Es schien spät zu sein, als Crandell ins Zimmer kam, doch in Wahrheit dämmerte draußen schon der Morgen. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, nur nachgedacht. Als er meine Fesseln kontrollierte, konnte ich einen Blick auf seine Uhr werfen: sechs Uhr morgens. Ich bemühte mich, benebelt aus der Wäsche zu schauen und langsam zu reagieren, während mein Herz raste. Stunden waren vergangen, seit Miss Gracie die Infusion umgeleitet hatte. Der Schlauch verschwand unter dem Laken und der Bettdecke und das muskelentspannende Mittel lief in den Mülleimer neben meinem Bett anstatt in meine Vene. Gestern hatte es sich angefühlt, als säße mein Kopf auf einem verrottenden Baumstamm. Heute spürte ich sämtliche Muskeln und Bänder, meinen ganzen Körper. Ich konnte mich wieder bewegen.
»Na, haben Sie das Rätsel gelöst, Ryder?«, erkundigte sich Crandell, tippte auf den halbleeren Tropf und fuhr mit dem Finger am Schlauch entlang. Dann wollte er das Laken heben und meine Kanüle überprüfen.
Ich riss den Kopf zu ihm herum. »Das ist alles nur Show, richtig? Ein super Szenario, das Sie sich ausgedacht haben. Lucas ist gar kein Psychopath.«
Meine Worte erregten seine Aufmerksamkeit. Er ließ das Laken fallen und zog eine Augenbraue hoch.
»Sie haben sich Gedanken gemacht, Ryder.«
Ich plapperte wild drauflos, assoziierte frei und rasselte alle Ideen herunter, die mir seit Stunden durch den Kopf gingen.
»Mit Lucas, dem exaltierten Mitglied einer Familie, die nur aus selbstfixierten Gierschlünden besteht, ist die Phantasie durchgegangen. Gut möglich, dass er in seiner jugendlichen Rebellion ein paar Grenzen überschritten hat, doch sein Handeln war nicht pathologisch. Da er clever ist, hatten seine Brüder ein Problem. Falls er sich in den Griff kriegte, würde Maylene vielleicht entscheiden, ihm die Familiengeschäfte zu übertragen und nicht Buckie, Nelson oder Racine, diesem Trio Schwachköpfe.«
Crandell zwinkerte. »Diese Schwachköpfe waren immerhin klug genug, mich anzurufen. Und mich reich zu machen.«
»Ich weiß Bescheid über die DuCaines«, sagte ich, »über den Baumhausjungen. Der Bursche war so was wie ein Präzedenzfall, der zeigte, dass es in der Familie einen Hang zu gemeingefährlichem und psychopathologischem Verhalten gab.«
Crandell zuckte mit den Achseln. »Die Familie ist total abgefuckt.«
»Lucas’ Verstand war eine Bedrohung für die Brüder. Deshalb haben Sie oder jemand anders Frederika Holtkamp umgebracht. Und Maylene verklickert, Lucas wäre auf Freddys Lehrerin fixiert gewesen und hätte sie getötet.«
»Da Sie von ihrem Killer-Bruder wissen, können Sie sich ja vorstellen, dass die alte Dame sich mit Obsessionen auskennt.«
»Als Lucas letzten Monat abgehauen ist, haben Sie Taneesha Franklin ermordet für den Fall, dass Lucas an Maylene herantritt und versucht, sie davon zu überzeugen, dass er nicht wahnsinnig ist.«
Crandell zog interessiert eine Augenbraue hoch. »Sieh mal einer an, jetzt schnallen Sie endlich mal was! Ms Franklin hat von ein paar Machenschaften Wind gekriegt, alles nur Kleinigkeiten. Sie hat Reporterin gespielt, ist im Büro von KEI aufgetaucht und hat Fragen gestellt, die dusselige Kuh. Wir haben eins von Buck seniors alten Messern verwendet, ein Familienerbstück.«
»Und darauf sind natürlich Lucas’ Fingerabdrücke.«
»War kein Problem. Shuttles hat uns ein Foto der Mordwaffe aus dem Bericht der Spurensicherung besorgt. Und wir haben Mama Kincannon das Familienmesser in einem Foto auf dem offiziellen Briefpapier des Alabama Forensic Bureau unter die Nase gehalten, woraufhin sie in Ohnmacht gefallen ist. Sie hält Lucas allen Ernstes für die Inkarnation des Baumhausjungen.«
»Sie haben Taneesha Franklin woanders getötet und sind hinterher mit dem Wagen zum Tatort gefahren.«
Crandell klatschte in die großen Hände und grinste.
»Ich habe sie in einem alten Schuppen erledigt. Franklin hat in einem fort gequatscht. Wie sich herausstellte, war das reine Zeitverschwendung, denn sie wusste gar nichts. Ich habe den Wagen so frisiert, dass es wie ein Raubüberfall aussah, habe ihn mit einem Abschleppwagen auf die andere Seite der Stadt gebracht und gewartet, bis Shuttles auftauchte und das Messer mit den Fingerabdrücken dort platzierte.«
Genau wie damals nach dem Holtkamp-Mord, als ein Abschleppwagen Lucas’ Auto abtransportierte und Pettigrews Reifenspuren sich auf einmal im Nichts auflösten. Plötzlich fiel mir eine weitere Unstimmigkeit ein. Der Lastwagenfahrer Dell hatte ausgesagt, der Wookie hätte die Statur eines Affen, während Leroy Dinkins Lucas als groß und schlank beschrieben hatte. Crandell war breit und hatte kurze, krumme Beine, also eine eher affenähnliche Figur.
