöglich tragen und bittet deshalb, die Zahl der bei ihm Anzusetzenden zu halbieren. Auch der hier anwesende Ritter Kersten zeigt sich nicht umgänglicher. Er ist ebenfalls hoch verschuldet und hat uns eine Überschlagsrechnung vorgelegt, in der er behauptet, dass er bei jeder neu eingesetzten Familie Geld verliert. Auch die Stadt Wrietzen beschwert sich. Sie habe schon vor mehr als zwanzig Jahren die zu ihr gehörigen Lücher auf eigene Kosten geräumt und durch Grabenziehungen urbar gemacht und unter die Hausbesitzer verteilt – weshalb die Stadt nicht verstehe, wo die von ihr zusätzlich verlangten 644 Morgen hergenommen werden sollen, um die anvisierten Flüchtenden darauf anzusetzen. Und der Markgraf hat ebenso diskret wie deutlich artikuliert, dass er die beinahe 65000 Taler, die von ihm verlangt werden, nicht leisten kann.«

Friedrich zuckte mit den Schultern und schob seine Unterlippe vor. Dann schaute er Schmettau mit seinen wasserblauen Augen einen Moment lang sprachlos an. Mit einem Male realisierte er, dass er die Stimmung im

»Ein Staat, der Ausländer den Eingeborenen vorzieht«, begann Schmettau vorsichtig, aber klar in der Wortwahl, da er wusste, dass Friedrich die deutliche Aussprache schätzte, »erweckt den Neid seiner Untertanen und verschließt sich ihren Herzen. Welcher Vater nährt fremde Kinder und lässt die eigenen darben? Selten auch werden Ausländer Patrioten und gute Bürger. Sie laben sich zwar an den Brüsten des Staates, verlassen ihn aber zur Zeit der Not und der Gefahr. Ankömmlinge, Flüchtende, Kolonisten, Einwanderer – wie auch immer man sie nennt – werden sich darüber hinaus in moralischer Hinsicht noch über Generationen hinweg von den Eingesessenen unterscheiden und eben nicht zu ihrem Vorteil.«

Friedrich überlegte eine Weile, bevor er antwortete. Zwar leuchtete ihm die Argumentation Schmettaus auf eine Weise sogar ein, doch weigerte er sich standhaft, dies zu akzeptieren. Stattdessen sagte er: »Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie professieren, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Mosqueen und Kirchen bauen.«

Mit diesen Worten setzte er sich an seinen mit Ebenholz furnierten und aufwendigen Blumenmarketerien und vergoldeten Messingbeschlägen verzierten Schreibtisch, stellte seinen Kelch ab und schichtete einige der Unterlagen um, die Fredersdorf für ihn ausgelegt hatte. »Notiere«, wandte er sich an den Kämmerer, der neben

»… unter der Hand bekannt macht«, wiederholte Fredersdorf beflissen, tauchte die Feder in die Tinte, doch führte er diese nicht zum Schreibpapier zurück, sondern schaute auf und hustete.

»Ist etwas?«, fragte der König ungeduldig. »Wir haben im Übrigen ein Gehuste in dem Schlosse, als wenn tausend Märzschafe hereingetrieben worden wären. Schreibe, Fredersdorf: Für Unterbringung dieser Leute wird, so ergeht mit heutigem Dato meine Order, die nötige Veranstaltung gemacht. Es dient dabei auch zur Nachricht, dass ich selbigen zu ihrer Herreise, welche sie binnen vierzehn Tagen vollenden können, an Diäten täglich auf eine erwachsene Person …« Friedrich machte eine Pause und überlegte, welche Reisespesen er zu zahlen bereit war. Dabei sah er wohlwollend aus dem großen, mit Blei eingefassten Fenster auf den Linden-Boulevard hinab. Dort zog noch immer und in aller Selbstverständlichkeit im Schneckentempo der lang gestreckte Tross der Pfälzer entlang. Mehrere der Bauernwagen hatten sich, um Pause einzulegen, in einem Halbkreis formiert, in dessen Mitte ein Lagerfeuer brannte. Ein ganzes Schwein drehte man dort am

