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Nach den Maßstäben der meisten Leute wäre es ein beschissenes Badezimmer, nichts, wovon man bei House Hunters schwärmen würde, aber alteingesessene New Yorker hatten ein anderes Verständnis von Platz . Sie hatten Freunde, die sich in eine winzige Eckdusche quetschen mussten, die kaum groß genug für einen Erwachsenen war und neben einer Toilette stand, bei der man sich im Sitzen nach vorn lehnen und die Hände im Waschbecken waschen konnte. Jetzt hatten sie Platz – ein kostbares Gut –, auch wenn der schwarz-weiße Vinylboden eines Tages rausgerissen werden müsste. Aber für den Moment war er brauchbar. Das weiße Sockelwaschbecken war charmant altmodisch, und der Thron, wie Shaw ihn zu nennen pflegte, stand vor dem Milchglasfenster. Orla hatte bereits ein kleines Bücherregal unter das Fenster gestellt und es mit ihren gefalteten Handtüchern und zusätzlichem Toilettenpapier gefüllt, aber vielleicht sollte sie wirklich noch ein oder zwei Bücher hinzufügen. Vielleicht würde der gemächliche Rhythmus ihres neuen Lebens mehr Zeit allein im therapeutischen Komfort des Bades mit sich bringen.

Sie schlüpfte aus ihrer Jogginghose und dem Thermoshirt, kehrte sie mit spitzen Zehen zu einem Stapel zusammen und stieg in die Badewanne mit Klauenfüßen. Diese war tiefer als ihre alte Wanne, und sie atmete den Dampf ein, der vom heißen Wasser aufstieg. Die Waden auf den gegenüberliegenden Rand gestützt betrachtete sie ihre Knie und ihre Füße. Sie spreizten sich in entgegengesetzte Richtungen, ein Zeichen für ihre mühelose Beweglichkeit. An den Zehenspitzen befanden sich harte Höcker von jahrzehntelangem Spitzentanz. Ihr schwarzes Haar fiel über den Rand des weißen Porzellans, und sie spürte die warme Luft, die aus dem Lüftungsschacht aufstieg und es durcheinanderbrachte. Der Heizkessel im Keller verrichtete seine Arbeit und schickte Wärme durch seine Adern im Haus.

Das war genau das, was sie brauchte. Nach fast drei Monaten des Aufruhrs, der Dekonstruktion des Status quo, konnte sie sich endlich entspannen. Ihre Glieder schmolzen im Wasser dahin, doch ihre Gedanken waren nicht so leicht zu beruhigen.

Ihr Körper, wenn er sich bewegte, streckte, drehte, sprang, war ein Wunder, das sie dankbar machte. Eine Maschine aus Muskeln und Fleisch. Aber im Liegen, nackt und unbeweglich, sah sie nur Knochen und die flachen Winkel ihres Bauches. Sie sah eher aus wie eine Stabheuschrecke als wie eine Frau.

Ihre Freunde bezeichneten sie als exotisch, aber Orla hatte nie verstanden, warum ihre Fremdartigkeit auf die Menschen so anziehend wirkte. Sie erweckte den Eindruck, ihren Mann zu überragen, obwohl sie in Wirklichkeit nur zwei Zentimeter größer war als Shaw. Aber alles an ihr war lang, übertrieben. Sogar ihre Gesichtszüge. Ein paar ihrer weniger politisch korrekten Freunde machten sich gern einen Spaß daraus, neue Bekannte zu bitten, ihre ethnische Herkunft zu erraten. Die sagten dann: griechisch, persisch, italienisch, israelisch, peruanisch, syrisch. Wenn sie aufgaben, sagte sie ihnen, sie sei einfach eine weitere Generikanerin – eine ganz gewöhnliche Amerikanerin. Aber das befriedigte ihre Neugierde nicht. Also erzählte sie ihnen von ihrer venezolanisch-irischen Mutter und ihrem philippinisch-französisch-amerikanischen Vater. Dann fragten sie: »Wie viele Sprachen sprichst du?«, um dann von ihrer Antwort enttäuscht zu sein. Eine Generikanerin zu sein, die nur Englisch spricht, passte nicht in das Bild, das sich die Leute von ihr machten.

