1
Orla versuchte, es nicht als Amputation zu betrachten, aber so fühlte es sich an. Als sie die Wohnung in New York City hinter sich ließen, war das ein Bein. Vor Wochen war sie nach Norden gehumpelt, und jetzt, als sie der Familie ihres Mannes in Plattsburgh zum Abschied winkte, war das ein Arm. Mit der verbliebenen Hand schnallte sie sich an und blickte auf ihren verbliebenen Fuß, der in einem schlammverkrusteten Stiefel steckte. Dieser Körper würde nie wieder tanzen. Keine berauschenden Offenbarungen mehr, wenn sich der Vorhang auf der Bühne hob. Kein Beifall mehr. Kein Fließendmachen ihrer sehnigen Glieder wie Musik mehr. Nur ein karges Leben. Und endlose Wälder.
Shaw war in den ersten Wochen nach ihrem Rückzug aus dem Beruf ein so guter Partner gewesen. Er hatte sich Tag für Tag auf die positiven Dinge konzentriert: Ihre ständig strapazierten Muskeln konnten endlich heilen; sie würde keine schwarzen Zehennägel mehr haben; sie würde nicht mehr stundenlang in der Gesellschaft von verschwitzten, stinkenden Menschen verbringen müssen. Im Geiste des neuen Lebens, das sie planten, hatte sie den Wahrheitsgehalt seines Optimismus eingeräumt. Aber sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, dass sie sich derart beschwert hätte, zumindest nicht häufig und nicht in der Absicht, sich ein anderes Leben zu wünschen. Manchmal nutzten sich die Stifte des Schriftstellers eben ab, und manchmal werden die Pinsel des Malers hart und steif. Dies waren beiläufige Hindernisse des jeweiligen Gewerbes, so wie ihre Schmerzen; sie waren kein Grund, die Kunst aufzugeben.
Doch in ihrem Innersten wusste sie es. 41 war alt für eine Balletttänzerin, und alles erforderte mehr Anstrengung als früher; die Zeit war gekommen. Und sie hatte zugestimmt – das Ende ihrer Zeit sollte den Beginn von Shaws Zeit bedeuten. Jetzt war er an der Reihe, seine künstlerischen Träume zu verfolgen.
An manchen Tagen spürte sie nichts als die Aufregung über eine so große Veränderung, ein echtes Abenteuer. Aber an anderen Tagen … Der Umzug in die Adirondacks war ein bisschen extremer als das, was sie sich einst vorgestellt hatte, als »die Stadt verlassen« bedeutete, an einen Ort wie Pittsburgh zu ziehen, wo sie aufgewachsen war. Eine kleinere Stadt, die das Beste aus allen Welten bot: vielfältig, mit Kulturangebot, erschwinglich. Sie könnten dort ein schönes Familienhaus haben, weitläufig für Manhattan-Verhältnisse, und die Kinder könnten ihre Lola und Lolo haben. Ihre Eltern wären so glücklich gewesen, sie so nahe bei sich zu haben. Aber als Paar vertraten sie auch die Philosophie, den Tag zu nutzen. Und zu erforschen. Und die Möglichkeit zu ergreifen, an unerwarteten Orten Entdeckungen über sich selbst zu machen.
»Carpe diem«, murmelte sie.
Ihr Moment der Akzeptanz zerbrach, gefror blitzschnell, und sie schnappte nach Luft. Da, am Straßenrand. Ein Paar Beine. Ein aufgedunsener Körper.
Das Auto näherte sich der Stelle, und es war tatsächlich real, keine Illusion, aber die hintere Hälfte eines Rehs, keines Menschen. Sie sah den Rest, als sie vorbeifuhren: die Vorderbeine zum Gebet gekreuzt, Blut, das den Schnee um den Schädel herum befleckte. Die Straße löste sich hinter ihnen auf, ausgelöscht durch den seitlich heranstiebenden Schneeregen. So hatte sich das zuvor nicht angefühlt, als sie wusste, dass sie am Ende des Tages zu Walker, Julie und den Jungs zurückkehren würden. Die Bäume standen dichter und schluckten das Licht. Es gab keinen Weg zurück.