»Mein lieber Vetter, Ihr zahlt diesen Massen dafür, dass sie sich auf den Weg zu uns machen? Müsste dies nicht vielmehr mit allen Mitteln, selbst gewaltigen, verhindert werden?« Karl von Brandenburg, das schwarze Cape mit dem silbernen Johanniter-Stern lässig um die Schultern drapiert, stand neben Friedrichs Schreibtisch und verneigte sich. Dann setzte er sich in das rot bespannte, reichhaltig verzierte Fauteuil daneben und sah seinen Cousin herausfordernd an.

Friedrich blickte mit einer Mischung aus Verwunderung und Ablehnung zurück und antwortete mit melancholisch eingefärbter Stimme: »Das Volk will mich, wenn ich kriegerisch bin, lieber Karl. Dafür jubelt es mir auf den Chausseen zu, liebt mich, schenkt mir Ruhm. Und auch Ihr habt mich bei dieser Tätigkeit mit vorbildlichem Einsatz und heldenhafter Kraft in dem Kampf um Schlesien unterstützt. Aber für meine Flüchtenden werden mir Knüppel zwischen die Beine geworfen. Da werde ich ausgelacht. Dabei liegt genau hierin die wahre große Politik, die Ausdruck unseres philosophischen Gemütes ist und die Erwartungen aller bei Weitem übertreffen wird.«

»Aber muss sich nicht jeder Staat«, insistierte Karl, der wusste, dass er nicht lockerlassen durfte, wenn er etwas bei Friedrich erreichen wollte, »mit einer solchen Welle, wie Ihr sie lostretet, schwertun? Zumal wenn ein stabiles wirtschaftliches Gefüge und starke Ordnungsliebe

Friedrich trank seinen Kelch in einem langen Zug aus und entgegnete ruhig: »Die Zuwanderung mag den Boden untergraben, auf dem wir stehen. Doch sie lockert ihn auch. Das sind Friktionen, die wir auszuhalten haben. Sie machen alles dynamisch. Jede Kolonisation ist ein Kampf nicht alleine mit den Naturkräften, sondern vor allem zwischen den überlieferten Sitten und Gewohnheiten der Eingesessenen und jenen der Neuen. Aber es ist auch ein Kampf zwischen dem Schlendrian von gestern und den strengeren Anforderungen von morgen. Manchmal widerstrebt es sich da, und es müssen neue, unbekannte Wege mutig beschritten werden. Es sind nicht bloß wirtschaftliche Fortschritte, auf die es ankommt, es sind auch kultürliche, und immer sind es auch Reformen der Verwaltung. Worum es mir hier geht, ist eine sociale, gemeinschaftliche Tätigkeit, die von höchsten Gesichtspunkten geleitet ist. Ist dies verständlich?«

»Die Pläne sehen über dreihunderttausend neue Menschen vor«, erwiderte Karl und sah seinen Vetter eindringlich an. Seine schönen pechschwarzen Brauen hatten sich zusammengezogen, sodass sie sich beinahe berührten. »Mit Verlaub, das ist das Dreifache der jetzigen Population unserer Hauptstadt. Es erfordert eine starke Narration, so viel Verschiedenes integrieren zu können. Doch was sollte diese letztlich anderes sein als Gleichmacherei? Man verliert den Kern. Das macht auf mittlere Frist

»Ihnen, Vetter, geht es doch primär ums Geld«, sagte der König verärgert über so viel Kritik, die fast schon an Hetze grenzte, und er sah Karl ebenso herablassend wie spöttisch an. Der anregende, etwas zu schnell getrunkene Champagner hatte die Nerven des Königs erregt, und er spürte, wie ihn seine Vision immer enthusiastischer stimmte, auf je mehr Unverständnis sie stieß. Ein spitzbübisches Lächeln überstrahlte sein Gesicht. »Ich gebe meinen neuen Subjekten sogar kostenloses, neu geschmiedetes Ackergerät zur Begrüßung. Es soll uns doch keiner verhungern, bevor er nicht selbst in der Lage zum Anpflanzen ist. Ein jeder wird früh genug merken: Im Leben gibt es nichts geschenkt, und hierzulande schon gar nicht.«

