Image Kapitel 18

Harry und ich fuhren nach Mobile zurück und arbeiteten schweigend Rudolnicks Patientenakten durch. Unsere schwelende Übellaunigkeit – angestachelt von einem falschen Wort, einer zweideutigen Geste oder einer Bemerkung von unserem Klugscheißer Pace Logan – kam bei den Kollegen nicht gut an, doch da Buck Kincannon uns beiden zugesetzt hatte, waren wir wenigstens voreinander sicher.

Nachdem Harry sich eine Stunde lang mit Begriffen aus der Psychotherapie herumgeschlagen hatte, legte er einen Stapel Akten in die Kiste zurück. »Was hältst du davon, wenn wir Terry Baney mit dem Lastwagenfahrer zusammenbringen und er eine Zeichnung für uns anfertigt, die wir auf der Straße verteilen?«, schlug er vor.

Terry Baney war unser Phantomzeichner. »Was willst du mit einer Zeichnung? Der Täter hat kein Gesicht, das man zeichnen könnte, Harry. Wir haben einen Augenzeugen, richtig? Und wenn man seinen Worten Glauben schenken darf, sieht unser Täter wie ein Wookie aus. Oder wie ein Yeti.«

»Wenn du einem Yeti auf der Straße begegnen würdest, würdest du dich auch an ihn erinnern, Carson. Oder?«

Eine Stunde später standen wir in Arlin Dells mit Blumen übersätem Krankenhauszimmer. Inzwischen hatte man ihn von den meisten Geräten abgehängt. Der Lastwagenfahrer schaute mürrisch drein, weil er unsere Bitte ziemlich komisch fand.

»Alles, was ich gesehen habe, waren Haare. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt«, murrte Dell. »Erinnern Sie sich an Cousin Itt aus der Addams Family? Den müssen Sie zeichnen, aber lassen Sie den Hut weg.«

»Das war eine Melone«, korrigierte Baney ihn. Er setzte sich auf einen Stuhl neben Dells Bett. In der einen Hand hielt er ein Zeichenbrett, in der anderen einen dicken Bleistift. Harry und ich lehnten an der Wand.

Dell verdrehte die Augen. »Melone, Zylinder, was auch immer.«

Terry Baney war dreiundvierzig Jahre alt und wirkte wie jemand, der sich eher mit Versicherungsstatistiken befasste als mit Zeichenutensilien. Er war zierlich, trug eine Brille, hatte pomadisiertes Haar und rote Bäckchen. Den Anzug, den er trug, hatte er wahrscheinlich auf einem Kaufhaus-Grabbeltisch erstanden und den einzigen künstlerischen Touch, den er sich leistete, war eine Westernkrawatte und eine silberne, mit Türkisen besetzte Gürtelschnalle. Doch war der Mann extrem begabt, verfügte über die Fähigkeit, Erinnerungsfetzen aus Augenzeugen herauszuholen und diese in Zeichnungen umzusetzen, die zwar nicht mit einem Foto mithalten konnten, dafür aber etwas anderes besaßen: emotionalen Informationsgehalt.

Baney zeichnete drei Formen auf seinem Brett, einen abgeflachten Kreis, einen Kreis und ein längliches Oval. Anschließend drehte er das Brett in Dells Richtung und tippte mit dem Bleistift auf die Formen.

»Welche von diesen drei Grundformen hatte der Kopf des Täters?«

»Ach, kommen Sie«, knurrte Dell.

Baney lächelte nonchalant und hielt dem Lastwagenfahrer das Brett beharrlich vor die Augen.

Dell überlegte kurz. »Die mittlere. Vielleicht ein bisschen kantiger, wie eine Kiste.«

Baney riss das Blatt ab und warf es auf den Boden. Er malte einen eher viereckigen Kreis und fügte Linien hinzu, die eine Frisur andeuten sollten.

»Die Haare, sind sie ganz glatt heruntergefallen? In etwa so?« Er zeichnete vertikale Linien auf das Oval. »Oder war es eher seitlich aufgebauscht so wie hier?« Baney malte nun Striche, die leicht abstanden, und schuf damit eine Dreiecksform.

