Image Kapitel 47

Nautilus stürmte ins Gefängnis und warf einen Blick in die Zelle, wo Shuttles letztes Mal gesessen hatte – leer.

»Wo steckt Shuttles?«, brüllte Nautilus einen Gefängniswärter an, der gerade eine Tasse Kaffee trank.

»Verhörraum.«

Nautilus brauste den Flur hinunter und begegnete Doria Barnes, stellvertretende Staatsanwältin, die auf einer Bank saß und Unterlagen durchsah. »Ich muss mit Shuttles sprechen«, drängte Nautilus.

Barnes verdrehte die Augen. »Viel Glück. Mr Shuttles bespricht sich gerade mit seinem neuen Anwalt.«

»Und wer ist das?«

»Preston Walls.«

Mit lautem Knurren stürmte Nautilus durch die Tür des Verhörzimmers. Shuttles hatte auf einem Stuhl an einem kleinen Holztisch Platz genommen, Preston Walls saß neben ihm und nickte Nautilus zu.

»Tag, Harry«, grüßte Walls. »Wie geht es Ihnen?«

Nautilus ignorierte den Anwalt und beugte sich so weit zu Shuttles hinunter, dass sich ihre Gesichter fast berührten.

»Was können Sie mir über Standort B verraten?«

Walls legte Shuttles die Hand auf den Rücken. Klopfte ihm ein paar Mal auf die Schulter. »Mein Mandant hat nichts zu sagen, Harry. Tut mir leid.«

»Hat Shuttles Sie gerade erst angerufen, Walls?« Falls Crandell wusste, dass Shuttles im Knast saß, war alles umsonst.

»Vor wenigen Minuten«, erklärte Walls. »Augenscheinlich weiß Mr Shuttles um meine Bemühungen für die zu Unrecht Beschuldigten.«

Nautilus legte die Hände auf den Tisch und starrte Shuttles in die Augen.

»Wenn ich nicht rausfinde, wo Standort B ist, könnte Carson sterben. Na, was ist, Shuttles? Haben Sie irgendwo noch einen Anflug von so etwas wie einem Gewissen?«

Shuttles wandte den Blick ab. Walls lehnte sich zurück und spielte mit den Troddeln seiner aalglatten italienischen Slipper herum.

»Vielleicht könnten wir ja einen Deal machen, Harry. Sofern ich das Problem richtig verstehe, war Mr Shuttles ein ahnungsloser Bauer im Schachspiel eines Dritten. Er mag unwissentlich Beweismittel falsch gehandhabt haben, doch das war ein Missgeschick. Falls er Ihnen etwas zu sagen haben sollte, erwartet mein Mandant im Gegenzug Schutz vor Strafverfolgung.«

Nautilus bombardierte Shuttles mit bitterbösen Blicken. »Ich habe eh so meine Zweifel, dass er weiß, wo Standort B ist. Er ist ein untergeordneter Scherge, ein Schwachmat.«

Shuttles nickte Walls zu. Der Anwalt neigte sich zu ihm hin und hörte sich an, was Shuttles ihm ins Ohr flüsterte. Dann richtete sich Walls auf.

»Er weiß eventuell ein paar Details, die Ihnen nützlich sein könnten. Das Wissen um diese Informationen ist selbstverständlich zufällig und nicht Teil eines Verbrechens oder einer Verschwörung. Vielleicht könnten wir mit jemandem aus dem Büro des Staatsanwalts Tacheles reden? Soweit ich weiß, befindet sich Ms Barnes im Gebäude.«

»Das denke ich nicht«, meinte Nautilus. »Ich bin hier fertig.« Mit Walls im Schlepptau verließ er das Verhörzimmer. Er marschierte ein paar Schritte den Flur hinunter und blieb neben dem Wasserspender stehen.

Los, Walls, jetzt mach schon …

Der Anwalt stoppte dicht hinter Nautilus und raunte mit einschmeichelnder Stimme: »Harry, wir könnten hier einen netten Deal eintüten. Der Junge hat einen Fehler begangen. Er weiß nicht mal genau, was er falsch gemacht hat. Und Ihre Worte haben beim Bezirksstaatsanwalt Gewicht.«

Walls feilschte schon, ohne genau zu wissen, was sich abgespielt hatte.

»Wiedersehen, Preston.« Nautilus wischte sich den Mund ab und lief weiter.

»Harry, wir können uns hier einig werden. Ich bin mir ganz sicher.«

Nautilus hielt inne. »Haben Sie eine Ahnung, was Shuttles getan hat? Für wen er arbeitet?«

Walls drückte selbstgerecht den Rücken durch. »Mein Mandant versichert, dass er unschuldig ist. Mehr muss ich gar nicht wissen, Harry.«

Nautilus steuerte auf den Empfang zu. Nach fünf Metern blieb er stehen, drehte den Kopf und sagte: »Crandell.« Er machte noch drei Schritte, dann versperrte Walls ihm schon den Weg.