Shaw lenkte seine Aufmerksamkeit von der Straße auf sie. »Hast du gerade Carpe diem gesagt?«
Orla wandte der feindseligen Welt, die direkt jenseits der Fensterscheibe lag, den Rücken zu. Sein Grinsen erinnerte sie daran weiterzuatmen. In seinem Haar hingen bläuliche Farbsprenkel; das war im letzten Jahr zu einem alltäglichen Anblick geworden, seit er endlich den zitternden Pfeil seines inneren Kompasses verstand. Angefangen hatte er mit kleinen Leinwänden und Acrylfarben, aber im Laufe der Monate wurden die Leinwände immer größer, und ihre Wohnung nahm den Geruch von Leinöl und Terpentin an, als er auf Ölfarben umstieg. Er war nicht der ordentlichste Maler, und irgendein Teil seiner Haut oder Kleidung – oder seiner Haare – bot stets eine Vorschau auf sein Tagewerk. Allerdings stammte das, was sich jetzt in seinen Haaren befand, sicherlich aus dem frisch renovierten Schlafzimmer der Tochter.
»Habe ich das?«, fragte sie. »Habe ich wohl – das ist es doch, was wir jetzt tun, oder?«
»Genau. Wir nutzen den Tag bis zum Anschlag!«
Sie prustete; manchmal war seine Begeisterung ansteckend. In der Hoffnung, den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht ihrer Tochter zu erhaschen, wandte sie sich dem Rücksitz zu. Hinter ihr saß Eleanor Queen und starrte aus dem Fenster, die Augen auf den Himmel gerichtet. Orla betete, dass sie das tote Reh nicht gesehen hatte. Sie wollte, dass die Wildnis – als die sie die Adirondacks immer noch bezeichnete – gut für ihr nachdenkliches Kind war. Eleanor Queen – für manche einfach nur El oder Eleanor, nie jedoch für ihre Mutter – war ihr nicht robust genug, nicht aggressiv genug erschienen, um in der Stadt bis ins Erwachsenenalter zu überleben. Mit neun Jahren hatte sie immer noch Angst vor der Dunkelheit, eine von vielen Ängsten, die Orla und Shaw resigniert hinnahmen. Als Menschen mit einer reichen Vorstellungskraft konnten sie nicht versprechen, schwören, zweifelsfrei versichern, dass im Dunkeln nichts Beängstigendes lauerte. Und sie respektierten, dass ihre Tochter pragmatische Ängste hatte: trubelige Treppen, die zu den U-Bahnen hinabführten, Sirenen, die von Gefahr kündeten, Bürgersteige mit ihrem Gedränge an eiligen Fußgängern.
Neben ihrer Tochter saß der vierjährige Tycho in seinem Autositz und ließ einen flauschigen, langbeinigen Elch auf seinem Knie hüpfen. Er sang leise vor sich hin, nach seiner eigenen Melodie und seinem eigenen Text: »Driving down the road … going to our home … driving in the car … going very far …«
Sosehr sie auch versucht hatte, den Umzug mit offenen Armen und offenem Geist zu begrüßen, um ihrer Kinder willen und weil Shaw es so sehr wollte, es lag dennoch die Angst, dass ihre Großstadtfamilie nicht für die Wildnis im Nirgendwo geeignet war, wie ein Schatten über ihr. Diese Angst verfolgte sie während der gesamten Fahrt; ein schwarzes Gespenst mit einer tintenschwarzen, menschlichen Gestalt, die sie am Rande ihres Blickfeldes beinahe sehen konnte.
Sie wandte sich wieder Shaw zu, wollte ihn (zum hundertsten Mal) bitten, ihr zu versichern, dass sie alle Eventualitäten durchdacht hatten und wirklich bereit für ihr neues Leben waren. Aber als sie ihn ansah, brauchte sie nicht zu fragen. So zufrieden und eifrig, seine Hände auf zehn und zwei Uhr, fuhr er ihren neuen alten Geländewagen mit Vierradantrieb, als hätte er nur darauf gewartet und wäre endlich da, wo er hingehörte. Und vielleicht war er das auch. Sie sah ihn mit neuer Klarheit. Der struppige Bart, der Schmutz unter seinen Nägeln, die Art, wie sein dicker Mantel 20 Jahre alt aussah, obwohl er erst kürzlich gekauft worden war. Die Adirondacks waren sein Revier; Plattsburgh, wo sie die letzten drei Wochen bei seinem Bruder verbracht hatten, seine Heimatstadt. Als sie Städte in der Nähe von Plattsburgh gegoogelt hatte, hatte sie eine Liste mit lauter Dörfchen und Weilern erhalten; die nach ihren Maßstäben nächstgelegene Stadt – Montreal – lag nicht einmal im selben Land. Vielleicht war Shaw nie wirklich ein Stadtmensch gewesen, aber seine kreativen Impulse hatten ihn dorthin getrieben.
Hatte Orlas Göttlichkeit ihn dort gehalten? Manchmal sah sie sich selbst durch seine Augen, seine schimmernde Bewunderung für ihr Talent, ihren Schwung.
