Image Kapitel 46

Miss Gracie stand an meinem Bett. Ihre Hand lag auf dem Laken, zwei Zentimeter von meiner entfernt. Ich hatte den Eindruck, sie wollte sie berühren. Kontakt herstellen.

»Man hat mir gesagt, ich soll die Nacht frei nehmen«, berichtete sie.

»Wer gibt Ihnen Anweisungen, Miss Gracie?«

»Er. Cran-Man. So ist es immer, wenn er auftaucht. Läuft nicht alles so, wie er es will, übernimmt er den Job nicht.«

Nach dem, was ich über Crandell wusste, ergab das durchaus Sinn. Er verlangte die absolute Kontrolle, um Fehler möglichst von vornherein auszuschließen. Ich zerrte an den Riemen.

»Miss Gracie, können Sie mich losmachen?«

Sie wandte sich ab.

»Er ist jetzt da draußen. Mit einer Horde Wachmänner. Sie rechnen damit, dass Lucas Miz Kincannon einen Besuch abstatten wird. Sie behaupten, er wolle sie töten. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«

»Sie sind nicht davon überzeugt, dass Lucas ein Psychotiker ist?«

»Seit er hierhergekommen ist, hat man mir das tausend Mal gesagt. Dass er krank ist. Dass ich ihm nicht über den Weg trauen darf. Dass er lügt und so tut, als wäre er gesund. Ich denke, er war nur ein verstörter Junge, mehr nicht.«

»Und was war mit Dr. Rudolnick? Was hat er gedacht?«

Sie schloss die Augen.

»Er hat Berichte geschrieben, die sie Miz Kincannon überreicht haben. Darin stand, dass er zu seiner eigenen Sicherheit und der seiner Mitmenschen hierbleiben sollte. Noch bevor der Doktor Lucas überhaupt gesehen hat, wurde ihm erzählt, welche Meinung er vertreten sollte. Dr. Rudolnick war ein ängstlicher Mann und sie hatten irgendetwas gegen ihn in der Hand. So machen sie das immer. Sie erpressen die Leute.«

»Aber Ms Kincannon …« Ich ließ die Worte in der Luft hängen.

»Sie wollte, dass der Doktor alle paar Wochen nach Lucas sieht. Und versucht, ihn zu heilen. Irgendwann hat der Doktor gemerkt, was wirklich lief. Es hat ihn krank gemacht, dass er an der ganzen Scharade beteiligt war.«

Und dafür hat er schlussendlich mit dem Leben bezahlt, dachte ich bei mir. Hatte der zunehmend verrückter werdende Buck wegen Rudolnick eine Paranoia entwickelt? Oder war der gute Doktor einfach nur eins von vielen »Problemen« gewesen?

Ich betrachtete meine gefesselten Handgelenke. »Können Sie nicht meine Arme und Beine losbinden, Miss Gracie? Und mir eine Chance geben?«

»Wenn er rausfindet, was ich getan habe, wenn sie das rausfinden …«

»Müssen Sie gehen. Und auch Ihr Sohn. Tyler.«

Sie holte tief Luft. »Sie wissen Bescheid?«

»Tylers Haut ist zu dunkel, als dass er eins von den Kincannon-Kindern sein könnte. Und Sie hätten es mir gesagt, wenn er einer von ihnen wäre.«

Miss Gracie drehte sich um und wischte eine Träne weg. »Tyler müsste dann in ein Krankenhaus einer karitativen Organisation, auf eine ganz normale Station. Dort gibt es nichts von all dem, was er hier kriegt. Außer Liebe kennt Tyler nicht viel, und die kann ich ihm hier geben. Und ich kann sein ganzes Leben lang bei ihm sein.«

»Ich verstehe.«

Sie griff in den Wagen, hielt zwei Infusionsbeutel hoch und hängte sie an den Tropfständer.