Sie trug diese Gegensätze mit sich herum, die halb bewundernswerten, halb enttäuschenden Realitäten ihres Lebens. Nicht ganz die Frau von Welt. Nicht ganz ein Star auf ihrem Gebiet. Nicht wirklich schön im traditionellen Sinne. Andere Frauen beneideten sie um ihre Schlankheit, aber Orla sehnte sich nach ein wenig Fleisch, nach etwas Weichheit in ihren Brüsten. Nie hatte sie ihren Körper mehr geliebt als in der Schwangerschaft, und als alle staunten, wie schnell sie wieder zu ihrer Figur von vor der Schwangerschaft zurückfand, vermisste Orla die Rundungen, die Göttin, die sie kurzzeitig gewesen war.

Ihren Körper hatte Shaw schon immer begehrenswert gefunden, aber das war nur ein Element ihrer Faszination; durch ihr Beispiel hatte sie ihn motiviert, seine schwierigen und manchmal schwer fassbaren kreativen Ziele weiterzuverfolgen. Er hatte es genossen, ein Hausmann zu sein, aber seit er die Ölmalerei und sein Thema gefunden hatte, hatte sich sein Fokus neu ausgerichtet. Mit 38 Jahren betrachtete er sich als im besten Alter. Er hatte genug gelebt, um auf echte Erfahrungen zurückgreifen zu können, und er hatte alles ausprobiert; endlich waren seine Talente und Interessen klar.

Sie hatte sich noch nicht an das Gefühl gewöhnt, dass er wichtige Arbeit zu erledigen hatte und die ihre beendet war. Selbst wenn sie in einer Stadt geblieben wären, wäre es ihr wohl schwergefallen herauszufinden, was sie als Nächstes tun sollte. Aber hier? Es war nie so gewesen, dass sie ihn nicht ermutigen oder einen Schritt zurücktreten wollte, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu entfalten. Aber sein Plan bedeutete, ein völlig neues Leben zu beginnen. Einige ihrer unförmigen Bedenken waren egoistisch gewesen: Was würde sie da draußen in der Wildnis tun?

Unter dem Badewasser machten ihre Hände Fäuste um unsichtbare Steine und rieben, rieben. Sie hatte sich in den vergangenen Wochen oft dabei ertappt, wie sie diesen unsichtbaren Steinen zusetzte. Jeden Tag, den sie bei Walker und Julie verbracht hatte, war der Gedanke aufs Neue aufgetaucht: Wir gehören nicht hierher. Shaw mochte einmal Mr. Frischluftfanatiker gewesen sein, aber seit fast zwei Jahrzehnten brauchte er den neuesten Kaffeetrend und eine Auswahl an vietnamesischen Restaurants zum Überleben. Er mochte Galerieeröffnungen und das IFC Center. Er experimentierte mit seiner Gesichtsbehaarung und trug spektakulär souverän auch die schrillsten Farben. Vor langer Zeit hatte er Plattsburgh verlassen, weil er schlichtweg zu schräg für seine Flanell und Jeans tragende Familie gewesen war. Walker, inzwischen erwachsen, machte sich nicht mehr über ihn lustig und begrüßte seine Rückkehr in den Norden. Aber angesichts dieser Isolation begriff Orla, dass diese neue Lebensweise nichts war, bei dem man einfach so mitspielen konnte. Shaw hatte Walkers Geschenk von zwei Gewehren ihres Vaters angenommen – ein Jagdgewehr mit Zielfernrohr und eine doppelläufige Schrotflinte – und plante zu jagen. Er schwor, dass er sich noch daran erinnerte, wie man ein Reh ausnahm, etwas, das er seine ganze Kindheit lang gemacht hatte, aber Orla kannte ihn nur als einen Mann, dessen Hände von Malfarbe gerötet waren, nicht von Blut.