Vielleicht hatte er gedacht, dass etwas von ihrem goldenen Staub auf ihn abfärben würde, als sie damals zusammenkamen. Er beschwerte sich nicht, als das nicht der Fall war, und ließ nie durchblicken, seine eigenen Träume aufgeben zu wollen. Sie respektierte ihn dafür, und sie hielten an ihrem Stadtleben fest, selbst als ihre Freunde weiterzogen und ein anderes Leben oder mehr Platz in Brooklyn oder Astoria suchten. Und dann kam Eleanor Queen. Und dann Tycho. Sie hatte zweimal ein Comeback nach ihrer Mutterschaft hingelegt – eine Seltenheit in ihrem Beruf –, aber das Empire City Contemporary Ballet war nicht so elitär und umkämpft wie die renommierteren Ensembles der Stadt. Und sie hatte hart dafür gearbeitet – hineinzukommen, drinzubleiben, zurückzukommen –, sogar über das hinaus, was ihre Fähigkeiten und ihr Körper ihr für eine mögliche Zukunft vorausgesagt haben mochten. So wurden sie zur klassischen Manhattan-Familie, zusammengepfercht in einer Einzimmerwohnung mit 55 Quadratmetern, und sorgten dafür, dass es allen Widrigkeiten zum Trotz funktionierte.
Shaw legte eine CD in den Player im Armaturenbrett ein. Akustische Musik, überraschend melancholisch. Er fragte nie, was die anderen gern hören würden. Orla mochte die Hauptverdienerin sein und ihre Familie mit ihren beeindruckenden, wenn auch nicht ganz starreifen Talenten durchbringen, aber es war Shaw, der den Beatnik-Ton in der Familie vorgab. Orlas Vater nannte ihn insgeheim einen »Dilettanten«. Sie fand das nicht ganz fair, da Shaw die meisten Aufgaben im Haushalt übernahm, die man sich eigentlich hätte teilen sollen. Aber es war unbestreitbar, dass Shaws wahre Berufung schwer auszumachen war. Er hatte bei mehreren Open-Mike-Veranstaltungen im East Village Gitarre gespielt. Bei anderen seine Gedichte vorgetragen. Er schrieb ein Drehbuch, fotografierte und hämmerte an Holzstücken herum, die nie ganz zu den Skulpturen wurden, die er sich vorstellte. Doch das hatte sich im letzten Jahr geändert, als er sich auf ein Medium und die dafür notwendige tägliche Disziplin festgelegt hatte.
Nachdem ihn eine Ausstellung beim Galeriebesuch in Chelsea (eine Lieblingsaktivität, die nichts kostete) in ihren Bann gezogen und er die Ausstellung mehrmals besucht hatte, machte Shaw eine ungewohnte Gewissheit geltend: Er wusste nun, was er zu tun hatte. Er kanalisierte seine Energie in das Malen von leicht surrealen Versionen von Dingen, die er fotografiert hatte. Zunächst hatten ihn Stadtansichten angezogen, eine Mischung aus düsterem Realismus mit einem Hauch unerwarteter Eigenheit. Raffiniert und ausgefeilt ließen diese Bilder seine früheren Bemühungen wie Kritzeleien aussehen. Doch sein eigentlicher Wunsch war es, seinen Blick der natürlichen Welt zuzuwenden. Wäre es nur darum gegangen, dass er mehr Platz brauchte – was sicherlich der Fall war, wenn er weiterhin etwas malen wollte, das größer als der Deckel eines Schuhkartons war –, hätte sich Orla vielleicht nicht zu einem solchen Umzug aufs Land überreden lassen. Aber er brauchte die Natur jetzt ebenso sehr, wie sie einst eine Metropole mit dem Herzen einer Diva gebraucht hatte.
Sie hatten das Grundstück zum ersten Mal vor sechs Monaten besucht; sein Bruder Walker hatte sie darauf aufmerksam gemacht, kurz nachdem sie begonnen hatten, darüber zu reden, was sie vielleicht tun könnten und wo sie es vielleicht tun könnten. Keinem von ihnen hatte es sonderlich gefallen; das alte hölzerne Farmhaus war ein einziger Murks und viel beengter, als Orla es sich gewünscht hatte. Sie hatten sich damals nicht einmal die Mühe gemacht, es den Kindern zu zeigen, weil sie es nicht für einen echten Kandidaten hielten, obwohl sie sich in der nahe gelegenen, unbestreitbar malerischen Stadt Saranac Lake Village umgesehen hatten. Das Einzige, was Shaw wirklich begeistert hatte, war der Baum: ein riesiger immergrüner Baum 50 Meter hinter dem nichtssagenden, winzigen Haus, dessen massiver Stamm gleichsam aus der Mitte der Erde in die Höhe ragte, umgeben von kleineren Bäumen, die wie seine Kammerdiener wirkten.
