Die Bäume rauschten an Nautilus’ Wagen vorbei. Er fuhr auf einer schmalen Landstraße. Nautilus kannte den Treffpunkt, eine alte Einkaufsstraße in einer ehemals ländlichen Gegend. Mittlerweile lag die ständig wachsende Stadt nur noch ein paar Meilen entfernt. Nautilus ging davon aus, dass er und Carson mit ihrer Vermutung auf der richtigen Spur gewesen waren: Crandell wohnte irgendwo außerhalb von Mobile, aber dennoch nah genug, um schnell in die Stadt zu gelangen.
Der Treffpunkt war eine Pizzeria namens A-Roma Pizza. Je näher er kam, desto stärker setzte sich bei ihm die Einsicht durch, dass es besser gewesen wäre, wenn er die County Police in seinen Plan eingeweiht hätte. Er war jetzt mitten in Mobile County, wo er ein paar von der Truppe kannte. Nicht einer von ihnen war vom Schlag eines Cade Barlow. Nautilus wartete, bis er endlich einen langsam dahinzuckelnden Sattelschlepper überholen konnte. In dem Moment, wo er Gas geben wollte, schwenkte der Anhänger aus, rutschte von der Straße und legte eine Vollbremsung hin.
Nautilus nahm an, dass ein Reifen geplatzt war. Der Abstand von seinem Wagen zum Sattelschlepper betrug an die hundert Meter. Langsam rollte er an dem stehenden Fahrzeug vorbei und musterte es neugierig. Ein Abschleppwagen. Die Transportfläche war leer.
Die Fahrertür flog auf und ein Mann sprang halb heraus. Er drückte sich mit den Händen auf die Brust. Der Sicherheitsgurt verhinderte, dass er richtig aussteigen konnte. Nautilus trat auf die Bremse und starrte entsetzt durch die Windschutzscheibe. Seine Scheinwerfer leuchteten die schreckliche Szene aus.
Steig ja nicht aus, warnte eine leise Stimme hinten in seinem Kopf. Melde den Unfall, aber steig auf gar keinen Fall aus. Seine Hand griff nach dem Funkgerät, doch er hielt mitten in der Bewegung inne. Im Rückspiegel bemerkte er ein blinkendes Licht: ein Fahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht auf dem Dach – vermutlich ein Mitglied der freiwilligen Feuerwehr. Hoffentlich hatte der Mann einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert.
»Ich bin Rettungssanitäter«, meldete eine Stimme aus dem Fahrzeug. Die Tür ging auf und Nautilus hörte Schritte. »Was ist passiert?«
»Sieht ganz nach einem Herzinfarkt aus«, rief Nautilus nach hinten. »Ich bin Polizist. Ich werde den Unfall jetzt melden. Haben Sie einen Defibrillator dabei?«
»Nein, aber dafür habe ich das hier.«
Nautilus spürte, wie ihm ein harter Gegenstand aufs Ohr gedrückt wurde. Roch Waffenöl. Die Stimme hinter seiner Schulter sagte: »Hände weg vom Funkgerät. Und nehmen Sie die Flossen hoch, damit ich sie sehen kann.«
Der Mann, der halb aus der Sattelschlepperkabine hing, machte plötzlich einen Salto, landete mit beiden Füßen auf dem Boden und bürstete sich die Hose ab. Nautilus’ Blick fiel auf einen Aufnäher auf der Schulter des Mannes: PRIVATER WACHSCHUTZ. Der Kerl war groß, knochig und kniff die Augen zusammen.
Er grinste in Richtung Crown Vic, legte zwei Signalfackeln auf die Straße, eine vor den Crown Vic und eine dahinter, und zündete sie an. Jeder, der vorbeifuhr, würde denken, dass der Wagen liegen geblieben war.
»In Ordnung, Rafe«, dröhnte die Stimme hinter Nautilus’ Schulter. »Du hast dir heute Abend einen doppelten Bonus verdient. Lass die Auffahrschienen runter, dann können wir die Karre hier wegschaffen.«
»Crandell, oder?«, fragte Nautilus.
»Bleiben Sie ruhig, dann können wir alle bald nach Hause.«
Aber sicher doch, dachte Nautilus.