Es würde Konsequenzen haben, wenn das Essen knapp würde: kein Gang zum Supermarkt an der Ecke, keine Bestellung bei einem beliebigen Restaurant, ganz gleich wonach ihnen der Sinn stand. Und was, wenn sich eines der Kinder ernsthaft verletzen würde? Wie lange müssten sie warten oder fahren, um Hilfe zu bekommen? Sie hatten sich gut vorbereitet, aber das konnte die Angst nicht lindern.

Es fühlte sich nicht richtig an.

Es fühlte sich nicht richtig an, und sie konnte Shaw diese Vorahnung (diese weibliche Intuition?) nicht erklären. Er würde sagen, dass sie es einfach nicht gewohnt war. Und er hätte recht damit. Er würde sie an ihre Anfangszeit in New York City erinnern, als Teenager, der Kurse besuchte, zum Vortanzen ging und Tag für Tag überfordert war. Aber sie hatte ihren Platz gefunden, ihr Zuhause gefunden. Das war es, was er nun hier von ihr erwartete, und sie wollte ihn nicht enttäuschen, also behielt sie die unaussprechlichen Befürchtungen für sich.

Sie richtete sich mit einem Ruck auf und ließ das abgekühlte Badewasser an ihrem Körper hinunterlaufen. Sie hatte sich an Shaw und ihre Familie gebunden, sich ihnen verpflichtet. Ihre Kinder brauchten ihre Stärke, ihre Flexibilität, und sie musste die hohe Kunst der Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellen. Mit mehr Entschlossenheit, als sie den ganzen Tag über empfunden hatte, schnappte sich Orla ein Handtuch und trocknete sich schnell ab.

Ihr Schlafanzug war bequem und warm. Die Hose ließ ihre Knöchel frei, aber die Ärmel hingen ihr über die Hände, weil sie den Stoff ständig lang zog und damit die Fäuste ballte. Das Design auf der Vorderseite erinnerte an das 35-jährige Bestehen des Empire City Contemporary Ballet; die Buchstaben waren bröckelig und verblasst, abgenutzt durch Alter und häufiges Waschen. Als sie aus dem Schlafzimmer kam, schloss Shaw gerade leise die Tür von Eleanor Queen, nachdem er ihr Gute Nacht gesagt hatte.

»Ich bin in meinem Studio«, flüsterte er und warf Orla einen Luftkuss zu. »Geräumig!« Er breitete freudig seine Arme au s, und das Wort hallte im Treppenschacht wider, als er hinunterging.

Sie ging zu Tychos Zimmer, das rechts von ihrem und Shaws Zimmer lag und am weitesten von der Treppe entfernt war. Es roch noch nach Mottenkugeln aus seinem letzten Leben als begehbarer Kleiderschrank, aber das Etagenbett passte gerade so hinein, sodass daneben noch ein Meter Platz zum Gehen war und genug Platz, um die Tür zu öffnen. Orla trat vorsichtig ein, und tatsächlich lag er zusammengekauert auf dem unteren Bett und schlief tief und fest, seinen Plüsch-Elch dennoch sicher in der Hand.

Sie blieb einen Moment lang am Fenster stehen und blickte hinaus zur Garage und ins Dunkel dahinter, betrachtete den unheimlichen Schein des von Wolken verhüllten Mondes und die langsam herabfallenden dicken Schneeflocken. Obwohl Shaw und der Immobilienmakler ihr gesagt hatten, in welche Himmelsrichtung das Haus ausgerichtet war, konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Ihre alten Gewohnheiten saßen eben tief: Norden bedeutete für sie Harlem, die Bronx; Süden bedeutete Tribeca, Battery Park. Vielleicht würde sich die Sonne am Morgen in Tychos Zimmer stehlen und mit ihren geschmolzenen Fingern seine Augen gewaltsam öffnen. Vielleicht würde es ihn auch gar nicht stören; er besaß die Gabe kleiner Kinder, in seltsamen Positionen und unter jeglichen Umständen tief zu schlafen. Trotzdem mussten sie Jalousien oder Vorhänge für alle Fenster besorgen. Sie hatte vor, am Montagnachmittag, wenn Satelliteninternet und -telefon installiert waren, eine Menge Online-Einkäufe zu machen. Es würde eine Erleichterung sein, wieder mit der Zivilisation verbunden zu sein, mit ständigem Zugang zur Außenwelt und Streaming-Unterhaltung.