Während der Immobilienmakler in seinem Auto telefonierte, waren Orla und Shaw zurück zum Baum geschlendert, Shaw bereits auf dessen Sirenenruf eingestimmt, mit einem Strahlen im Gesicht.
»Ich habe so einen Baum einmal gesehen, ein bisschen nördlich von hier, als ich mit meinem Vater zelten war. Ich war noch ein Kind, vielleicht neun, so wie Bean. Ich sagte meinem Vater, dass ich ihn spüren kann. Ich habe etwas gespürt. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich begriff oder zumindest darüber nachdachte, dass es Dinge in der Natur gab, die uns überleben würden, die Zeugen der Geschichte waren und vielleicht die Zeit auf ihre eigene Weise aufzeichneten. Mein Bruder hat mich bloß damit aufgezogen, wie er es damals ständig tat. Aber mein Vater sagte etwas wirklich Seltsames. So seltsam, dass ich mich immer daran erinnerte, und Walker hielt dann auch die Klappe, hatte keine witzigen Sprüche mehr.«
»Was hat er gesagt?« Orla ließ ihre Hand in seine gleiten. Shaws Vater war schon vor Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben, und sie wünschte sich oft, sie hätte ihn besser kennengelernt.
»Dass man manchmal, wenn man draußen in der Welt ist – er meinte die Berge, die Wälder; er hatte immer hier gelebt –, die anderen Teile seiner Seele erkennt.« Shaw sah sie an, dachte immer noch über diese Worte nach. »Ich hatte keine Ahnung, was er meinte, aber danach habe ich jedes Mal, wenn ich in den Wald ging, nach etwas gesucht.«
»Nach Teilen deiner selbst.«
»Vielleicht.«
»Dein Vater hat dich gelehrt … zu sehen, dass wir Teil von etwas Größerem sind. Das gefällt mir.«
»Wie wir miteinander verbunden sind.« Er hatte ihr Gesicht in seine Hände genommen und sie geküsst. Orla wurde schwindelig; sie kicherte, als wären sie in der Zeit zurückgereist und hätten sich gerade frisch verliebt.
Gerade als sie die Hand nach dem Baum ausstreckten, fasziniert von der alten Rinde, durchschnitt die Stimme des Immobilienmaklers die Luft. Sie eilten zurück.
Orla dachte, damit sei die Sache erledigt, eine interessante Möglichkeit und ein netter Ausflug. Doch als sie nach Hause kamen, begann Shaw von einem wiederkehrenden Traum zu berichten: Orla und die Kinder lebten auf diesem Stück Land. Blühten auf. Und Visionen von ihm selbst in dem Zimmer neben dem Wohnzimmer, wo er seine Meisterwerke auf die Leinwand zauberte. Sie sprachen erneut darüber. Die Bäume in der Umgebung waren im Frühling so schön gewesen, ein vor Grün strotzendes Bild, mit diesem besonderen Baum in der Ferne.
»Es ist, als ob er unser Wächter wäre«, hatte Shaw gesagt. »Ich sehe ihn in meinen Träumen, wie er in die Höhe ragt.«
Und seine Arbeit verbesserte und entwickelte sich weiter, indem er mehr und mehr wildes Grün einbezog, obwohl sie die Stadt noch nicht verlassen hatten. Während sich sein Vorgehen und seine Vision verfestigten, wurde er immer überzeugter.
»Er ruft nach mir. Ich glaube, er ist meine Muse.« Der uralte Baum begann, in sein Werk einzudringen und über die Wipfel der Gebäude zu lugen.
Orla hatte den Ruf der Natur noch niemals erlebt, aber sie glaubte ihm. Es war für sie beide ein neuer Nervenkitzel, zu sehen, wie er zu sich selbst fand, indem er sich in der Erschaffung seiner Bilder verlor. Orla gefiel, dass das Land Shaw an seinen Vater und die philosophischen Lehren seiner Jugend erinnerte. Als sie sich drei Monate später erneut bei dem Makler meldeten, war der Preis gesunken.
Das Haus stand schon seit einiger Zeit leer, und die Verwandten im Ausland wollten unbedingt verkaufen. Sie machten ein sehr niedriges Angebot, und als es tatsächlich angenommen wurde, setzte sich eine Entwicklung in Gang wie ein von der Sehne gelassener Pfeil.