»Ich muss die beiden hier anschließen. In einem ist das muskelentspannende Zeug. Im anderen ein Beruhigungsmittel. Der Kerl will, dass Sie schön benebelt sind. Er hat mir aufgetragen, die Zufuhr zu drosseln, damit es die ganze Nacht hält.«

»Er will mich fertigmachen.«

»Ich kann nicht in die Zukunft schauen. Aber ich tue das, was ich gestern getan habe. Ich sorge dafür, dass der Inhalt aus den Schläuchen im Mülleimer landet.«

Miss Gracie verschwand durch die Tür. Eine halbe Stunde später tauchte Crandell auf und pulte mit einem Zahnstocher in den Eckzähnen herum.

»Sie bleiben jetzt eine Weile sich selbst überlassen, Ryder. Ich habe die Alte angewiesen, dass sie packen soll. Wenn Sie scheißen müssen, lassen Sie’s einfach in die Windel laufen. Muss angenehm sein, wenn man sich einfach umdrehen und scheißen kann, wann man Bock hat. Wie der alte ausgebrannte Sack dort oben und all die anderen, die hier wohnen.«

Ich drehte den Kopf in seine Richtung, grinste benommen, wie ein Mann, der in einem Meer aus entspannenden, beruhigenden Drogen trieb.

»Wer sagt was?«

»Muss doch nett sein, darin herumzuschwimmen, Ryder. Ich wollte nur noch kurz nach Ihnen sehen, ehe ich arbeiten gehe. Ihre Ex-Muschi kommt gegen neun zu Buck nach Hause und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich hinterher wieder aufräumen darf.«

»Äh-hm. Bestimmt.«

»Nur fürs Protokoll, Ryder. Ich habe Holtkamp und Franklin nicht abgemurkst. Buckie hat sich freiwillig gemeldet. Ist das nicht schräg, Ryder? Da sieht einer wie Buck Kincannon aus und dreht völlig durch, wenn’s um Frauen geht.«

»Dreht durch? Waas?«

Crandell grinste und malträtierte mich mit dem Zahnstocher. Er stach auf meine Nase ein. Ich stierte blind an ihm vorbei, woraufhin er in die Hände klatschte.

»Ich schaue später wieder vorbei. Muss Ihre Klamotten in Fetzen reißen, mit Ihrem Blut tränken und sie irgendwo ins Meer werfen, damit sie am Strand angeschwemmt werden. Wird vermutlich ein paar Touristen aus Wisconsin eine Heidenangst einjagen. Ungefähr zehn Meilen von hier gibt es einen Schuppen mit einem tiefen Loch im Boden. Das Loch ist einsam und wartet schon auf Gesellschaft.«

Ich zuckte mit den Wimpern, als würde ich versuchen, wach zu bleiben.

Crandell sagte: »Jetzt muss ich mich um Ihren alten Freund Shuttles kümmern. Wissen Sie noch, wer das ist? Da gibt es ein kleines Problem, das nervt, aber wie ich schon sagte: Rio de Janeiro.«

»Waaah?«

»In diesem Zustand sind Sie gar nicht witzig, Ryder. Aber wir kriegen noch was zu lachen, bevor Sie heute Nacht in dem Loch landen, versprochen.«

 

Image

 

»Da kommt was«, verkündete Nautilus zwanzig Minuten, nachdem er die Mail abgeschickt hatte. Claypool rannte zu Nautilus und beugte sich über die Schulter des Detective.

Durchhalten, Hilfe ist unterwegs. Treffen Standort B, 23 Uhr. Partner klarmachen, er wird bezahlt. Bar. So schnell wie möglich antworten, sobald Gelegenheit.

»Er denkt wahrscheinlich, dass Shuttles im Moment mit Logan rumhängt«, sagte Nautilus.

»Wo ist Standort B?«, fragte Claypool.

»Ich habe keinen Schimmer«, meinte Nautilus, verließ den Computer und stürmte zur Tür hinaus.

 

Image

 

Als ich hörte, wie die äußere Tür ins Schloss fiel, zerrte ich wie ein Wilder an meinen Fesseln. Die Ledergurte waren zehn Zentimeter breit und doppelt so dick wie ein Gürtel. Mir war, als kämpfte ich gegen Eisenschellen an.

Freddy spazierte durch den Flur, plapperte vor sich hin und hielt sein Stofftier hoch.