Das Internettelefon war eigentlich nur ein Back-up, eine weitere Sicherheitsvorkehrung, denn der Satellit dürfte eine zuverlässigere Verbindung bieten als der lückenhafte Empfang, den sie mit ihren Handys hatten. Sobald sie wieder online waren, konnte Eleanor Queen wieder zur »Schule« gehen – in diesem Schuljahr wurde sie mit Online-Unterstützung zu Hause unterrichtet, während sie ihre Möglichkeiten in Saranac Lake Village ausloteten. Ein Schulwechsel wäre schon schwer genug für sie, ohne dass sie mitten im Jahr irgendwo einsteigen müsste. Sie hatten beschlossen, ihre sensible Tochter so sanft wie möglich an die Veränderungen heranzuführen.

Orla unterdrückte ein Lachen, als sie sich umdrehte und sah, dass ihr Sohn beim Auspacken »geholfen« hatte, indem er jedes einzelne seiner Stofftiere und sonstigen Spielsachen auf das obere Bett geworfen hatte, in dem seine Schwester bisher geschlafen hatte. In den nächsten Tagen würde sie seine bunten Milchkisten herauskramen und ihm helfen, Ordnung zu schaffen. Oder … Immerhin lagen seine Spielsachen jetzt nicht auf dem Boden, und es gab sowieso kaum Platz, um seine Kleidung zu verstauen. Wenn es Tycho so gefiel, würde sie ihm vielleicht erlauben, den Haufen auf dem oberen Bett so zu lassen, wie er war. Sie kniete sich neben ihn, küsste ihn auf die Wange und zog ihm die gestreifte Bettdecke über den Arm, damit ihm nicht kalt wurde. Das Haus war warm, aber sie würden den Thermostat für die Nacht herunterdrehen. »Gute Nacht, mein Schätzchen.«

Sie ließ seine Tür einen Spalt offen, damit das Licht im Flur ihm den Weg zum Bad weisen konnte, falls er in der Nacht aufwachte. Wahrscheinlich würde er nach einem von ihnen rufen, denn er fürchtete sich schnell, wenn er an einem unbekannten Ort aufwachte. Orla ging am Schlafzimmer – groß genug für ein französisches Bett und ihre Kommode – und am Badezimmer vorbei und klopfte leise an die Tür von Eleanor Queen, bevor sie sie öffnete.

Das Fenster im Zimmer ihrer Tochter wies auf die andere Seite des Grundstücks hinaus und gab den Blick frei auf einen schmalen Streifen Hof und eine Wand aus Bäumen. Ihr neues Bett mit der ebenso neuen geblümten Bettwäsche war in der Ecke aufgestellt. Daneben stand ein kleiner weißer Tisch, an den sie ihre Lampe mit den regenbogenfarbenen Hologrammen im rosa- und lilafarbenen Schirm geklemmt hatte. Als sie noch in der Koje über Tycho geschlafen hatte, war die Lampe ans Kopfteil geklemmt gewesen.

Eleanor Queen saß mit ihrem Kissen im Rücken da und las in einem ihrer Lieblingsbücher. Bei ihren Cousins hatte sie Bücher aus deren Regalen gelesen, Abenteuer- und Wissenschaftsbücher für etwas ältere Kinder. Orlas linke Faust hielt ihren Sorgenstein verborgen, die Muskeln spannten sich um ihre eigene innere Unruhe. Wie würde es ihnen ohne eine Bücherei in der Nachbarschaft ergehen? Eleanor Queen war eine begeisterte Leserin, aber es verhieß nichts Gutes, dass sie ihre alten Bücher immer noch dem E-Reader vorzog, den ihre Großeltern ihr zum Geburtstag geschenkt hatten. Sie, Shaw und Eleanor Queen hatten Stunden damit verbracht, das Gerät mit Büchern zu bestücken, damit ihr der Lesestoff nicht ausging, bevor sie sich hier richtig eingelebt hatten.