»Du meine Güte. Was haben Sie gerade gesagt, Harry?«

»Die Kincannons haben einen direkten Draht zu Shuttles, der für sie alles Mögliche erledigt. Crandell ist der Mittelsmann. Sie haben mir Crandell auf dem Tablett geliefert, Walls, erinnern Sie sich noch?«

Walls sah aus, als würde er seekrank. »Harry, so etwas habe ich nie –«

»Ich stehe mit Crandell in Kontakt via E-Mail. Ich werde ihm antworten und ihn an seinen alten Kumpel Preston Walls von Barton, Turnbull und Pryce erinnern. ›Da blitzte so was wie Tollwut auf, als lauere der Wahnsinn hinter seinen Pupillen.‹ Das war es doch, was Sie über Crandell gesagt haben, oder?«

Walls’ Miene wurde so fahl wie Schweineschmalz. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen.

»Das können Sie nicht machen.«

Nautilus klopfte dem Anwalt auf die Schulter, drückte sanft zu. »Sollte Crandell nicht zu mir kommen, würde ich darauf wetten, dass er bei Ihnen auftaucht, Walls.«

»Lassen Sie mich kurz mit meinem Mandanten sprechen. Vielleicht kann ich –«

»Lügen Sie ihm was vor, Walls. Das können Sie doch so gut. Ich werde hier auf Sie warten.«

Fünf Minuten später kam er mit guten Nachrichten zurück. Shuttles, der offenbar glaubte, man würde ihm entgegenkommen, wenn er Informationen lieferte, hatte eine E-Mail-Antwort auf einen Notizzettel geschrieben.

Stand. B bestät. 23 Uhr bestät. I.O. 50 R. Route

It. Testl. 90 Min. Nicht verges.: I.O. 50 R …

Die Bestätigung, sich am Standort B um elf Uhr abends, also in zwei Stunden, zu treffen und »Ich schulde 50 Riesen«.

Shuttles hatte auch eine Wegbeschreibung geliefert. Die Fahrt zum Standort B im Norden von Mobile dauerte nicht lang. Nautilus rief die Spurensicherung an und bat Claypool, die Nachricht von Shuttles’ Computer aus zu versenden. Er zog seine Dienstwaffe heraus, überprüfte das Magazin, befingerte die beiden zusätzlichen Magazine in seiner Jackentasche. Er musste dort früh eintreffen und sich einen Überblick über die Gegend verschaffen. Dann hieß es warten.

Er kontrollierte seine Waffe, eine Glock Kaliber .17, noch einmal und eilte anschließend aufs Präsidium, um die .38er aus seinem Spind zu holen. Eine kleine Rückversicherung, die er hinten in den Hosenbund stecken konnte. Vielleicht sollte er auch noch ein Gewehr mitnehmen.

 

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Ich tätschelte das Hündchen, nachdem es mich befreit hatte – guter Hund, guter Hund –, und erklärte Freddy, sein Hündchen hätte sich eine Belohnung verdient. Freddy ging in den Küchenbereich, um für das Hündchen und sich einen Imbiss zuzubereiten. Ich lief ihm hinterher, trank ein Glas Milch und stopfte ein Stück Pizza in mich hinein, um wieder zu Kräften zu kommen. Anschließend machte ich mich auf die Suche nach einer Waffe und einem Fluchtweg.

In der Ferne rumpelte es laut. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Kam Crandell gerade die Auffahrt hochgefahren?

Wieder rumpelte es draußen. Diesmal war es eindeutig ein Donnergrollen.

In der Küche fand ich nur Gerätschaften aus weichem Kunststoff. Nichts, was als Waffe taugte. In einem Schrank neben der Tür entdeckte ich eine Männermalerhose und einen dunkelblauen Frauenregenmantel, der – wie ich vermutete – Miss Gracie gehörte. Immer noch besser als der Schlafanzug, in den man mich gleich nach meiner Ankunft hier gesteckt hatte.

Barfuß und ohne Hemd machte ich mich im flatternden Regenmantel auf die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.

Die Fenster waren vergittert und verkabelt. Ein Kabelbruch würde wahrscheinlich im Büro der Wachmannschaft Alarm auslösen. Die Türen waren allesamt aus Stahl und mit elektronischen Schlössern gesichert. Telefone gab es nicht.

Das ganze Stockwerk war offensichtlich so entworfen worden, dass Lucas unter gar keinen Umständen flüchten konnte, falls es ihm irgendwann gelang, seinem zweizimmrigen Verlies zu entkommen.

Da blieb mir nur die zweite Etage.