»Der Lastwagenfahrer hat nicht Lucas gesehen«, schlussfolgerte ich.
Crandell tätschelte seinen Kopf mit beiden Händen.
»Zehn Dollar für eine Halloween-Perücke samt Bart. Lucas hat sich hier drinnen nie rasiert, auch das war Teil seiner jugendlichen Rebellion. Als Mama die Polizeiberichte las, dachte sie natürlich, ihr Junge schlägt mal wieder über die Stränge.«
»Und Sie werden ihn finden und zurückschaffen.«
»Das dauert nicht lange, denn er ist ganz in der Nähe. Mama will ihn immer noch hierbehalten und ein paar zusätzliche Schlösser oder so anbringen lassen. Aber jetzt schleichen wir nicht mehr wie die Katze um den heißen Brei, Ryder.«
»Wovon reden Sie?«
Sein strahlendes Grinsen hatte die Kraft von tausend Volt. Seine Augen glänzten voller Erstaunen über sich selbst.
»Lucas wird noch mal töten, Ryder. Danach ist Schluss mit den Ferien im Ritz. Mama wird endlich zustimmen, dass bei Lukie-Boy eine Lobotomie durchgeführt wird. Wir haben schon einen mexikanischen Arzt gefunden, der ihm das Hirn raussäbelt.«
Mein Magen krampfte sich vor Ekel zusammen. Die drei älteren Kincannon-Brüder hatten die Absicht, Lucas Kincannon in Gemüse zu verwandeln, um auf diese Weise die Gefahr, die sein überragender Verstand darstellte, endgültig zu bannen.
»Wen wird Lucas töten?«, fragte ich.
Crandell ließ sich mit der Antwort Zeit. Er schaute mir tief in die Augen und genoss den Augenblick.
»Buck Kincannons Freundin, Ryder. Eine hübsche blonde Nachrichtentante. Sind Sie ihr mal begegnet?«
Um acht Uhr morgens schritt Nautilus durch den Eingang der Polizeiakademie. Er war bis drei Uhr früh auf gewesen und hatte sich anschließend ein paar Stunden aufs Ohr gelegt, weil er wusste, dass er für das, was er vorhatte, mit Sicherheit einen klaren Kopf brauchte. Eine Bestätigung war erforderlich, ein Beweis, der endlich Licht ins Dunkel brachte.
Major Dominick Purselli, der Leiter der Polizeiakademie, war Shuttles’ Ausbilder gewesen und von daher möglicherweise in der Lage, ein paar Einzelheiten über den Jungen zu erzählen und Logans Geschichte zu untermauern. Purselli kannte auch Logan. Die beiden Männer, die jahrelang zusammengearbeitet hatten, waren sogar Kumpels. Wie Logan war auch Purselli ein altes Schlachtross, besaß aber ein charmanteres Naturell.
Nautilus öffnete die Tür zu Pursellis Büro. Eine gedrungene Frau mit drahtigem Haar saß an seinem Schreibtisch.
»Hallo, Alice. Ist Dom da?«
»Er hat diese Woche Urlaub.«
»Urlaub?«
»Steckt irgendwo in Kanada. Im Land der Elche. Er kommt in einer Woche wieder zur Arbeit. Unterrichtest du dieses Jahr wieder?«
»Nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt.«
»Wir kriegen dich schon überredet.« Plötzlich veränderte sich ihre Miene. »Harry, das mit Carson …«
Nautilus winkte ab.
»Ich weiß«, sagte sie. »Schwer, darüber zu reden.«
Nautilus rammte die Hände in die Taschen und schlenderte an der Hall of Heroes vorbei. Dort hingen Fotos von den Beamten, die im Dienst gestorben waren. An der Wand war eine freie Stelle. Jemand hatte schon einen Haken angebracht. Mit geschlossenen Augen lief Nautilus an den Bildern entlang und öffnete sie erst wieder, als er einen sieben Meter langen Schaukasten mit Fotos von Personen passierte, die das Mobile Police Department mit Spenden unterstützt hatten.
Kurz vor dem Ausgang schnippte er mit den Fingern, machte auf dem Absatz kehrt und rannte zu dem Schaukasten zurück, in dem Plaketten, Fotos und Zeitungsausschnitte in chronologischer Reihenfolge ausgestellt waren. Wann hatte Shuttles angefangen? Nautilus’ Blick wanderte von einem Datum zum nächsten, bis er zum neuesten Ausstellungsstück gelangte, einer großen Holz- und Messingtafel mit einem Foto von Nelson Kincannon. Die Aufnahme und ein Zeitungsausschnitt waren unter Plexiglas montiert. Mit zusammengekniffenen Augen und breitem Grinsen beugte sich Kincannon schräg zur Kamera hinunter.
Auf dem Foto schüttelte Nelson Kincannon Tyree Shuttles die Hand.
Nautilus spürte, wie ihm beim Lesen der Schweiß den Rücken hinunterlief. Vor ein paar Jahren hatte Tyree Shuttles ein KEI-Stipendium für herausragende Polizeiarbeit erhalten, eine Anerkennung, mit der er College-Kurse und seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Die »verdiente finanzielle Unterstützung« belief sich auf fünfzigtausend Dollar.
Die eine Hand gibt …