»Wuff! Wuff! Pst, sei nicht so laut, Hündchen. Carson schläft.«

»Ich schlafe nicht, Freddy, ich liege nur so im Bett rum.«

Er riss den Kopf zu mir herum und kam in mein Zimmer gerannt.

»Willst du spielen, Carson? Das Hündchen ist auch gerade aufgewacht. Nach dem Abendessen legt es sich mit mir hin und schläft.«

Wir spielten. Freddy leckte mich mit dem Hündchen ab und ich sagte: »Guter Junge, liebes Hündchen.«

Ein paar Minuten vergingen.

»Freddy, könntest du mir einen Gefallen tun?«

»Willst du was trinken? Beerensaft?«

»Ich möchte wissen, was da draußen läuft. Heute ist eine ganz besondere Nacht. Könntest du hin und wieder für mich aus dem vorderen Fenster gucken und mir erzählen, was du siehst?«

»Was ich wo sehe?«

»In dem Haus dort drüben.«

»In Onkel Bucks Haus?«

»Ja, genau«, antwortete ich. »Was hältst du davon, jetzt mal nachzuschauen?«

Er trottete weg. Das Hundegesicht baumelte in seiner Hand. Ein paar Minuten später kehrte er zurück ans Bett.

»Vor Onkel Bucks Haus steht nur ein Auto, Carson. Es gehört dem Mann, den ich nicht mag.«

»Welcher Mann ist das, Freddy?«

»Der Mann, der manchmal hier ist. Er hat meine Lehrerin, Ms Holtkamp, gefeuert. Und dann ist er gekommen und hat Dr. Rudy, Lucas’ Lehrer, rausgeschmissen.«

»Rausgeschmissen?«

»Das hat Onkel Buck gesagt. Das heißt, dass sie hier nicht mehr arbeiten dürfen. Dr. Rudy ist nur hin und wieder gekommen, aber ich mochte ihn. Und Ms Holtkamp mochte ich sogar sehr. Sie hat mir Worte und Zahlen beigebracht.«

»Der Mann, den du nicht magst … Ist das Mr Crandell?«

Freddy senkte den Blick auf den Boden. »Einmal, als niemand hingeschaut hat, ist er auf das Hündchen getreten und hat mich gefragt, ob ihm das wehtut. Und als ich gesagt habe, ja, es tut ihm weh, hat er gelacht und es noch mal gemacht.«

»Freddy, ich werde dir jetzt die Wahrheit erzählen. Da draußen wird es richtig Probleme geben. Es passiert was Schlimmes, wenn ich einer Freundin von mir nicht helfen kann.«

Er runzelte die Stirn. »Was heißt das?«

»Ich muss diese Gurte an meinen Armen und Beinen loswerden. Sie lähmen mich. Sie verhindern, dass ich meiner Freundin helfen kann.«

»Die sind fest, Carson. Ich glaube nicht, dass du sie abkriegst.«

»Ich weiß. Darum brauche ich ja deine Hilfe. Du kannst sie abmachen, Freddy. Die Gurte lösen.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das kann ich nicht, Carson.«

»Weil es rot ist?«

»Ich mache keine roten Sachen. Lucas schon.«

»Du musst mir helfen, Freddy. Ich muss aus diesem Bett raus. Es tut weh. Willst du, dass einer deiner Freunde Schmerzen hat?«

»Lucas sagt solche Sachen, wenn er im roten Bett ist und im roten Zimmer. Er fragt mich, ob ich ihm helfe.«

»Und du hilfst Lucas doch, oder?«

»Das darf ich nicht.«

Das war eine einfache Feststellung, eine Tatsache, bar jeder moralischen Bewertung, frei von Wissen um die Konsequenzen. Man hatte ihm verboten, jemanden zu befreien, der gefesselt war, und danach handelte er.

»Bitte«, flehte ich.

»Lass uns doch spielen, Carson. Das Hündchen möchte spielen. Es mag dich.«

»Ich will nicht spielen, Freddy. Ich muss, verfluchte Scheiße, aus diesem Bett raus.«

Er schnitt eine Grimasse und begann zu weinen.

