Image Kapitel 21

Taneesha Franklins Aufbahrung war für den kommenden Morgen angesetzt. Harry und ich fuhren zum Bestattungsinstitut, weil es hin und wieder vorkam, dass die Täter, einem inneren Zwang folgend, der an Triebhaftigkeit grenzte, dort ebenfalls auftauchten.

Der Morgen war frisch und sonnig, der Himmel strahlend blau. Das weitläufige Institutsgebäude mit dem großen Rasen an der Front besaß links und rechts zwei riesige Parkplätze. Zu beiden Seiten des Geländes befanden sich mehrere Läden. Gleich nebenan war ein kleines Lebensmittelgeschäft. Da ich ahnte, dass Dani auch erscheinen würde, war ich nicht sonderlich erpicht darauf gewesen, der Aufbahrung beizuwohnen, doch mein Beruf und meine Verpflichtung Taneesha gegenüber verlangten, dass ich mich sehen ließ. Das Debakel mit Dani tat höllisch weh, aber jeder neue Tag sorgte dafür, dass ich etwas besser mit der Situation zurechtkam.

Wir zwängten uns zwischen der dichtgedrängten Menge hindurch. Schätzungsweise zweihundert Personen waren versammelt. Zuvor hatte nur für die Familien-angehörigen eine Trauerfeier stattgefunden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stand Lincoln Haley im schwarzen Anzug und mit düsterer Miene. Als er uns entdeckte, lief er uns entgegen.

»Meine Herren, danke, dass Sie gekommen sind.«

»Eigentlich gehört das zu unserem Job, Mr Haley. Aber nach allem, was wir über Ms Franklin erfahren haben, ist es uns eine Ehre, hier zu sein.«

Ein paar Minuten standen wir schweigend da und litten unter der Beklemmung, die die Trauer hervorruft. Hinter meinem Rücken ertönte eine tiefe Stimme, und eine männliche Gestalt schob sich an meinen Schultern vorbei.

»Mr Haley? Sind Sie Lincoln Haley, Sir? Ich habe Sie von dem Foto auf der WTSJ-Website wiedererkannt. Ich bedauere Ihren Verlust. Muss jedem im Sender einen herben Schlag versetzt haben.«

Als ich mich umdrehte, fand ich mich einem Mann gegenüber, etwas kleiner als ich, dick und mit abfallenden Schultern. Er trug dunkle Hosen und eine dunkle Sportjacke. Seine kurzen Haare waren von jenem gedämpften Rot, für das man sich entschied, wenn man auffallen wollte, aber einem Job nachging, wo Blau oder Grün tabu waren. In einer Augenbraue steckte ein Ohrring und seine Haut hatte diesen rosigen Ton, der auf Make-up schließen ließ. Zudem lispelte der Mann leicht.

»Danke, Sir«, antwortete Haley. »Sind Sie ein Freund von Taneesha gewesen?«

»Zu meinem Bedauern, nein. Ich bin eher ein Freund von WTSJ, meinem Lieblingssender. Ich höre ihn schon seit Jahren. Ich weiß noch, als Ms Franklin anfing und von Mitternacht bis morgens um sechs auf Sendung war. Da habe ich immer eingeschaltet und zugehört. Ich bin erst 1981 geboren, doch ich stehe schon seit Ewigkeiten auf Funk und Motown aus den Sechzigern und Siebzigern. Otis, Sly, Mahalia, Aretha, James Brown …«

Ich klinkte mich aus der Unterhaltung aus, ließ den Blick über die Gäste wandern und versuchte dabei, gelassen zu wirken. Ich hielt Ausschau nach einem irren Blick, einer gefährlichen Aura. Manchmal kam es ja vor, dass sich die Irren einem auf dem silbernen Tablett servierten.

»Sie hatte eine tolle Stimme«, sagte der Fan zu Haley.

»Das ist ein schrecklicher Verlust. Ich hoffe, derjenige, der das getan hat, muss teuer dafür bezahlen.«

»Sie haben sie mitten in der Nacht gehört?«, fragte Haley. »Dann waren Sie Teil einer kleinen, aber exklusiven Hörerschaft. Verfolgen Sie die Sendung immer noch, Mr …«

»Lucasian. Jim Lucasian.«

Die beiden Männer reichten sich die Hand.

»Sind Sie ein Freund oder auch ein treuer Hörer?«, fragte Mr Lucasian mich.

»Detective Ryder ist beim MPD«, erklärte Haley. »Er und sein Partner sind beruflich hier.«

Ich zuckte zusammen. »Ähm, Linc?«, räusperte ich mich.

Da zuckte auch Haley zusammen. »Oh, tut mir leid.«

Lucasian hielt die Hand hoch, als wollte er einen Eid leisten. »Ihr Geheimnis ist bei mir sicher, Detective. Ich kann nur hoffen, dass Sie den Mistkerl festnageln.« Und damit entschwand er Richtung Ausgang.

Ich entschuldigte mich und steuerte auf die Tür zu. Gerade als ich um die Ecke biegen wollte, betrat Dani den Raum. Wir wären fast ineinander gerannt. Sie blieb auf der Türschwelle stehen. Mein Atem wurde ganz flach. Ihre Fingerspitzen berührten meinen Arm.

