»Die DuCaines?«, fragte Harry den alten Herrn. »Aus der Familie stammt Maylene?«
»Familie ist nicht das richtige Wort. Kirmes? Zirkus? Das passt besser, der DuCaine-Zirkus. Sie wohnten seit weiß ich wie lange drüben in Fairhope. Irgendwann ging da so richtig die Post ab.«
»Anfangs ein soziales Experiment und später eine Künstlerkolonie«, fügte Harry hinzu.
»Die ganze DuCaine-Familie war ein soziales Experiment. Als wir, Buck senior und ich, die Familie kennenlernten, waren wir Anfang, Mitte dreißig, richtige Sahneschnittchen, die glaubten, es wäre an der Zeit, sich fortzupflanzen.«
»Sie wollten eine Familie gründen?«
»Ein Mann muss noch etwas anderes im Rücken haben als Geld. Ich hatte ein Faible für ein fünfundzwanzigjähriges Mädel namens Coralene, die in der gleichen Straße wie die DuCaines wohnte. Da ist nichts draus geworden, außer dass ich ein paar Mal auf meine Kosten gekommen bin, doch das Resultat war die investierte Zeit nicht wert.«
»Daddy!«, schalt Ella, die gerade mit zwei Eistees, die sie für Harry und mich gemacht hatte, und Aubussons neuem Drink in der Tür erschien. Kopfschüttelnd stellte Ella das Tablett ab und verschwand wieder im Haus. Aubusson grinste und fuhr mit seiner Geschichte fort.
»Buck war ein paar Mal mit mir zu Coralene rübergefahren und hatte da dieses freche kleine Ding gesehen, das dort spazieren ging. Ziemlich arrogant und total hochnäsig, als würde sie Luft atmen, die kein anderer inhalieren durfte.«
»Maylene?«
»Mittlerweile hat sie die Statur einer fetten alten Bulldogge, aber damals hatte diese überhebliche Zicke einen Hintern wie zwei kleine Melonen, die in einem Bottich auf und ab hüpfen. Gott, hatte die Frau eine Figur. So kam es, dass wir auf dem Gelände der DuCaines herumlungerten. Vier Hektar Land, ein paar Blocks von der Bay entfernt, und mittendrin ein großes Haus. Eins von diesen Dingern, wo an jeder Ecke ein Raum rausragt, weil andauernd angebaut wird. Coralene ging nie zu den DuCaines. In ihren Augen waren das Wahnsinnige und mit dieser Einschätzung war sie nicht allein.«
»Ein seltsamer Ort?«, mutmaßte ich.
»Haben Sie mal die Geschichte von der verrückten Tante in der Mansarde gehört? Die DuCaines hatten jedenfalls so eine. Wenn man bei ihnen war, hörte man sie oben heulen, lachen oder wie ein Matrose fluchen. Einmal, als ich da war, stapfte sie kreischend durchs Haus, splitternackt, mit wippenden Titten, und rannte dann durch die Tür hindurch auf die Veranda. Und wenn ich durch die Tür hindurch sage, dann meine ich das auch so. Das in Fetzen gerissene Fliegennetz flatterte im Türrahmen. Ein paar von den Bediensteten fingen sie ein, doch einem hat sie zwei Zähne ausgeschlagen.«
»Ist die Tante oft abgehauen?«