Scheinwerferlicht wanderte über den »Unfallort«. Ein anderes Fahrzeug fuhr langsam vorbei – ein paar junge Typen in einem alten Camaro mit kaputtem Auspuff.
»Pst«, warnte Crandell Nautilus und beugte sich vor, damit man seine Waffe nicht sah. »Ein Wort und die Bürschchen werden keinen Tag älter.«
»Brauchen Sie Hilfe?«, erkundigte sich der Beifahrer im Camaro.
Der Wachschutz-Mann lächelte, schüttelte den Kopf und deutete auf den Crown Vic. »Danke auch, aber wir schaffen das schon. Das Kupplungsseil ist gerissen. Wir laden ihn auf und schaffen ihn in die Werkstatt. He, wollt ihr Jungs ein Bier?«
Der Junge im Camaro winkte ab. »Danke, Kumpel, aber wir haben alles, was wir brauchen.« Er hielt einen Sechserpack Schlitz Malt Liquor hoch und grinste dümmlich, ehe er und sein Freund weiterfuhren.
Der Wachschutz-Mann sprang schnell auf die Ladefläche und schob die Schienen herunter. Und genauso lange dauerte es, bis Crandell Harry Nautilus vor dem Rücksitz auf den Boden verfrachtet und mit Handschellen an einem Stahlring festgemacht hatte.
»Und ehe ich es vergesse …« Crandells Hand glitt in Nautilus’ Jackentasche und zog die Glock heraus.
»Sieh an, sogar noch ein Gewehr?«, wunderte sich Crandell, als er die Waffe von dem am Sitz angeschraubten Gestell nahm. »Na, da hat sich aber jemand vorbereitet, was?«
Der Wachschutz-Mann kletterte hinters Steuer des Crown Vic, fuhr rückwärts, scherte aus und lenkte den Wagen auf die Ladefläche. Danach zog er einen verchromten Revolver Kaliber .44 aus dem Gürtel und legte ihn auf den Schoß.
»Was nun?«, fragte er Crandell.
»Warte hier und behalte unseren Besuch im Auge. Du musst dich quer über die Sitze legen, damit man dich nicht sieht.«
»Kein Problem.« Der Wachschutz-Mann nickte Nautilus zu. »Was tue ich, wenn er Ärger macht?«
Crandell überlegte kurz, ehe er antwortete. »Verpass ihm eine Kugel. Ins Knie.«
Am Horizont blitzte es. Nautilus spürte, wie der Wind die Richtung änderte. Mit einem Mal lag der Geruch von Regen in der Luft. Der Wachschutz-Mann senkte die Stimme.
»Ich hasse Cops und ich hasse Nigger«, flüsterte er. »Irgendwie habe ich das untrügliche Gefühl, dass du unterwegs Ärger machen wirst.«
In Nautilus’ Magengrube breitete sich eine Eiseskälte aus. Crandell steckte den Kopf durch das Beifahrerfenster.
»Sie werden doch brav sein, oder, Detective?«
»Glaube nicht, dass das einen großen Unterschied macht«, meinte Nautilus.
»Rafe, du bist nett zu unserem Gast, ja?«
Der Wachschutz-Mann kicherte. »Wie Sie gesagt haben: Es sei denn, er macht Ärger.«
»Detective Nautilus, ich möchte, dass Sie mit Rafe reden und ihm versprechen, ein braver Junge zu sein.« Wieder ein Stoß mit dem Pistolenlauf.
Nautilus reckte den Kopf und schaute dem heimtückisch grinsenden Wachschutz-Mann ins Gesicht. Ein Blitz explodierte, ehe ein kleiner dunkler Punkt auf der Stirn des Wachschutz-Manns auftauchte. Er runzelte die Stirn, wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als wollte er eine nervige Fliege verscheuchen, und sackte auf seinem Sitz in sich zusammen.
Nautilus schaute aus dem Fenster. Er roch verbranntes Schießpulver. Ein bis über beide Ohren grinsender Crandell streckte ihm die Waffe entgegen.
Und dann explodierte ein Blitz in Harry Nautilus’ Kopf.