»Bitte, Carson, können wir reden …«

»Es gibt nichts zu reden«, krächzte ich.

»Ich möchte es dir erklären.«

»War es eine Lüge, als du gesagt hast, dass du mit Kincannon schläfst?«, fragte ich und tat so, als würde ich mich mehr für die Lampe neben Dani interessieren.

»Nein, aber ich wollte, dass du weißt, dass es nicht –«

»Nein ist alles, was ich wissen muss. Es gibt nichts, worüber wir uns unterhalten müssten, Ms Danbury. Wenn Sie mit jemandem reden wollen, sprechen Sie lieber mit Buckie-Boy.«

Ihre Finger lagen noch immer auf meinem Arm. Ich schüttelte sie ab und drehte mich um. Ein paar Minuten später beobachtete ich, wie sie sich verabschiedete.

 

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Lucas zwängte sich durch die dichte Menschenmenge Richtung Tür. Es war an der Zeit, wieder ins Büro zurückzukehren. Ein Schläfchen zu halten und das Gebäude gegenüber zu observieren. Er schlenderte über den Rasen vor dem Bestattungsinstitut, als ihm eine Stimme ins Ohr flüsterte und ein harter Gegenstand in seine Seite gedrückt wurde.

»Das ist eine Waffe, Lucas. Unternimm nichts. Geh einfach weiter wie gerade eben.«

»Hallo, Crandell«, sagte Lucas, blieb stehen und fuhr mit ruhiger Stimme fort, »sieh mal einer an, heimlich, still und leise – wie eh und je.«

»Geh weiter, Lucas.«

Er rührte sich nicht von der Stelle. Die Pranke des anderen Mannes fuhr hervor und schnappte sich Lucas’ Hand. In Windeseile wanderte ein stechender Schmerz Lucas’ Arm hoch.

»Immer schön weiter, Lucas, dann tut dir keiner weh. Bleibst du stehen, breche ich sie dir.«

Lucas bewegte sich so langsam wie möglich, aber immer noch so schnell, dass kein Anlass zum Fingerbrechen bestand. Der Mann in dem gut geschnittenen grauen Anzug neben ihm war einsdreiundachtzig groß, von kräftiger Statur und muskulös. Mit seinen O-Beinen erinnerte er ein bisschen an einen Affen. Seine Augen waren kleine schwarze Knöpfe, fast wie die Glasaugen einer Puppe. Und wie üblich waren Crandells Haare perfekt geschnitten: Kaskaden blonder Locken rahmten seine Wangen ein.

Lucas äffte die melodische Stimme des Filmschauspielers Peter Lorre nach. »Du hast mich trotz meiner Verkleidung erkannt, nicht wahr, Crandell? Ich habe ganz vergessen, wie gut du bist. Meine Größe, richtig? Du hast dich auf alle konzentriert, die einsfünfundachtzig sind, und dann genauer hingeschaut? Du bist erstaunlich, Crandell.«

»Und du bist ein Witzbold. Nur kann eine Menge Leute nicht darüber lachen, Lucas. Dass du draußen bist und wer weiß was tust, macht ihnen richtig Angst. Sie werden sich sehr freuen, wenn sie erfahren, dass wir wieder zusammen sind.«

Lucas sprach ganz normal weiter. Seine Stimme klang sanft und ausgeglichen. »Großer Zahltag bei dir, was?«

»Wenn wir uns über den Weg gelaufen sind, Lukey-Boy, war für mich immer großer Zahltag.«

»Lass mich mal nachdenken, Crandell, das letzte Mal, dass wir uns getroffen haben, ist wohl vier Jahre her. Auf einem Feld unter einem Sendemasten.« Lucas zwinkerte.

»Du bist krank, Lucas. Leidest unter Wahnvorstellungen. Kommst schnell in Rage, hast Probleme mit Frauen. Du brauchst Hilfe.«

Lucas wandte den Blick ab. Atmete tief durch.

»Ich werde nicht zurückgehen. Da wirst du mich schon hier abknallen müssen. Die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, darauf verstehst du dich prima, Crandell, aber wenn du mich auf einem Parkplatz erschießt, wie willst du das wieder hinbiegen?«

»Dir wird nichts zustoßen, Lucas. Du musst nur … wieder in deine ganz normale Alltagsroutine zurück.«

Lucas hörte einen Motor aufheulen, ehe sich ein dunkler kastenartiger Wagen aus der Reihe der anderen Fahrzeuge löste, vor ihm hart abbremste und anhielt. Die Tür flog auf. Lucas beugte sich nach unten, lächelte und musterte den Fahrer.

»Gehören Sie zur Polizei, Sir? Crandell stellt gern Polizisten ein.«

»Steig ein oder ich stopfe dich in den Wagen, Luke«, schnauzte Crandell. »Und das wird dann ein paar Tage lang ganz schön wehtun.«

Lucas warf einen letzten Blick nach hinten. Auf die Freiheit. Oder das Leben. Weit und breit niemand in der Nähe. Warte mal. Da drüben, dreißig, vierzig Meter entfernt … lief ein tief in Gedanken versunkener Mann an den geparkten Autos entlang.

Dieser Cop. Der Detective. Wie, verdammt noch mal, hat er gleich noch geheißen?