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»Sind jetzt alle Fenster drin, Papa?«, fragte Eleanor Queen vom Rücksitz aus und klang dabei besorgt wie immer.

»Doppelverglasung. Das hält den Wind draußen.« Shaw grinste seine Tochter im Rückspiegel an. In den letzten Monaten war er immer lebhafter geworden – das hatte sich schon bemerkbar gemacht, als sie den Umzug beschlossen hatten, aber in den letzten drei Wochen hatte es noch zugenommen, weil er sich unbedingt endlich in seinem neuen Studio einrichten wollte. Manchmal äußerte sich sein Enthusiasmus darin, dass er auf und ab ging, zu schnell sprach oder ungeduldig mit den Fingern oder dem Fuß klopfte. Allmählich wurde ihr sanfter, ruhiger Ehemann manischer, und Orla war sich nicht sicher, ob ihr das gefiel.

Auch wenn die Kinder das Haus nicht gesehen hatten, bevor sie die Stadt verließen, hatten sie zumindest die Renovierungsarbeiten bei Tagesausflügen verfolgt, während sie alle bei Walker wohnten. Es hatte Spaß gemacht, mit der anderen Bennett-Bande zusammenzuwohnen. Shaw lebte eine entspannte Kameradschaft mit seinem Bruder, und seine Schwägerin Julie war so nett. Orla (eine angeheiratete Bennett, auch wenn sie ihren Nachnamen, Moreau, behalten hatte) hatte die lebhaften Gespräche und die Häuslichkeit genossen. Auch die Jungs waren erstaunlich entgegenkommend gewesen. Dem zwölfjährigen Derek hatte es nichts ausgemacht, sein Zimmer für Shaw und Orla zu räumen, und der 14-jährige Jamie hatte alle jüngeren Kinder in seinem Zimmer willkommen geheißen. Eleanor Queen und Tycho kicherten nachts, als sie sich eine Luftmatratze teilten, sein Kopf an ihren Füßen und umgekehrt. Obwohl die Kinder Cousins und Cousinen waren, hatte Orla es als bemerkenswert empfunden, dass die Jungs so schnell bereit waren, eine Neunjährige und einen Vierjährigen tagelang zu unterhalten. Gute Jungs. Sie waren in verschiedenen Konstellationen von Erwachsenen und Kindern hin und her gependelt, um das neue alte Haus fertigzustellen.

Die Stimme ihrer Tochter holte sie in die Gegenwart zurück. »Und wir werden nicht frieren?«, fragte Eleanor Queen mit sorgenvoller Stimme.

Die Straße war nass und schwarz. Die Bäume kahl und schwarz. Schlieren von eisigem Schnee schossen in horizontalen Flugbahnen an den Fenstern vorbei.

»Brandneuer Ofen«, sagte Shaw grinsend. »Für Tausende von Dollars!«

»Der hält alles kuschelig warm«, sagte Orla und drehte sich zu ihrer Tochter, um sie zu beruhigen. »Und wir haben den Schornstein für den Holzofen reinigen lassen, also ist auch der fertig. Ich kann mir schon vorstellen, wie du dich davor einkuschelst und ein Buch liest.«

Eleanor Queen begann zu lächeln. Doch dann erregte das Schneetreiben, das inzwischen zu einem regelrechten Schneesturm geworden war, wieder ihre Aufmerksamkeit und ihre kleine Stirn legte sich in Falten.

Shaw war auf den verdammten Heizkessel ungefähr so stolz, wie ein anderer Mann auf ein schickes italienisches Motorrad wäre. »Das ist das Herz des Hauses«, hatte er gesagt, als sie im Keller standen und die Installation beobachteten. »Das Herzstück unseres neuen Heims.«

Aber Orla sorgte sich zunehmend wegen der Kosten für alles. Für das Haus und das Grundstück. Den Geländewagen. Den Heizkessel und die Fenster. Den neuen Generator für den Fall, dass der Strom ausfiel, denn selbst das Wasser, das mit einer Pumpe aus einem Tiefbrunnen gepumpt wurde, hing von der Elektrizität ab. Und dann die alltäglichen Dinge, die sie brauchten, um alles und jeden am Laufen, am Leben und gesund zu halten. Sie hatten so viel wie möglich bar bezahlt, aber sie behielt ein wachsames Auge auf ihre Reserven.

