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Als sie sich die Einfahrt hinaufschlängelten, hatte der Schnee bereits einen dicken Teppich ausgebreitet. Die Kinder waren hellwach und drückten ihre Gesichter an die Fenster. Natürlich waren sie alle schon einmal im Haus gewesen, aber keiner von ihnen hatte dort eine Nacht verbracht oder es unter solch winterlichen Bedingungen gesehen. Shaw schaltete die Musik aus, und der Dunst, den sie ausatmeten, die wiederaufbereitete Mischung aus all ihren Lungen, summte vor Erwartung.
»So schön!«, sagte Tycho, als das Farmhaus in Sicht kam.
Der kleine Optimist. Es musste der Schnee sein, der wie Zuckerguss auf den Ästen der Bäume lag und in weißen Schlieren auf dem Dach. Der blaugraue Anstrich war so alt, dass er größtenteils abgewaschen aussah, und die Fenster waren in einem vielleicht einstmals festlichen Rot gestrichen, das jetzt rostig und schorfig wirkte. Sie würden das Äußere streichen lassen müssen, wenn sie das Holz schützen wollten, aber erst nächstes Jahr; sie hatten schon so viel ausgegeben. Für Orla sah es gebrechlich aus, nicht wie die massiven Stahlgebäude, wie der Stein und die Ziegel und die solide Beständigkeit ihres früheren Lebens. Ein Windstoß könnte es umstürzen lassen. Zwei Stockwerke aus zersetzbarem Holz, ein Schrägdach, eine Veranda aus Streichhölzern und Fenster mit wachsamen Augen und offenen Mündern.
»Also gut, sind alle bereit?« Shaw fuhr in die frei stehende, offene Garage, deren Bretter noch stärker verwittert waren als die des Hauses und deren Dach ebenso steil war, damit sich nicht zu viel Schnee ansammeln konnte. An der Außenwand Richtung Haus stand ein Stapel Brennholz, der zur Hälfte von einer blauen Plane bedeckt war, bereit zur Verwendung. Und an der hinteren Wand, außerhalb des Sichtfelds, befand sich der Generator. Der Elektriker hatte die kritischen Stromkreise so umverlegt, dass bei einem Stromausfall der Generator automatisch anspringen und die Arbeit übernehmen würde.
Die Kinder schnallten sich ab und hüpften mit ausgestreckten Zungen aus dem Wagen, um Schneeflocken zu fangen.
»Ich wünschte, wir hätten ein paar Fenster offen lassen können«, sagte Orla. Das Streichen der Schlafzimmer war die letzte Renovierungsmaßnahme gewesen, bevor die Möbel aus dem Lager geliefert wurden, und sie machte sich Sorgen wegen der Farbdämpfe. Sie machte sich auch über andere Dinge Sorgen, die nebulöser und schwieriger zu formulieren waren.
Shaw holte Gepäck und Lebensmittel aus dem Kofferraum des Geländewagens. »Es sollte in Ordnung sein, ist ja schon ein paar Tage her.«
Eleanor Queen und Tycho drehten sich im Kreis und genossen den Schnee. In einem kurzen Moment der Erinnerung sah Orla sich selbst und ihren Bruder Otto. Er tauchte nur in seltenen Momenten auf, ein Geisterbild aus ihrer Vergangenheit, ein flimmernder Film, der sich rasch wieder auflöste, wenn sie ihre Kinder zusammen spielen sah. »Seid ihr bereit, eure fertigen Zimmer anzusehen? Wir können all eure Sachen auspacken.«
Tycho, der nicht in der Lage war, sich zurückzuhalten, rannte mit fuchtelnden Armen auf die Veranda zu. Das Geländer der Veranda war in der Mitte leicht eingeknickt, wo sich der Boden unter ihm ungleichmäßig gesetzt hatte. Mit Taschen unter jedem Arm öffnete Shaw die Haustür, während sein Sohn ihm dicht auf den Fersen war; beide plapperten in eifrigem Einklang. Das Haus verschluckte ihre Geräusche, als sie eintraten.
Von ihrem Spielkameraden allein gelassen, verweilte Eleanor Queen im Hof. Sie blickte in den Himmel hinauf. In den Wald. Ihre dunklen Augen blickten aufmerksam und wachsam.
»Eleanor Queen?«
Immer noch musterte das kleine Mädchen seine Umgebung, und zwar mit mehr Vorsicht als bei früheren Besuchen im Haus. Orla fröstelte es, als sie sie beobachtete. Worauf konzentrierte sie sich mit so großer Aufmerksamkeit? Das Mädchen blinzelte und legte den Kopf schief wie jemand, der versucht, einem entfernten Geräusch einen Sinn zu geben. Etwas zu verstehen, das Orla nicht hören oder sehen konnte.
»Liebes? Was ist los mit dir?«
»Was für ein Baum war das noch mal, hat Papa gesagt?« Ihre behandschuhte Hand deutete auf den Riesen, der sich 50 Meter hinter ihrem Haus erhob. Seine riesigen Äste blickten stirnrunzelnd auf die Zwergenbäume, die ihn umgaben. Vielleicht lag es an dem schieferfarbenen Himmel oder an den anderen Bäumen, die ohne ihre Blätter umherstanden, aber die große Kiefer sah noch älter aus als im Frühjahr, wie ein alter Mensch, dem die Farbe ausgegangen war.
Orla versuchte sich zu erinnern, was der Immobilienmakler gesagt hatte, als er ihnen das Grundstück zeigte. Er hatte damit angegeben, dass der Baum über 500 Jahre alt sei, daran erinnerte sie sich. »Eine Weymouth-Kiefer, glaube ich. Wir werden Papa noch einmal fragen. Sie ist so groß, weil sie 500 Jahre alt ist.«
Eleanor Queen starrte den Baum weiterhin mit einer Intensität an, die Orla beunruhigte. Sie sah im Gesicht ihrer Tochter weder Bewunderung für den alten Baum noch Neugierde. Sondern etwas viel Beunruhigenderes.