Ich entdeckte eine Treppe, die in den zweiten Stock führte: winzige Fenster, fest verschlossene Stahltüren. Der Fahrstuhl war nicht in Betrieb. In Wand- und Küchenschränken suchte ich nach einem Stemmeisen, fand aber nur einen Wischmopp samt Eimer. Der Stiel des Mopps war aus Hartholz und hatte am Ende ein Metallgewinde, auf das die verschiedenen Aufsätze aufgeschraubt werden konnten. Ich drehte den Aufsatz ab, behielt den Stiel und joggte zum Fahrstuhl. Als ich an einem der Küchenräume vorbeikam, sah ich Freddy mit einem Essschälchen auf dem Schoß. Er schaute sich einen Zeichentrickfilm auf Video an und hatte die Lautstärke so aufgedreht, wie Miss Gracie ihm das bestimmt niemals erlaubt hätte.

Das Moppgewinde ließ sich in den Schlitz der Messingfahrstuhltür schieben. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, und achtete darauf, dass der Stiel nicht brach. Die Tür ging ein paar Zentimeter auf, dann rutschte der Stiel ab und die Tür schloss sich wieder. Schweiß tropfte mir von der Stirn und brannte in meinen Augen. Ich umklammerte den Stiel mit aller Macht und arbeitete mit schierer Gewalt.

Als die Tür zehn Zentimeter weit aufging, rammte ich den nackten rechten Fuß in die Öffnung und verlagerte mein ganzes Körpergewicht auf ihn. In dem Moment tat es einen lauten Knall, als hätte jemand einen Schuss abgegeben, ehe der Stiel entzweibrach. Ich fiel nach vorn. Mein Fuß steckte immer noch im Schlitz. Mein Fußgelenk knackte vernehmlich. Ein brennender Schmerz schoss mein Bein entlang. Mich aufzurichten kostete große Überwindung. Ich rammte den Ellbogen in die Tür und schrie, weil es so wehtat. Drückte mit aller Macht. Schließlich ging die Tür auf und ich fiel in die Fahrstuhlkabine.

Hinter mir glitt die Fahrstuhltür zu. Mein Knöchel brannte wie Feuer.

Jemand klopfte an die Tür.

»Carson?«

Ich versuchte, den Atem anzuhalten. »Was ist denn, Freddy?«

»Ich habe dich schreien gehört. Was machst du denn?«

»Ich sehe mich nur um. Bin gleich wieder bei dir.«

»Wo siehst du dich um?«

»Im Fahrstuhl.«

»Kann ich auch reinkommen und mich umsehen?«

»Gern, aber später.«

Er trollte sich. Ich hörte ein leises Tapern, als er in Hausschuhen den Flur hinunterging. Unter Qualen richtete ich mich auf, verlagerte das Gewicht auf den Fuß mit dem lädierten Knöchel, was höllisch schmerzte. Entweder hatte ich mir einen Knochen gebrochen oder einen Bänderriss zugezogen.

Schritte näherten sich der Fahrstuhltür.

»Kennst du den Mann, Carson? Der, der so gemein zum Hündchen war?«

»Ja.«

»Er ist draußen, mit einem anderen Mann. Ich glaube, er kommt rein.«

Am liebsten hätte ich den Kopf in den Nacken geworfen und laut geschrien. Crandell hatte bestimmt sämtliche Schlüssel. Er musste nur die Fahrstuhltür öffnen und ein oder zwei Mal den Abzug betätigen. In dem Fall blieb mir nur eine Möglichkeit: Ich musste mein Gewicht auf mein gesundes Bein verlagern, hochspringen und darauf hoffen, dass Crandell direkt vor der Tür stand. Vielleicht gelang es mir auf diese Weise, ihn anzugreifen, ihm die Finger in die Augen zu bohren, bis der Mistkerl nichts mehr sah …

Langsame, bedächtige Schritte ertönten. Ich hielt den Atem an und stellte mich innerlich darauf ein, durch die Tür zu hechten, falls sie aufging.

Was, wenn er einfach durch die Tür schoss?

Schritte, Tritte … ich wagte nicht, Luft zu holen.

Bumm! Eine Hand schlug hart auf die Tür. Und gleich noch mal.

»Carson? Er ist nicht reingekommen. Sie sind weggefahren.«

Ich lehnte mich an die Tür. Mir wurde ganz schwummerig im Kopf. Mein Herz pochte so laut wie eine Basstrommel.

»Bist du sicher, Freddy? Ist Crandell wirklich weg?«

»Er ist mit diesem Speziallaster weggefahren, Carson.«

»Was für ein Speziallaster, Freddy?«

»Der, mit dem Onkel Buck seine Autos rumfährt. Onkel Buck hat eine Menge Autos.«