»Das war doch gar nichts. Die meisten Familienmitglieder wirkten leicht neben der Kappe. Einer von Maylenes Brüdern machte nichts anderes, als auf dem Stuhl zu sitzen und aus dem Fenster zu schauen. Und dabei zwinkerte er mit einem Auge, als sende er einen Morsekode. Sie hatte auch eine Schwester, die schon in jungen Jahren schwer nach der Tante kam – lief immer im Kreis herum, riss an ihren Haaren und kriegte dauernd Anfälle. Und es gab noch einen Bruder, der sich in einer der Lebenseichen ein Baumhaus gebaut hatte und mehr oder minder dort oben wohnte. Wenn er runterkam, dann nur um Feuer zu legen. Außerdem existierte noch eine zurückgebliebene Schwester, die in der Stadt herumspazierte und alles anfasste.«
»Und die Mutter der Familie, wo war die?«
»Sie war Künstlerin. Hat einen Großteil ihrer Zeit damit verbracht, Bilder zu malen, und trug einen von diesen Malständern herum –«
»Eine Staffelei?«
»Genau. Jedenfalls malte sie nur. Hauptsächlich unten in der Bucht. Einmal hat sie ein paar Leute bezahlt, damit sie nackt im Wasser herumplanschen, und hat sie gemalt. Falls mich mein Gedächtnis nicht trügt, hat sie das ›Körperstudien‹ genannt. Irgendwann ist die Polizei aufgetaucht und hat ihr geraten, ihre Studien besser daheim bei heruntergezogenen Jalousien anzufertigen.«
»Und der Vater?«
Aubusson tippte an seine Schläfe. »Intelligent. Er war schlau, scheu und dabei sehr zielorientiert. Den lieben langen Tag beschäftigte er sich mit Gleichungen, die nicht aus Zahlen, sondern aus Buchstaben bestanden …«
»Möglicherweise Physik?«
Aubusson nickte. »Er war zu scheu, um mit Menschen zu arbeiten, aber er wurde losgeschickt, um überall auf der Welt irgendwelche Probleme zu lösen. Zum Beispiel von der Regierung … wie die Flugbahn von Raketen verläuft und solche Sachen. Er hat gut verdient und finanzierte damit den ganzen Zirkus. Abgesehen von den Formeln, mit denen er sich beschäftigte, kriegte er nicht viel mit.«
»Und Maylene lud Leute ein? Zu sich nach Hause?«
Er lächelte boshaft. »O Gott, nein. Wir standen irgendwann mir nichts, dir nichts auf der Matte. Wahrscheinlich waren wir ziemlich durchtrieben, aber Buck und ich klopften einfach bei Miss Maylene an, behaupteten, wir wären durstig, und fragten, ob wir eine Limonade kriegen könnten. Von da an hingen wir bei den DuCaines herum und genossen die Show: der sabbernde Bruder mit dem Augentick, Sissy, die mit dem Dienstpersonal kämpfte, die Tante, die herumlief und ihren Busch zur Schau stellte, der Baumhaustyp in den Ästen, der dauernd herumbrüllte. Das war besser als alles, was Hollywood sich je ausgedacht hat.«
»Solche Situationen habe ich auch schon erlebt, Mr Aubusson. Wo alles außer Kontrolle gerät. Früher oder später …« Harrys Worte blieben in der Luft hängen.
»Ja. Eines schönen Tages läuft es immer aus dem Ruder, oder? Einmal ist die zurückgebliebene Schwester verschwunden. Die Polizei hat sie auf einem freien Grundstück in Bayou La Batre gefunden. Jemand ist mit dem Messer auf sie losgegangen, hat ihr schwere innere Verletzungen zugefügt. Sie hat es überlebt, aber wenn man ihr begegnete, wirkte sie wie ein Zombie.«
Harry sah Aubusson forschend an. »Sprechen Sie weiter.«
Der alte Herr neigte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und ließ den Blick in die Ferne schweifen.