Durch die Luke in der Fahrstuhldecke zu klettern war einfacher, als ich gedacht hatte, denn dabei wurden die Arm- und Schultermuskeln belastet und nicht das schmerzende Fußgelenk. Ich humpelte auf der Kiste herum. Die Deckenhöhe in diesem Haus betrug knapp fünf Meter, während der Fahrstuhl nur zwei Meter siebzig hoch war. Rechnete man noch den Raum zwischen den Etagen hinzu, befand sich über meinem Kopf das zweite Stockwerk und somit auch eine zweite Tür, die ich irgendwie aufkriegen musste.
Mir fehlte eine Art Hebel, den ich ansetzen könnte, aber selbst wenn ich einen zur Hand gehabt hätte, gäbe es keine Stelle, wo man ihn ansetzen konnte.
Ich hielt mich an den schmierigen Kabeln fest und entlastete meinen lädierten Knöchel. Ich versuchte, mir einen Reim auf das Metallgewirr aus Stangen, Federn, Getriebe und Schnappriegeln zu machen. Das bisschen Licht, das mir zur Verfügung stand, fiel durch die sechzig mal sechzig Zentimeter große Luke.
Ich studierte das Durcheinander neben der Tür und über meinem Kopf. Denk nach. Analysiere. Dekonstruiere. Die Fahrstuhltüren öffneten sich erst, wenn die Kabine auf gleicher Höhe war, sonst fielen die Leute ja regelmäßig in den Schacht.
Wurde der Öffnungsmechanismus elektronisch gesteuert oder mechanisch? Wie gingen die Mitarbeiter vom Fahrstuhlnotdienst in so einer Situation vor?
Ich kroch unter den Mechanismus, stellte mich auf ein Bein, umfasste den Stahlriegel an der Tür und zog mich so weit hoch, dass ich die geschmierten Metallkomponenten inspizieren konnte. Ich studierte den Schließmechanismus und entdeckte einen Stellmotor neben dem Türriegel. Daneben war ein roter Knopf von der Größe meines Daumens. Ich drückte ihn ein.
Bingo. Die Tür glitt auf.
Weiches gelbliches Licht fiel in den Fahrstuhlschacht. Ich zog mich hoch. Mein Brustkorb rutschte über die Schwelle, danach mein Bauch und schließlich lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Ich konnte den Schmerz in meinem Knöchel tatsächlich hören: ein schrilles rotes Jaulen. Es kostete mich einige Überwindung, mein Fußgelenk zu betrachten, das dick und geschwollen war.
»Hallo?«, rief eine bebende Stimme.
Der alte Herr saß am Schreibtisch, als hätte er ihn noch nie verlassen. Seine Miene wirkte angespannt. Er versuchte wohl, mein Eindringen in seine Welt zu verstehen. Ich kroch zu einem Ledersessel, zog mich daran hoch und hüpfte zu seinem Schreibtisch hinüber.
»Telefon?«, rief ich. »Wo finde ich ein Telefon?«
Er starrte mich an wie eine Lebensform, der er noch nie zuvor begegnet war, öffnete und schloss den Mund wie ein gestrandeter Fisch. Hinter dem Schreibtisch stand eine Stehlampe. Ich hüpfte hinüber, nahm den Schirm ab, verwendete das Gestell als Krücke und schleppte mich zum vergitterten, von feinen Drähten durchzogenen Fenster hinüber.
Als ich mich umdrehte, sah ich Daddy Kincannon vor dem Schacht stehen und verwundert in die Tiefe schauen.
»Gehen Sie da weg, Paps!«, warnte ich ihn.
Auf unsicheren Beinen führte er eine Art Moonwalk auf und wich ein paar Schritte zurück. Ich schleppte mich an Stühlen, Tischen und Zweisitzersofas vorbei und arbeitete mich bis zum Kamin vor. Zu schmal. Der alte Herr setzte sich auf eine Couch und nahm eine Ausgabe von Forbes zur Hand. Er hielt sie verkehrt herum und warf mir gelegentlich irritierte Blicke zu.