Beklemmung.
»Komm, wir holen deine Schneehose und deine Ausrüstung, wenn du draußen spielen willst.« Orla glaubte nicht wirklich, dass ihre Tochter das in diesem Moment wollte, aber es war das, was sie sich für sie erhofft hatte, als sie über den Norden gesprochen hatten, dass sie die Ruhe, das langsame Tempo der Wildnis mögen würde. Eleanor Queen würde sich keine Sorgen machen müssen, von einem Taxi überfahren oder in einer überfüllten U-Bahn gegen eine Haltestange gequetscht zu werden. Vielleicht war sie einfach nicht daran gewöhnt, wie still es war, wie anders. Wie der Wind an einem stillen Ort alles zum Sprechen brachte.
Eleanor Queen drehte sich abrupt um und stürmte auf das Haus zu.
Orla wollte nicht glauben, dass es Angst war, die sie auf dem Gesicht ihrer Tochter sah. Aber sie zögerte im Hof, als Eleanor Queen eilig ins Haus krabbelte. Was hatte sie erschreckt? War da draußen etwas? Sie suchte mit den Augen das Gelände hinter ihrem Grundstück ab. In der Luft lag der wohlige Duft von Holzrauch – hatte Shaw den Ofen bereits angezündet? Oder war das eine Rauchwolke, die über den Bäumen aufstieg? Unmöglich, hinter ihnen waren keine Häuser zu sehen, nicht einmal in der Ferne.
Eine Bewegung zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, und sie konzentrierte sich rechtzeitig auf die riesige Kiefer, um zu sehen, wie eine Schneekaskade von ihren zerklüfteten Ästen fiel. Der Wind hatte sich gelegt, und sie glaubte nicht, dass er die Ursache für den Schneefall war. Konnte ein Baum zittern? Die Kälte und Nässe abschütteln wie ein Hund? Sie hörte ein Geräusch, das sie nicht identifizieren konnte … ein leises Stapfen . Wieder und wieder.
Ihr stand der Mund offen. Etwas bewegte sich auf sie zu, etwas Leises, aber Riesiges. Ihr Bauchgefühl sagte: Lauf! Die Nerven in ihrer Wirbelsäule zuckten warnend, aber sie konnte sich nicht abwenden.
Einer nach dem anderen schüttelten die Bäume ihren Schnee ab. Das war das Geräusch: zentimeterhoher Schnee auf Hunderten von Ästen, der in einem Schwall auf den weiß gepolsterten Boden fiel. Aber es waren nicht alle Bäume; das war es, was nicht stimmte, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ und sie offenen Mundes starren ließ. Es war ein Pfad aus Bäumen, der mit dem Goliath begann und sich vorwärtsbewegte. Orla wollte Kettenreaktion denken, aber ihr Verstand verwarf diese Logik ungehalten.
Es kam näher.
Als der Schnee vom letzten Baum am Rand der hinteren Lichtung herabfiel, fegte ein starker Windstoß auf sie zu. Endlich erwachte Orla wieder zum Leben und stürzte auf die Veranda zu. Sie stolperte hinein und schloss die Tür hinter sich ab.
Als sie sich mit dem Rücken gegen die Tür drückte, verwirrt über ihr knappes Entkommen, traf ihr Blick auf den ihrer Tochter, und ihr gefror erneut das Blut in den Adern. Eine Schneewolke prallte mit Wucht gegen die Fenster. Und dann war alles wieder still. Aber Eleanor Queen kauerte mit großen Augen in der Ecke hinter dem kalten Ofen. Oben machten Shaw und Tycho weiter, als wäre alles normal, plauderten und ließen die Dielen knarren, während sie Sachen umräumten.
Orla hatte es nicht noch schlimmer machen wollen, aber ihre Tochter sah verängstigt aus. Was war überhaupt passiert? Sie war noch nie nach einem Schneesturm in einem Wald gewesen. Jetzt kam sie sich dumm vor, eine lahme Barrikade zwischen Mutter Natur und gesundem Menschenverstand. Sie trat von der Tür weg und zuckte abwiegelnd die Achseln.
»Das war nur der Wind nach dem Sturm«, sagte sie. »So wie es bei Erdbeben Nachbeben gibt.«
»Du hast ihn nicht reingelassen.«
»Natürlich nicht.« Aber bevor sie noch etwas sagen konnte, kam Eleanor Queen hinter dem gedrungenen schwarzen Ofen hervor, rannte die Treppe hinauf und rief nach ihrem Papa.
Orla war kurz davor, dasselbe zu tun, hinaufzustürmen und nach Shaw zu rufen. Um eine Umarmung zu bitten. Sie hörte ihn, wie er den Schreck ihrer Tochter mit sanften Worten vertrieb.
»Ist okay, Ele-Queen«, ahmte Tycho seinen Vater nach.
Das brachte sie zum Lächeln. Überreagieren würde nichts bringen. Orla lauschte an der Haustür; es war still. Sie zog sie einen Spalt auf und spähte hinaus.
Nichts bewegte sich. Kristalle glitzerten im Schnee. Das sah schön aus, aber sie traute dem Ganzen nicht richtig. Mauern fühlten sich zuverlässiger und vertrauter an. In ihrer Vorstellung war ihr Zuhause der Ort innerhalb der Mauern, nicht das, was dahinter lag. Sie ließ die Tür weit offen, um einen schnellen Rückzug zu ermöglichen, und kehrte zum Auto zurück, um den Rest ihrer Sachen zu holen.