Orla setzte sich neben sie auf das Bett. »Du magst deinen E-Reader nicht?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Der ist für den Fall, dass mir die Bücher ausgehen. Keine Sorge …«

»Ich bin nicht besorgt.«

»Doch, das bist du.« Als Eleanor Queen die Hand ausstreckte und die Faust ihrer Mutter ergriff, wurde Orla erst klar, was sie getan hatte, und sie entspannte ihre Hand. »Es gibt nichts Schöneres, als mit einem dicken Buch auf dem Schoß im Bett zu liegen.«

Orla lachte. »Du klingst wie eine 50-jährige Bibliothekarin.« Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Ihre Tochter sah aus wie sie, dieselbe Hautfarbe, aber ihre Glieder und Gesichtszüge waren nicht so lang gezogen, nicht so übertrieben. Tycho sah mit seinem widerspenstigen Haar und dem blassen Teint aus wie Shaw. Sie sprachen in ruhigen Momenten darüber, dass jeder von ihnen ein Kind hatte, das ihn bevorzugte. Die körperlichen Ähnlichkeiten schienen bedeutsam, wie eine Mahnung, dass die Kinder auch andere Eigenschaften von ihnen geerbt haben könnten. Teil ihrer Erziehungsstrategie war es, sich daran zu erinnern, wie sie sich als Kinder gefühlt hatten, was sie sich gewünscht hatten, wie sie behandelt werden wollten.

»Viele große Veränderungen«, sagte Orla. »Fühlt es sich komisch an, wenn man nicht mehr auf eine Leiter klettern muss, um ins Bett zu kommen?«

Eleanor Queen grinste und presste ihre Lippen fest auf die vorstehenden Vorderzähne. »Ich mag die Wände.«

»Die Farbe?«

Sie nickte, als wäre es ihr peinlich, sich so zu freuen. Sie hatten alle vier Wände in einem hellen Türkis gestrichen. In dem Zimmer, das sie mit Tycho geteilt hatte, hatten sie einen Kompromiss eingehen müssen: zwei hellgrüne Wände für ihn, zwei lilafarbene Wände für sie. Aber sie mochte Lila nicht mehr so sehr.

»Gewöhnst du dich daran, nicht mehr in der Stadt zu sein?«

Eleanor Queen zuckte mit den Schultern. »Einiges davon ist schön. Aber es fühlt sich komisch an.«

»Wie denn komisch?« Komisch-schlecht? Komisch-gruselig?

»Komisch, als ob man nirgendwo hingehen könnte.«

Orla lachte. »Ja, meine Liebe, wir beide werden einige Zeit brauchen, um uns daran zu gewöhnen. Aber das werden wir. Und wir werden magische Dinge finden – die Natur ist voller Wunder, das sagt Papa auch immer. Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich freue mich darauf, erstaunliche Dinge zu entdecken.«

»Ich auch. Aber vielleicht werden sie nicht wirklich magisch sein, also keine echte Magie. Es werden echte Dinge sein. Andere Dinge als in der Stadt.«

»Ja, ich glaube, da hast du völlig recht.« Sie rieb ihre Nase an der ihrer Tochter, was Eleanor Queen zum Kichern brachte. »Mein kluges Mädchen. Ich habe dich lieb.«

»Ich habe dich auch lieb.«

»Gute Nacht.«

»Nacht.«

Orla wollte die Tür schließen, hielt dann aber inne. »Soll ich sie angelehnt lassen?«

»Nein, das ist schon okay …« Die Stimme des Mädchens schwankte vor Unsicherheit, doch Orla sah ihre Entschlossenheit, ihre Angst zu überwinden.