Neben dem riesigen Wohnbereich lag ein kleines Schlafzimmer. Ohne genau zu wissen, was ich eigentlich suchte, wühlte ich den Kleiderschrank durch, in dem nur Freizeitkleidung und Bademäntel hingen. Nein, da in der Schrankecke stand ein Gehstock! Ein alter Holzstock mit lederüberzogenem Griff und Gummistopfen. Vielleicht litt der alte Herr unter Gicht.
Denk nach. Analysiere.
Der alte Herr lebte seit fünfzehn, womöglich gar zwanzig Jahren hier. Bestimmt hatte sich jemand in all den Jahren Gedanken darüber gemacht, was zu tun war, wenn ein Feuer ausbrach oder ein Tornado anrückte. Schließlich war der alte Herr der erste Buck, die Nummer eins, die zwar weggesperrt, aber erstklassig versorgt wurde. Hatte man ihn irgendwann auf einen Notfall vorbereitet, ihn so lange gedrillt, bis sich die richtige Verhaltensweise in seinen unkoordinierten Gehirnzellen eingenistet hatte?
»Wir haben einen Notfall, Mr Kincannon«, brüllte ich. »Gibt es einen Weg, der nach draußen führt?«
Er wischte einen Speichelfaden weg. Ich humpelte zu ihm hinüber, ließ mich auf ein Knie nieder und nahm seine Hand, als wollte ich um sie anhalten.
»Was machen Sie, wenn ein Feuer ausbricht, Sir? Was hat man Ihnen geraten, im Notfall zu tun?«
Er schaute mich mit erwartungsvollen Augen an, als würde ich seine Antwort bewerten, damit er in die nächste Klasse versetzt wird.
»Sir?«, drängte ich ihn.
»In der Krise Toilette aufsuchen. Reinsteigen, verstecken und los geht’s.«
Toilette?
Ich schleppte mich ins Bad, das schätzungsweise so groß wie mein Wohnzimmer war: Badewanne, Whirlpool, Dusche mit mehreren Brauseköpfen. Ich riss einen Schrank von der Größe einer Telefonzelle auf. Leer. Ich roch Regen, warme Erde, frische Luft, die anscheinend aus dem Schrank kam. Ich trat hinein, fing an, die Wände abzuklopfen, bis meine Finger einen Holzriegel fanden, den ich nach unten drückte. Ich fiel, aber ich fiel kontrolliert. Ich hörte, wie parallel zu meinem Fall irgendwo ein Gegengewicht nach oben glitt.
Das war kein Schrank, sondern ein umgebauter Speiseaufzug.
Ich landete hart, wurde schwer zusammengestaucht, war von totaler Dunkelheit umgeben. Als ich mich gegen die Kabinenseiten stemmte, fiel eine Tür auf. Auf einmal saß ich vor einer Azaleenhecke, die die kleine Öffnung kaschierte. Blitze zuckten und weißes Licht explodierte über der weitläufigen hügeligen Rasenfläche. Hinter mir türmte sich das Haus auf. Ich stellte mir vor, wie Buck senior an seinem Schreibtisch saß, den Blick auf die auf dem Kopf stehende Zeitschrift geheftet, und sich vage an einen humpelnden Besucher erinnerte, der vor Jahren einmal aufgetaucht war.
Ich kroch aus der meterlangen Azaleenhecke. Dicke Regentropfen prasselten auf mich nieder. Obwohl ich mich auf den Stock stützte, fühlte sich mein Knöchel an, als wäre er mit spitzen scharfen Dornen gespickt. Blitze leuchteten zwischen den sich zusammenbrauenden Wolken auf. Ein gutes Stück weiter drüben, schätzungsweise einen halben Kilometer entfernt, stand Kincannons Haus. Die Distanz schien mir unüberwindbar.
Andererseits hatte ich gerade erst eine zweite Chance erhalten, und egal, ob sie dem Zufall geschuldet oder etwas war, das man weder mit Sprache noch mit dem menschlichen Verstand erfassen konnte – ich würde es bis zu diesem Haus schaffen, selbst wenn ich jeden einzelnen Zentimeter dorthin auf allen vieren zurücklegen musste. Ja, ich würde an die Tür des gottverdammten Stammhalters dieser gottverdammten Familie klopfen.
Hallo, Buckie, kennen Sie mich noch?