»So. Es war aufgebauscht.«

»Waren die Haare aufgebauscht und glatt? Oder waren es Locken, so gekräuselt wie hier?« Baney zeichnete gewellte Linien.

»Nein, anders. Das Haar war glatt.«

Baney riss die Seite ab und fing auf einem neuen Blatt von vorn an.

»Die Augen des Mannes, Mr Dell. Sie haben gesagt, sie hätten in dem Haarwust wie Löcher ausgesehen.«

Dell betätigte den Schalter, mit dem er das Bett verstellen konnte, bis er höher saß. »Nur Löcher. Und sie waren ganz schön tief. Als hätte ihm jemand die Augen eingedrückt.«

»Lassen Sie uns mal über die Form sprechen. Runde Löcher wie die hier?« Baney zeichnete seine Phantasie. »Oder waren sie eher so?« Seine Hand flog über das Papier, zeichnete, verwischte, formte. Am Ende hatte er markante Wangenknochen und tiefliegende Augen gezaubert.

Dell tippte mit dem Finger auf das Brett. »So. Ich erinnere mich an ein weißes Dreieck über den Augen. Haut. Hat wie ein Zelt von vorn ausgesehen.«

»Das deutet darauf hin, dass die Haare gescheitelt waren«, schlussfolgerte Baney, warf die Seite weg und fing noch mal von vorn an. Sein Bleistift sauste über das Papier. »Genau in der Mitte. Das führt zu diesem Zelteffekt. Kann ich dieses Wort in Zukunft verwenden, Mr Dell? Zelteffekt?«

Dell grinste und nickte. Der Mann freute sich über seine Wortkreation.

»Die tiefliegenden Augen des haarigen Mannes«, fragte Baney. »Waren sie klein oder groß?«

Dell dachte mit geschlossenen Augen nach. »Klein. Oder vielleicht wirkten sie auch nur so, weil der Kerl …« Der Lastwagenfahrer öffnete die Augen. »Wütend war. Grimmig guckte.« Dell runzelte die Stirn, um Baney den Blick vorzumachen.

Baney nickte und arbeitete weiter. »Also, dann nehme ich mal ein normales schmales Gesicht, zeichne markante Wangenknochen unter die Augen, mache das Haar glatt, aber voll, male eine leere Fläche in die Mitte der Stirn und seine Augen schmal vor Wut …«

Beim Malen, Schattieren und Verwischen wirkte Baney wie entrückt. Nach ein paar Minuten drehte er das Brett in Dells Richtung.

»Erinnert Sie das an jemanden?«

Der Lastwagenfahrer machte große Augen und ließ die Kinnlade fallen.

»Das ist er. Wie haben Sie das nur hingekriegt?«

Harry und ich fuhren zurück ins Polizeipräsidium, um die Zeichnung zu fotokopieren, die wir auf der Straße herumzeigen und an unser Informantennetz verteilen wollten. Das Bild ließen wir dann auf Harrys Schreibtisch liegen und schlenderten zur Thermoskanne hinüber, die fast leer war. Den Kaffee besorgten wir uns schließlich einen Stock tiefer im Raubdezernat.

Bei unserer Rückkehr lag die Zeichnung neben Harrys Schreibtisch auf dem Boden. Der Detective, der am nächsten stand, war Pace Logan. Er lehnte an einem Stützpfeiler und überflog ein Blatt Papier. Shuttles stand mit gepeinigter Miene neben ihm.

»Das hier hast du nicht richtig gemacht«, belehrte Logan Shuttles. »Und deine Rechtschreibung ist eine Katastrophe. Es heißt Täter und nicht Tä – h – ter

»Tut mir leid, Pace«, meinte Shuttles. »Ich schreibe den Bericht noch mal neu.«

»Hat hier wer auf meinem Schreibtisch herumgewühlt?«, knurrte Harry und starrte Logan an.