»Es tut mir leid, dass dein Nachtlicht nicht in der Kiste war, aber wir werden es schon noch finden. Warum lassen wir die Tür nicht einfach heute Nacht angelehnt?«

»Okay«, grinste Eleanor Queen erleichtert und steckte ihre Nase wieder in ihr Buch.

Orla warf ihr einen Luftkuss zu und ließ die Tür einen Spalt offen, als sie hinausging. Sie brauchte Eleanor Queen nicht zu sagen, wann sie das Licht ausmachen sollte; ihre Tochter würde es tun, wenn sie müde war, und Orla vertraute auf ihr Urteilsvermögen. Ihre Tochter schien trotz des fehlenden Nachtlichts zufrieden zu sein, aber Orla konnte nicht so leicht abschütteln, was sie vorhin in ihrem Gesicht gesehen hatte, bevor sie selbst vom Wind erschreckt wurde. Was lauerte in so einem Wald? Gefräßige Tiere? Entflohene Sträflinge? Sie hatten keine unmittelbaren Nachbarn, also sollte theoretisch niemand nahe genug sein, um sie zu sehen oder auszuspionieren. Aber ihr Stadt-Ich (ihr durch dumme Filme voreingenommenes Ich) glaubte, dass einige Leute, die im tiefsten Hinterland lebten, an Mutanten grenzten. Inzüchtige Kannibalen und dergleichen.

Winzige Fingernägel kitzelten ihre Wirbelsäule, während sie sich mit ihren Gedanken selbst aus der Fassung brachte; sie wünschte, sie hätte bereits Verdunkelungen für die Fenster gekauft. Was, wenn irgendetwas oder irgendjemand in diesem Moment da draußen war? Sie beobachtete, wie sie von Raum zu Raum ging.

Sie begann, die Stufen der hölzernen Wendeltreppe hinabzusteigen, blieb aber nach drei Stufen stehen und hielt auf dem dreieckigen Treppenabsatz inne. Das Fenster dort blickte auf den hinteren Teil des Grundstücks, aber der Blick nach unten war durch die sanfte Dachschräge der Küche im ersten Stock versperrt – ein Anbau, der in den 1960er-Jahren hinzugefügt worden war. Der Schneefall hatte vorerst aufgehört, und der wolkenfreie Mond beleuchtete den weißen Boden und hob die Krallen der Bäume hervor, deren Äste sich im leisen Wind wiegten. Und der Riese war da draußen – die einsame Weymouth-Kiefer (Shaw hatte es bestätigt) –, mit einer fast bizarren Größe. Was, wenn er so groß geworden war, weil er kleinere Bäume verschlungen hatte? Hatte sie nicht einmal Tycho eine solche Geschichte vorgelesen? Was, wenn er im Schutz der Dunkelheit seine Gestalt veränderte und nachts auf Zehenspitzen über das Land schlich, um Kaninchen und Mäuse unter seinen Füßen zu zermalmen?

Eine Eule rief und ihr Körper reagierte unwillkürlich, die Muskeln spannten sich an und sie stellte voller Bitterkeit fest, dass sie diese Kreaturen nicht verstand. Hupende Autos machten einen Sinn. Nachbarn, die auf Chinesisch schrien, machten Sinn. Sie hätte nie gedacht, dass sie solche alltäglichen, einst lästigen Geräusche vermissen würde.

Sie war überrascht gewesen, als Shaw die Waffen von Walker so bereitwillig annahm. Aber nach einem kurzen Streit, geflüstert in Julies aufgeräumter Abstellkammer, hatten sie sich darauf geeinigt, dass Shaw einen Waffenschrank kaufen würde. Der Gedanke, dass die Kinder Zugang zu solch tödlichen Waffen haben könnten, war erschreckend. Aber vielleicht hatte er im Gegensatz zu ihr eines verstanden: die Notwendigkeit dieser Waffen.

Als sie den Rest der Treppe hinuntereilte, rief sie ihm zu: »Schatz? Weißt du, wo die Gewehre sind?«