Ich hatte mehrere Tage unter Wasser verbracht, war durch grünschwarzes, von Algen durchwuchertes Nass geschwommen, das meine Haut aufscheuerte. Hin und wieder hatte ich über der Wasseroberfläche ein tanzendes Licht entdeckt und mich darauf zubewegt, doch kurz vor dem Ziel wich die Oberfläche vor meiner ausgestreckten Hand zurück, sobald ich versuchte, ins Land des Lichts und der Luft zu gelangen. Gleichzeitig stellte ich fest, dass ich unter dem leuchtenden Gallert herumtreiben und Gesprächsfetzen aus der Welt der Luft auffangen konnte …
»Wie lange soll er hier bleiben?«
»Er kommt bald weg.«
»Was werden wir den anderen erzählen?«
»Wen interessiert’s?«
Nachdem die Stimmen von der Strömung weggetragen worden waren, griff ich wieder in das glimmende Etwas. Meine Hand drang bis zum Gelenk ein, der Ellbogen folgte. Als wollte ich ein nasses Leichenhemd abstreifen, wand ich mich Zentimeter um Zentimeter aus dem Meer und lag dann – so kam es mir wenigstens vor – stundenlang reglos da und schnappte nach Luft.
Ich schlug die Augen auf und erblickte über meinem Kopf einen pinkfarbenen Ballon, der sich bewegte. Der Ballon hatte ein kugelrundes Gesicht und dieses Gesicht lächelte. Das war ein freundlicher Ballon.
»Wo bin ich?«, fragte ich den Ballon.
»Sie sind im Himmel, Mister«, antwortete der Ballon.
Harry Nautilus stand vor der Türschwelle von Carsons Haus. Seine Hand lag auf der Klinke. Er hörte, wie der Regen gegen die andere Türseite trommelte. Mit fragendem Blick drehte er sich zu Clair Peltier um.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich komme nicht mit. Ich werde hier warten.« Sie trat wieder zum Fenster hinüber.
Irgendwas ist mir entgangen, dachte Harry und musterte die verzweifelte Frau aus dem Augenwinkel. Vielleicht hat es sich auch erst kürzlich ergeben … Zwischen den beiden ist immer etwas gelaufen. Wie eine Unterströmung.
»Das ist eine gute Idee, Doc. Dass Sie warten«, sagte er.
»Ich habe gelesen, dass Menschen tagelang auf dem Wasser getrieben sind, sich an etwas festgehalten haben. Wissen Sie noch, wie letztes Jahr das Boot von diesem Typen untergegangen ist? Ein Frachter auf dem Weg nach Galveston hat ihn aufgelesen. Es dauerte zwei Tage, bis der Mann wieder an Land war.«
Nautilus merkte, wie bei Clair Peltier der Groschen fiel: In dem Moment, wo Carson gerettet würde, ginge sofort ein Funkspruch mit der Nachricht hinaus, dass er sich in Sicherheit befand.
»Mist«, wisperte sie.
»Alles ist möglich«, meinte Nautilus. »Auch Gutes.«
Clair wanderte zur Terrassentür hinüber. Neue Sturmfronten ballten sich am Horizont zusammen – purpurrote Wolken, die Blitze hinter sich herzogen. Heiße Windböen rauschten vorbei. Auf den grauen Wellen tanzten Schaumkronen.
Clairs Augen weiteten sich. »Da ist jemand an der Tür, Harry.«
Sie rannte zur Tür und riss sie auf. Nichts – nur eine Regenwand.
»Ich weiß, dass ich etwas gehört habe. Ein Klopfen.«
»Das ist der Regen auf dem Dach«, meinte Nautilus.
Und dann hörte Nautilus das Geräusch auch. Ganz leise, kaum hörbar. Es kam von draußen. Er folgte dem Geräusch in den Regen, die Treppe hinunter, unter das Haus auf Stelzen. Nichts. Der Wind peitschte. Nautilus entdeckte den lädierten roten Kajak, der auf dem Regal im Wind schaukelte.
»Harry«, rief Clair vom Treppenabsatz hinunter.
»Es ist nichts«, antwortete er. »Nur der Wind.« Er starrte den Kajak an.
Eine Minute später stand er im Regen und versuchte, das Boot – soweit möglich – in seinen Volvo zu schieben und es mit einem Seil am Beifahrersitz zu befestigen. Hinten ragte es drei Meter aus dem Wagen, war aber ordentlich festgezurrt.
»Harry!«, schrie Clair, die in der Tür stand. »Was machen Sie da?«
»Keine Ahnung.«
Er stieg in den Volvo und fuhr in das tosende Grau.
Ich schloss die Augen, blendete den Anblick des Ballons aus und ließ mich – unerhört glücklich – ins grüne Wasser fallen. Hier unten, unter der Wasseroberfläche, begriff ich Clairs Wesen. Eine Welt, wo alles einen Sinn ergäbe, wäre unser Verstand einer Sprache mächtig, ihre Logik und ihre Ordnung zu erfassen.