»Mit Verlaub, Eure Majestät«, schaltete Marschall sich ein. »Um die Sache einmal von einem weiteren Blickpunkt her zu beleuchten und weil ich selbst schon Erfahrung sammeln konnte mit der Eindeichung des eigenen Gutes vor Ort, sei mir folgender Zusatz gestattet: Der Bericht der Oderbruch-Commission stellt dar, wie ein

»Schwarzmalerei«, entgegnete Friedrich ungehalten. »Wieso würde aus Schlesien eine Gefahr drohen? Nicht umsonst gehört es nun zu uns, sodass wir vor Ort jede Maßnahme zu treffen in der Lage sind.«

»Wieso Gefahr drohen könnte?« Marschall hob seine angegrauten Brauen: »Stärkerer Regen als gewöhnlich, Waldbrände, der Abrutsch von Erde und Grund. Ehe man sich’s versieht, kommt der ganze Schwall.«

Der Ritter Kersten trat einen Schritt nach vorne und verbeugte sich: »Mit Verlaub, Eure Majestät: Es sollen sich, wie Eure Majestät gefordert haben, alle erklären, ob sie die Kosten für die Errichtung der Etablissements für die Flüchtenden tragen. Doch eine solche Angabe kann guten Gewissens nur nach Durchstechung und Inbetriebnahme des Kanales gemacht werden. Erst wenn sich beweist, was an nutzbarem Boden tatsächlich zuwächst, kann der Gewinn erkannt und die Investition zugesagt werden. Erst dann weiß man, wie vielen Kolonisten Platz geboten werden kann.« Noch einmal verneigte sich der Ritter, dann trat er wieder zurück.

»Es ist nun einmal unser Wille, dass sie kommen, und so wird es auch sein.« Friedrich machte eine Handbewegung, als könne er damit alle Bedenken zur Seite wischen.

Und ging der Gedanke nicht noch weiter, überlegte Friedrich, vor dessen Augen in diesen Momenten alles verschwamm und der wie hinter einen Schleier

»Es ist gut, meine Herren«, sagte er mit einer Selbstsicherheit, die keinen Widerspruch mehr duldete, und er spürte, wie die Größe jede Pore seines Leibes durchströmte. »Wir haben Eure Meinungen gehört und werden diese so evaluieren, wie ihnen angemessen ist.«

 

An diesem Abend, draußen regnete es, und ein Wind heulte um die dicken Mauern, ging Friedrich in den Keller des Schlosses, wo in einem Tresor, den sein Vater angeschafft hatte, der Staatsschatz lagerte. Mit einem großen, schweren Schlüssel öffnete er den massiven Schrank. Acht Millionen Taler in Silber befanden sich darin, in mehreren Säcken verpackt. Eine Million alleine, wenn die Rechnung stimmte, verschlang am Ende das Trocknen des Oderbruchs.

Ich habe keinen einzigen Groschen zur Verschwendung, dachte er und schob die Unterlippe vor. Ein Regent musste Prioritäten setzen, auch wenn es schmerzte. Er seufzte und atmete etwas unruhig in der dumpfen Luft. Rohre aus Holz würden es auch zukünftig sein. Die Schlacht um das Oderbruch, die längst nicht gewonnen war, verlangte alle Ressourcen.

Und dazu gehörte nicht nur, dass er nun Soldaten hinschickte, sondern auch, dass er sich selbst in vorderste Reihe begab, so wie es sich für einen Feldherrn geziemte. Ich werde das Bruch bereisen, beschloss Friedrich. Dann griff er mit beiden Händen in einen der großen Säcke und ließ die Münzen befriedigend schwer über seine Finger gleiten.