Die Genossenschaftswohnung in Chelsea, die ihnen seit 22 Jahren gehörte, war schnell verkauft worden und hatte einen schönen Gewinn eingebracht, und sie hatte ihrem Vater angeboten, die Anzahlung wie versprochen zurückzuzahlen. Er hatte abgelehnt. »Behalte es, um die Ausbildung der Kinder zu finanzieren, falls ich nicht mehr da bin.«

Alles an seinen Worten störte sie: dass er nicht damit rechnete, noch am Leben zu sein, wenn ihre Kinder für das College bereit waren, und ebenso, dass er das unmittelbare Problem verstand. Ihre Ersparnisse würden einfach nicht so lange reichen, und sie brauchten es für Hypothek, Lebensmittel, Nebenkosten, Autoreparaturen und andere Dinge.

Vielleicht erwartete Shaw von ihr, dass sie sich einen Job suchte, wenn es brenzlig werden sollte. Er war an der Reihe, kreativ zu sein, sie musste den Haushalt führen. Im Laufe der Jahre hatte er ihr Einkommen mit verschiedenen Jobs aufgestockt – Kellner, Barkeeper, Steuerberater, Zeitarbeiter. Vielleicht hätte sie solche Möglichkeiten gehabt, wenn sie in Plattsburgh gelebt hätten, etwa eine Stunde nordöstlich ihres Gehöfts. Aber ihr Grundstück im Wald – ein bewaldetes Stück Land mit Blick auf niemanden und nichts von Menschenhand Geschaffenes, eine unbefestigte Schotterstraße einen sanft ansteigenden Hügel hinauf – lag jenseits klar definierter Grenzen. Nachdem sie seit ihrem 17. Lebensjahr in New York gelebt hatte, wo man zu Fuß gehen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen konnte, lernte Orla gerade erst Autofahren, aber sie fühlte sich noch nicht wohl hinter dem Steuer. Selbst bei schönem Wetter war es zu weit, irgendwohin zu laufen. Und bei schlechtem Wetter …

Sie starrte aus dem Fenster. Die Region hatte die zweifelhafte Ehre, die kältesten Wintertemperaturen in den kontinentalen Vereinigten Staaten zu haben. Ganz zu schweigen von den gelegentlichen Schneefällen, die sich dann meterhoch auftürmten.

Julie hatte sie mit einer großen Tasche voller zusätzlicher Wintersachen, aus denen die Jungs herausgewachsen waren, auf den Weg geschickt: Schneehosen, Stiefel, Fäustlinge, sogar zwei Paar Schneeschuhe – und einigen Tomaten und grünen Bohnen, die sie im Sommer eingemacht hatte. War die Sommersaison tatsächlich lang genug, um Gemüse anzubauen? Waren das Fähigkeiten, die Orla erlernen musste, damit das Geld länger reichte: anbauen, einmachen, konservieren?

Sie hatte versucht, ihren Kindern ein Gefühl von Abenteuer zu vermitteln, vor allem in den Wochen, in denen sie kein eigenes bewohnbares Haus hatten. Tycho bemerkte entweder nicht, dass sein Leben im Fluss war, oder es war ihm egal. Solange jemand, den er kannte, in seinem Blickfeld war, war er glücklich. Aber es störte Orla, dass Eleanor Queen immer noch solche grundlegenden und tiefgehenden Sorgen hatte. Sie war mehrmals in dem Haus gewesen, hatte die Fortschritte bei den Verbesserungen gesehen. Warum glaubte sie also nicht, dass es fertig war? Was glaubte sie, wohin ihre Eltern sie bringen würden?

Eleanor Queen hatte zugesehen, wie die Arbeiter die alten Fenster aus dem Farmhaus entfernten. Als das spiegelnde Glas des großen Wohnzimmerfensters verschwunden war und ein schockierend dunkles Loch hinterließ, hatte das Mädchen Orlas Hand umklammert. »Werden wir sterben?«

»Natürlich nicht!«, hatte Orla lachend gesagt und sie geknuddelt. Doch eine Sekunde lang war nur das Quetschen einer gebauschten Jacke zu hören gewesen, und Orlas Blut pochte im Rhythmus der Panik, dass ihre Tochter plötzlich verschwunden war. Dann spürte sie die kleinen Knochen von Eleanor Queen unter der Jacke, und das Gefühl verging.

»Freust du dich schon auf dein eigenes Zimmer?«, fragte Orla jetzt mit fröhlicher Stimme und verdrängte die unangenehme Erinnerung. Shaw fuhr langsamer, als die Sicht schwächer wurde.