Klopf… klopf… klopf…
Ein rhythmisches Geräusch erregte meine Aufmerksamkeit. Ich strampelte, wirbelte in den Untiefen des Wassers herum und versuchte, das Geräusch zu orten. Nein … kein Geräusch. Ein Gefühl. Jemand hämmerte mir auf die Fingerknöchel. Vorsichtig schlug ich die Augen auf und rechnete insgeheim damit, dass mir Meerwasser in die Augen lief, doch nur ein kühler, trockener Luftzug streifte sie.
Wieder dieses Klopfen auf meinen Fingerknöcheln.
Mein Kopf schien sich auf einer Achse zu drehen, bis ein rundes rosa Gesicht in Sicht kam. Die Augen waren blau und neugierig. Und da war ein etwas schiefes Lächeln. Das Gesicht eines Kindes. Mein Blick wurde schärfer, fiel auf einen Bart – kein Kind, sondern ein Mann.
»Wer bist du?«, fragte ich. Meine Worte schienen aus etwas aufzusteigen, was neben mir lag. Vom Rand eines Kissens, das in einem gestärkten weißen Bezug steckte.
»Freddy. Und wie heißt du?«
»Carson.« Das war das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen konnte.
»Möchtest du meinen Freund kennenlernen, Carson?«
»Lass mir noch einen Moment Zeit, Freddy. Ich bin noch nicht ganz wach.«
»Miss Holtkamp hat gemeint, sechzig Sekunden sind eine Minute. Eins … zwei … drei …«
Ich holte mehrmals tief Luft und bemerkte, dass sich mein Brustkorb nicht richtig ausdehnte. Mit jedem Atemzug kehrte mein Bewusstsein ein Stück weit zurück, als könnte die Luft die Dunkelheit vertreiben. Was läuft hier? Wo bin ich? Denk nach. Analysiere die Situation. Verschaff dir einen Überblick.
»Fünfzehn … sechzehn …«
Ein Raum. Blaue Wände, blaue Decke. Etwa fünf mal fünf Meter. Breite Tür, die auf einen Flur führt. Grüner Fliesenboden. Seitlich ein Fenster. Sind das Gitterstäbe? Tageslicht. Der Geruch eines Desinfektionsmittels …
»Zweiunddreißig … dreiunddreißig …«
Die Brust ist irgendwie fixiert. Mit einem Gürtel? Einem Seil? Hände, Füße, bewegungslos. Schmerzen an den Handgelenken, Druck an den Fesseln. Trockener Mund. O Gott …da steckt eine Dauerkanüle in meiner Hand! Kämpf gegen die Angst an … beobachte, wäge ab, analysiere … Gedämpfte Musik. E-Piano, Saxophon. Fetter Basslauf. Und dann ein schmetternder Bläsersatz. Funk, vielleicht Bootsy Collins.
»Neunundfünfzig … sechzig! Willst du jetzt meinen Freund kennenlernen, Carson?«
Freund? Irritiert warf ich einen Blick Richtung Tür. Niemand da.
»Ähm, sicher, Freddy.«
Der Typ zog seinen Arm hinter dem Rücken hervor. Seine Hand steckte in einem abgewetzten, fast kahlen Stofftier – ein Hund wie aus einem Zeichentrickfilm, von unbestimmbarer Rasse, mit schlappen Ohren, Plastikaugen mit beweglichen schwarzen Pupillen und heraushängender rosa Zunge. Freddy schmatzte, legte die Hand auf meinen Arm, drückte zu und ließ wieder los, als würde das kleine Hündchen an mir nagen oder lecken.
»Das Hündchen mag dich.«
»Das ist klasse. Kannst du mir helfen, Freddy? Meine Arme sind mit irgendwas fixiert. Kannst du sie losbinden?«
Das Hündchen hörte auf zu lecken und verschwand hinter Freddys Rücken. Er runzelte die Stirn. »Es ist nicht grün. Sondern rot.«
»Was meinst du?«
»Wenn deine Arme so sind, dann weil du etwas Rotes angestellt hast. Und sie werden erst wieder losgebunden, wenn du wieder grün bist.«
Rot steht für böse, grün für gut?
»Ist es rot, wenn man einen Schluck Wasser trinkt, Freddy? Ich habe einen tierischen Durst.«
Er schüttelte den Kopf und kicherte, als hätte ich eben einen großartigen Witz erzählt.
»Trinken hat keine Farbe, Carson. Trinken ist nur Trinken.« Er watschelte weg, ließ mich mit der Musik allein, die kaum zu hören war. Wenige Sekunden später kehrte Freddy mit einem Plastikbecher zurück, den das Stofftiermaul hielt.
»Das Hündchen hat dir eine Limonade gebracht. Beerengeschmack.«
Ich stellte fest, dass ich mich ein bisschen aufrichten konnte und das Kopfende des Bettes ein paar Zentimeter hochgestellt war. Ich öffnete den Mund.
»Es regnet Beerenlimo«, verkündete Freddy und ließ das Zuckerwasser in meinen Mund tropfen.
»Vielen Dank, Freddy.«
»Gern geschehen, Carson.«
»Freddy? Könntest du mir vielleicht erklären, wo ich bin?«
Er sagte es mir. Diese Antwort hörte ich zum zweiten Mal an diesem Tag.