»Du bist jetzt wie Lucas manchmal. Ich gehe.«

Er drehte sich um und stapfte Richtung Tür.

»Freddy, es tut mir leid«, rief ich ihm hinterher. »Ich bin verzweifelt.«

Er wandte sich wieder zu mir um und rieb sein Auge mit dem Finger. »Was bedeutet vereifelt?«

»Es bedeutet, ich möchte, dass du und das Hündchen hierbleiben.«

Von einer Sekunde auf die andere grinste Freddy schief. Er rannte ans Bett. Ich erlaubte dem Hündchen, mir das Gesicht abzulecken, auf meinem Bauch herumzuhüpfen, meine Zehen anzubellen. Freddy ließ das Hündchen an meinem Bein hochwandern.

»Ich führe das Hündchen aus, aus, aus …«

»Könntest du für mich noch mal aus dem Fenster sehen, Freddy?«, bat ich.

Er machte einen Schmollmund. »Aber das ist ganz weit drüben, auf der anderen Seite vom Himmel, noch hinter den Zimmern, wo Miss Gracie wohnt. Muss ich denn?«

»Es würde mich sehr glücklich machen.«

Er seufzte. »Na gut, Carson.«

Er lief weg und kam kurz darauf zurück. Er hielt das Hündchen hoch, als ob es sprechen würde. »Wuff! Jetzt ist da drüben kein Auto. Das Hündchen sagt, der Parkplatz ist leer.«

Ich überlegte, wie spät es wohl war. Crandell hatte angedeutet, dass Dani gegen neun Uhr abends bei Buck eintreffen würde.

»Kannst du die Uhr lesen, Freddy?«

Er stierte an die Decke und dachte nach. »Ms Holtkamp hat gesagt, eine Uhr hat zwei Zeiger, so wie ein Mensch zwei Hände hat. Der große Zeiger –«

»Warum wirfst du nicht einen Blick auf eine Uhr, falls es hier eine gibt?«

»In Tylers Zimmer ist eine.«

»Dann wollen wir doch mal sehen, ob du wirklich die Uhr lesen kannst, denn ich glaube, du kannst es nicht.«

»Wetten, doch?«

Eine Minute später tauchte er wieder auf. So, wie er die Arme ausstreckte, musste es zwanzig vor acht sein. »Es ist sieben Uhr vierzig, hahaha. Hier kommt das Hündchen, Carson.«

Langsam ging es mir auf die Nerven, dass mir der Stoffhund beim Nachdenken über Arme, Brust und Gesicht krabbelte.

»Was hältst du davon, wenn das Hündchen mal eine kurze Pause einlegt, Freddy?«

Freddy ließ sich vom Lecken und Kauen nicht abhalten.

»Ich kann nichts dagegen machen, Carson. Pass auf.«

Das Stofftier knabberte an meinem Bettgestell, leckte meinen Arm ab. Ich wollte Freddy gerade wieder bitten, damit aufzuhören, als mir seine Worte noch einmal durch den Kopf schossen: Ich kann nichts dagegen machen.

War das Hündchen etwa ein selbständiges Wesen? Kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Ich lächelte Freddy an und sprach mit leiser, ruhiger Stimme. Ich hatte nur noch ein Ass im Ärmel und musste dabei auf die Vorstellungskraft eines zurückgebliebenen Mannes vertrauen.

»Man hat dir gesagt, du darfst die Gurte nicht lösen, richtig, Freddy?«

»Ja. Das Hündchen leckt jetzt deine Schulter ab, Carson.«

Ich kicherte, spielte den Fröhlichen. »Es ist richtig, dass du das nicht tust, Freddy. Aber wenn man dir nicht verboten hätte, die Gurte zu lösen, könntest du sie lösen. Oder?«

»Sie haben gesagt, ich soll das nicht tun. Und ich bin ein guter Junge und tue, was sie mir sagen. Leck, leck, leck.«

Ich holte tief Luft.

»Freddy?«

»Was denn?«

»Hat man dem Hündchen auch verboten, die Gurte zu lösen?«