»Der Baumhausjunge … Jimmy? Jerry? Ich weiß nichts Genaues, doch Jahre später sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen. Im Haushalt der DuCaines ereigneten sich sonderbare Dinge. In der Gegend verschwanden Hunde, deren Einzelteile später im Wald gefunden wurden. Schließlich drehte der Junge durch, fing überall Streit an, brüllte herum und fluchte. Eines Tages ist er mit einem der Wagen weggefahren und hat sich ein paar Wochen lang nicht sehen lassen. Ab da wird alles ziemlich nebulös.«
Ich beugte mich vor. »An schlechtes Wetter bin ich gewöhnt.«
Aubusson warf einen Blick auf die Tür. Senkte die Stimme. »Es heißt, er hätte eine Frau umgebracht, die früher mal als Gärtnerin bei den DuCaines gearbeitet hat. Der Bursche ist wahrscheinlich von ihr besessen gewesen oder so was in der Art. Hat mit dem Messer auf sie eingestochen und hinterher ihren Wohnwagen abgefackelt. Falls das kein Märchen war, ist davon jedenfalls nichts an die Öffentlichkeit gedrungen. Und der Baumhausjunge wurde – soweit man weiß – nie verhaftet. Aber hinterher hat ihn niemand mehr in der Gegend gesehen. Und den DuCaines konnte nichts nachgewiesen werden.«
»Keine Publicity«, sagte Harry. »Kein Aufsehen.«
»Als wäre nichts passiert«, meinte ich. »So läuft es, wenn man Geld hat.«
Harry wandte sich an Aubusson. »In welchem Zeitraum ist das alles passiert?«
»Während Buck Maylene den Hof gemacht hat. Egal, was sich um uns herum abspielte, sie servierte uns noch eine Limonade und ließ ihre Melonen tanzen. Sie wusste, was sie hatte, und sie wusste ihre Reize auch einzusetzen. Sie hat Buck so weit gebracht, bis sie mit ihm machen konnte, was sie wollte. Buck war das Ticket, um von diesem irren Ort wegzukommen.«
»Eine glückliche Ehe?«
»Buck brauchte jemanden, der ihn an die Hand nimmt, aber Maylene hat ihn einfach plattgemacht. Tu dies, mach das, sprich so, zieh das an. Sie bestimmte jede Sekunde seines Lebens. Und auch das aller anderen.«
»Und strebte nach einer schrankenlosen Jugend nach einem Leben, wo sie über alles die absolute Kontrolle hatte«, schlussfolgerte ich.
Aubusson ballte die Hand zur Faust, bis die Knöchel weiß anliefen, und hielt sie hoch. »Kontrolle von der Art«, sagte er. »Endlich kriegte sie die Chance, die Welt nach ihrem Willen zu formen. Eine abgeschirmte Welt, in die nur wenige Personen vorgelassen werden.«
»Und Daddy Kincannon kann ihr auch nicht mehr dazwischenfunken«, meinte ich.
Aubusson trank einen großen Schluck Whisky und versteckte sein Gesicht hinter dem Glas.
»Wenn Sie mich fragen, hat er einen ganz eigenen Weg gefunden, sich von all dem frei zu machen.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte ich.
»Es heißt ja, er hätte Alzheimer … was ich nicht glaube. Ich denke, er hat alles getan, um verrückt zu werden, weil er so besser mit ihr weiterleben konnte.«
Aubusson schwenkte das Eis in seinem Glas, in dem kein Whisky mehr war, und stellte es weg. Ich hatte den Eindruck, dass ihm langsam der Gesprächsstoff ausging.
»Erzählen Sie uns noch von Maylenes Kindern, Mr Aubusson«, bat ich ihn.
»Von den Kindern habe ich nie viel gehalten. Ich erinnere mich noch gut an einen Besuch dort drüben. In einem der Zimmer fand ein Kindergeburtstag statt. Der Älteste wurde elf oder zwölf. Racine oder Nelson hat ein Stück von Bucks Kuchen gegessen, als der gerade nicht hinschaute. Ich weiß noch ganz genau, wie Maylene Buck zu sich rief und ihm etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin er sich umdrehte und feststellte, dass ein Stück fehlte. Eine Sekunde später ging er zu seinem Bruder hinüber und haute ihm einfach eine aufs Maul.«
Harry produzierte ein Geräusch wie ein Ballon, der Luft verliert. »Lass dir nichts wegnehmen. Nicht mal von deinem Bruder. War das die Lektion, die sie ihm erteilte?«
Aubusson nahm einen Schluck. »Könnte auch sein, dass es Maylene gefiel, ihren kleinen Soldaten aufzustacheln und in den Kampf zu schicken. Nicht, dass er ihr Liebling gewesen wäre. Ein anderes Mal hat sie das Gleiche mit Nelson oder Racine gemacht und ihn Buck auf den Hals gehetzt.«
»Es überrascht mich, dass sie als Jugendliche nicht in Schwierigkeiten geraten sind«, meinte Harry.