Logan spähte über seine Lesebrille. »Mach dir nicht ins Hemd, Nautilus. Ich habe mir deine dämliche Zeichnung angeschaut. Bin an deinem Schreibtisch vorbeigekommen und konnte mich nicht entscheiden, ob das Charlie Manson oder ein Grizzlybär sein soll.«

»Wie wäre es, wenn du sie das nächste Mal wieder aufhebst und zurück auf den Schreibtisch legst?«

Logan schüttelte den Kopf, drehte sich um und wanderte zu seinem Schreibtisch hinüber.

»Noch zwei Monate«, murmelte Harry.

Wir zeigten das Phantombild herum, verteilten es an ein paar von unseren Spitzeln und baten sie, uns anzurufen, falls sie dem Typen begegneten. Wenn er sich die Haare hatte schneiden lassen und den Bart abrasiert hatte – und die Chancen dafür standen ganz gut, falls er nicht total bescheuert war –, nützte uns die Zeichnung nichts.

Nachdem wir alle Phantombilder verteilt hatten, fuhren wir auf ein Bier und einen Teller Gumbo zum Flanagan’s. Harry warf mir ab und an einen Blick zu, den ich eher spürte als sah. Er schob seinen Teller weg.

»Was willst du jetzt tun, Carson? Mit Da… Ms Danbury?«

»Ist schon erledigt.«

Harry rührte mit dem Löffel im leeren Teller herum.

»Bist du dir sicher, dass sie was mit Kincannon hat? Ich meine, sie war wirklich –«

»Ich habe sie einfach gefragt, Harry. Sie hat zugegeben, mit Buckie zu schlafen.«

Harry nickte. Er warf einen Blick über meine Schulter und schnitt eine Grimasse. Ich drehte mich zu dem Fernseher über der Theke um. Dani moderierte die Sechs-Uhr-Nachrichten und fingerte wie ihre Kollegen mit den Unterlagen auf dem Tisch herum. Sie brachte eine Geschichte über das Feuer vom heutigen Morgen.

»… Mann sprang, ehe die Feuerwehrmänner bei ihm waren. Er starb auf dem Weg ins Krankenhaus. In den Trümmern wurde eine stark verbrannte Frauenleiche gefunden. Der Name der Toten wird erst veröffentlicht, wenn die Verwandten informiert worden sind …«

»Schalten Sie doch mal auf einen anderen Kanal«, rief Harry Eloise, unserer Bedienung, zu.

»Lassen Sie nur, Eloise«, sagte ich. »Und drehen Sie die Lautstärke ein bisschen auf.«

Harry musterte mich kritisch.

»Ich muss mich daran gewöhnen«, meinte ich und stierte zum Bildschirm hoch.

Harry räusperte sich und neigte sich vor. »Ähm, Carson, hast du schon mal darüber nachgedacht, ähm …«

Ich drehte den Kopf vom Fernseher weg. »Buck Kincannon zu vermöbeln? Vor Danis Haus zu warten, bis sie eines schönen Abends nach Hause kommen, ihm die Augen auszureißen und ihm so fest in den Arsch zu treten, bis er sein Abendessen anstarren kann?«

»Ja. Malst du dir solche Sachen aus?«

»Nie.«

»Das ist gut. Ich muss jetzt nach Hause. Ich bin total erledigt.« Er zog seine Jacke an, legte ein paar Geldscheine auf den Tisch und lief zur Tür. Dort wandte er sich noch mal um und kam zurück.

»Was ist denn?«, fragte ich Harry, der sich mit den Händen in den Taschen vor mir auftürmte.

»Du bist dir aber schon darüber im Klaren, dass du deinen Job an den Nagel hängen kannst, wenn du jemals so einen Typen fertigmachst.«

»Ich weiß, Harry.«

»Gut.«

Er drehte sich um. Blieb stehen. Drehte sich wieder in meine Richtung.

»Innerhalb einer Stunde wärst du deinen Job los, Carson. Nein, sogar noch schneller. Ein Fingerschnippen würde reichen.«

»Ich bin mir dessen bewusst, Bruder.«

»Ich weiß«, seufzte er. »Ich wollte nur sichergehen, dass ich es auch weiß.«