»Juhu!«, sagte Tycho, obwohl er wahrscheinlich derjenige war, den das am wenigsten interessierte. Was ein Glück war, wenn man bedachte, dass sein schmales kleines Zimmer ein nachträglicher Einfall gewesen zu sein schien, kaum mehr als ein Schrank mit einem Fenster, der durch die Hinzufügung einer Wand entstanden war, die das größte der Schlafzimmer im Obergeschoss abtrennte. Aber das war immer noch mehr persönlicher, eigener Raum, als er oder irgendeiner von ihnen bisher gehabt hatte. Nach der Geburt von Eleanor Queen verwandelten sie das einzige Schlafzimmer in ein Kinderzimmer und kauften sich ein neues Schlafsofa für das Wohnzimmer. Ein paar Jahre später kamen die Etagenbetten hinzu. Die vier hatten sich an das kompakte Wohnen gewöhnt.

»Und Papa hat sein allererstes Atelier, in dem er seine Meisterwerke schaffen kann!«, sagte Orla. Sie grinste, als Tychos Gesicht aufleuchtete, der sich immer für alle freute. Sie lächelte immer noch, als sie sich zu Shaw umdrehte. Er sah komisch aus, wenn er glücklich war, mit den halbmondförmigen Fältchen um seine Augen und den gebleckten Zähnen, die schief in seinem Mund standen, die oberen Zähne direkt auf den unteren. Eine verrückte Grimasse. Aber sie war froh, dass er glücklich war.

»Mein A-ha-tel-yeah «, sang er und klopfte im Takt der Musik-CD auf das Lenkrad. »Wo ich ma-ha-len werd-ey …« Tycho war nicht der Einzige in der Familie, der gern kleine Liedchen trällerte.

Das Atelier war, wie in seinem Traum, das geräumige Schlafzimmer direkt neben dem Wohnzimmer. Zum ersten Mal seit 15 Jahren würde Shaw seinen eigenen Arbeitsbereich haben, mit einer Tür. Orla war ein wenig neidisch, rief sich aber ins Gedächtnis, dass sie, wenn er im Atelier war, in ihr Schlafzimmer im Obergeschoss gehen und die Tür schließen konnte. Das war für sie alle neu: die vielen Räume, die vielen Türen.

Tychos Lider flatterten schläfrig; der Elch in seiner Hand lag auf seinem Schoß und war bereits eingeschlafen. Auch sie, die sich ihres Körpers stets ganz bewusst war, verspürte eine Schwere, ein Verlangen, in den Winterschlaf zu fallen. Das gestrige Thanksgiving-Festmahl lag ihr noch immer schwer im Magen. Und ihre Beine (immer noch zwei, trotz des anhaltenden Gefühls, dass sie abgetrennt, abgespalten worden waren) schmerzten, und sie sehnte sich danach, aus dem Auto zu springen, ihre Ferse zu packen und ihr Bein bis zum Ohr hinauf zu strecken.

Sie hatten immer gesagt, dass Plattsburgh nicht so weit von ihrem neuen Wohnort entfernt war und dass sie dort oft zum Einkaufen und für Familienbesuche hinfahren würden. Doch als sie die Route 3 entlangfuhren, schien sich die Welt hinter ihnen bis zur Unkenntlichkeit zu dehnen und die Orientierungspunkte, die ihnen den Weg zurück weisen würden, auszulöschen. Orla fiel es schwer zu akzeptieren, dass sie immer noch in New York waren – im Bundesstaat, nicht in der Stadt –, aber wie konnte es hier auch so anders sein? Es war einfacher gewesen zuzustimmen, als ihr die Landschaft noch nicht so völlig fremdartig erschienen war. Nördlich der Stadt hatte sich gar nicht so schlecht angehört, mit dem Wort Stadt, das an dieser Wendung baumelte und nicht loslassen wollte, und mit New York, das immer noch ihr Heimatstaat war. Aber die Stadt war weg. Ihr Leben war weg. Und die Landschaft nicht wiederzuerkennen.

Sie drehte die Musik auf, in der Hoffnung, den Wind zu übertönen, der jenseits des Fensters heulte. Das bist du ihm schuldig, heulte er. Du hast es versprochen . Shaw warf ihr einen begeisterten Blick zu, und sie ließ ihn das Beste glauben, nämlich dass sie genauso glücklich war wie er. Aber selbst die lieblichen Töne der gezupften Gitarre ließen sie nicht entspannen. Ihm schuldig . In den vibrierenden Saiten. Ihr Mann würde es nie aussprechen, aber die Schuldigkeit lag in dem stillen Raum zwischen ihnen. Ich bin dran . Wir waren uns einig . Und noch leiser, darunter, eine Stimme, die sie mühsam unterdrückt hatte. Deine Rolle ist beendet . Der Vorhang war gefallen und würde sich nicht mehr heben. Und sie hatte Angst vor der Dunkelheit.