»Sie haben schon über die Stränge geschlagen, aber was richtig Schlimmes haben sie nicht angestellt. Die kleineren Probleme wurden mit Geld aus der Welt geschafft. Eigenartig finde ich, dass die Kinder trotz des wahnwitzigen Umfelds, in dem sie aufgewachsen sind, sterbenslangweilig sind. Die Älteren auf jeden Fall. Kein Esprit. Wenn man denen ein paar Minuten zuhört, schläft man echt ein. Aber Lucas, ja, Lucas war von Anfang alles andere als auf den Kopf gefallen. Der Junge hatte echt Feuer.«
»Lucas?«, fragte ich und warf Harry einen Blick zu. »Wer ist denn Lucas?«
»Maylenes Jüngster. Kam noch überraschend, als sie schon Mitte vierzig war. Ein eigenartiger Junge. War, wenn man es genau nimmt, zu spät geboren, um noch ein Hippie zu werden, benahm sich aber so, Sie wissen schon. Hinterfragte alles, diskutierte über alles, hasste alles. Wurde gemein, wenn ihn etwas ankotzte, schrie herum, dass er mit einem Haufen kapitalistischer Schweine leben müsste, ist weggerannt und kreuz und quer durchs Land gezogen. Mit fünfzehn ist er bis Kalifornien getrampt, Maylene musste ein paar Privatdetektive anheuern, die ihn zurückbrachten.«
»Dieser Lucas klingt wie jemand, der Probleme macht«, warf ich ein. Oder wie jemand, der mental aus dem Ruder läuft.
»Dieser Junge konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, mehr Schwierigkeiten machen als zehn seiner Altersgenossen zusammen, doch auf der anderen Seite war eins nicht von der Hand zu weisen: Er besaß einen messerscharfen Verstand. Hatte das Hirn vom Großvater, aber nicht diese spröde Art. Der war verdammt viel klüger als seine schwachsinnigen Geschwister.«
»Schwachsinnig?«, wunderte Harry sich. »Ich dachte, die Kincannon-Brüder seien extrem erfolgreiche Geschäftsmänner, die alles tun, damit das Imperium prosperiert.«
Aubusson grinste. »Das denken viele andere auch, aber wie heißt es so schön in diesem alten Song, it ain’t necessarily so, es muss nicht unbedingt so sein. Nehmen wir mal den jungen Buck. Der Junge ist kein Ignorant, er ist einfach nur nicht besonders helle. Buck kennt sich ein bisschen aus … und vor allem weiß er, wen er anrufen und um Rat fragen kann. Die Kincannons beschäftigen die kompetentesten Ratgeber, die tüchtigsten Finanzberater, die besten Anwälte. Geld zu machen ist Schwerstarbeit. Es zusammenzuhalten ist wesentlich einfacher.«
»Lassen Sie uns noch mal über Lucas sprechen«, sagte ich. »Hat er eine destruktive Ader?«
»Meines Wissens nach hat er im Haus ein paar Sachen kaputtgemacht, aber wenn er wollte, konnte er charmant und zuckersüß sein. Schon im Alter von zehn, zwölf Jahren konnte er besser diskutieren als die meisten Erwachsenen. Ich mochte das kleine Monster, obwohl er mich mal als Laufburschen und Lakaien des Systems beschimpft hat, was immer das heißen mag. Zumindest war er eine Persönlichkeit.«
»Wo steckt Lucas jetzt?«, erkundigte ich mich betont gleichmütig.
Aubusson trank das geschmolzene Eiswasser und schüttete die Eiswürfel in den Rasen.
»Ich hörte, er wäre ruhiger geworden, aber das stimmte nicht. Mit achtzehn ist er weggerannt. Rannte, so weit er konnte, weil er nichts mehr mit der Familie zu tun haben wollte. Seit … wie lange ist das her? … Seit vier Jahren hat man nichts mehr von ihm gehört. Wurde aus dem Testament gestrichen, worauf er wahrscheinlich aus war. Nach dem, was so geredet wird, lebt er oben in Kanada oder Alaska, in den Bergen, und macht was mit Perlen.«
»Oder vielleicht auch nicht«, sagte Harry so leise, dass nur ich ihn verstehen konnte.