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Orla blickte sich auf dem Weg zu Shaws Atelier im Wohnzimmer um, dessen Wände erst kürzlich grau gestrichen worden waren, mit weißen Zierleisten. Sie hatten gedacht, die Farbe würde den Geruch von Holzrauch überdecken oder absorbieren. Sie hatten den Holzofen noch nicht benutzt; er war plump und glich einem trägen Tier, sein Revier war eine Ecke des Zimmers auf einem Bett aus Ziegeln. Aber die jahrzehntelange Nutzung des Ofens war in den Holzböden und an den Decken zu spüren. Das Schlafsofa und der hässliche, aber bequeme karierte Sessel, die Beistelltische, Lampen und das Bücherregal standen bereits an ihrem Platz, ebenso wie der derzeit leblose Smart-TV. Aber ein großer Teil der noch ungeöffneten Kisten stapelte sich hier an der Wand, gefüllt mit Büchern, gerahmten Bildern, Nippes, zufälligen Kleidungsstücken und dem größten Teil des Küchenzubehörs. Ihre Augen begutachteten alles und suchten unter den Kisten eine, die lang genug war, um die Waffen zu enthalten.

Shaws Tür stand weit offen, und sie fand ihn am Fenster, das nach vorn hinausblickte. Er blickte von dort nach draußen. Eleanor Queen mochte zwar körperlich ihrer Mutter ähneln, doch in anderer Hinsicht – in ihrer Sensitivität – war sie ganz und gar die Tochter ihres Vaters. Shaws Gesichtsausdruck glich dem von Eleanor Queen am Nachmittag, als sie versucht hatte, ihre neue Umgebung zu lesen, zu entschlüsseln.

»Hast du mich gehört?«, fragte sie leise, als befürchtete sie, ihn aus seiner Trance zu reißen.

»Ja, nein …« Er blinzelte und wandte sich zu ihr um.

»Die Gewehre.« Orla war sich nicht sicher, ob sie paranoid war. Aber ein praktisch veranlagter Teil von ihr wusste, dass die Suche einen triftigen Grund hatte. »Wir haben den Waffenschrank ja noch nicht.«

»Nein, nein, keine Sorge. Sie sind hier drin.« Shaw nickte in Richtung des Wandschranks im Atelier und nahm ihre Hand. »Ich dachte, dass die Kinder sowieso nicht hier drin sein werden, also liegen sie erst einmal oben im Regal. In ein paar Tagen kann ich einen in Plattsburgh besorgen oder nächste Woche einen bestellen.«

Orla nickte, nicht gerade erleichtert. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass eines ihrer Kinder einen Trittschemel herbeischleppte, um bei den persönlichen Dingen seines Vaters nach einer Waffe zu suchen. Aber wie viele Familien hatten schon ähnliche Gedanken gehabt und waren dann eines Besseren belehrt worden? Ein anderer Teil von ihr wollte die Waffen gar nicht verstecken, sondern an Haken über der Eingangstür aufhängen. War das nicht in Western so üblich? Damit der Held sich eine schnappen konnte, wenn die Bösewichte angeritten kamen?

»Hey, was ist los?« Shaw legte eine Hand auf eine ihrer Wangen und küsste die andere, sein Körper presste sich wie ein Schatten an ihren.

»Ich fühle mich nicht … gänzlich sicher«, gab sie zu.

»Was denkst du, was passieren könnte?« Er stellte die Frage mit sanfter Besorgnis.

Sie zuckte die Achseln. »Bären?«

Sie traten zurück, legten die Arme um die Taille des jeweils anderen und blieben vor seinem Atelier stehen. Orlas Blick wanderte umher und nahm den Fortschritt seiner Auspackerei wahr. Vielleicht lag es an dem zusätzlichen Platz, aber die neue Wohnung hatte bereits einen positiven Effekt auf ihn: Alles war so ordentlich und gut aufgeräumt. Seine Gitarren, eine akustische und eine elektrische Hohlkörpergitarre, die in ihrer alten Wohnung zu einem weggeräumten Leben verurteilt gewesen waren, präsentierten sich jetzt in einer Ecke neben seinem kleinen Verstärker. Er hatte seine Staffelei neben das Fenster an der Vorderseite gestellt, und eine leere Leinwand stand bereit. Seine Gemälde lehnten hinter der Tür, die Farbseite zur Wand gedreht. Am kleineren Fenster stand sein zierlicher, ehemals unordentlicher Schreibtisch, auf dem sein Laptop und eine halb leere Kiste mit Malsachen standen. Auf dem Boden standen, noch mit Klebeband gesichert, eine Schachtel mit der Aufschrift »Fotos usw« und zwei Schnapskartons, die, wie sie wusste, seine CDs enthielten.

In ihrer alten Wohnung waren seine Sachen in jede verfügbare Nische des Wohnzimmers gestopft gewesen, das schließlich der Raum war, in dem sie lebten: essen, fernsehen, lesen, Kunst erschaffen, spielen, schlafen. Hier mussten seine Sachen nicht ganz oben auf Bücherregalen liegen oder in einer Ecke wie ein Jenga-Spiel gestapelt werden. Orla schnappte nach Luft, als sie zum ersten Mal etwas begriff, weil sie es sah: Kein Wunder, dass es ihm schwergefallen war, bei einer Sache zu bleiben; ihr Zuhause war das Gegenteil von inspirierend gewesen. Es war ein Chaos gewesen.

»Es ist toll«, sagte sie. Ein klein wenig neidisch wollte sie eine tragbare Ballettstange auf ihre Online-Einkaufsliste setzen.

Vielleicht könnten sie diese im Wohnzimmer aufstellen, dann hätte sie einen Ort, an dem sie Pliés, Ronds de Jambe und Développés machen könnte. Während er sein Handwerk verbesserte, wollte sie nicht auf ihren geübt-geschmeidigen Körper verzichten. »Ich sehe es vor mir. Das Licht wird tagsüber großartig sein … Das ist der Raum, der Platz, den du gebraucht hast.«

»Das stimmt.« Er grinste, aber dann wurde er wieder ernst, als er sie ansah. »Machst du dir wirklich Sorgen wegen Bären?«

»Vielleicht, ja. Ich habe die Liste gesehen. Am Kühlschrank von Julie und Walker. Alle Tiere und ihre Jagdsaison. Bären. Rotluchse. Kojoten.«

»Nun, ich habe meinen Jagdschein, ich kann sie erschießen, wenn sie zu nahe kommen. Und es gibt auch viele harmlose Tiere. Rehe. Gänse. Frösche .« Er drückte sie ein wenig stärker an sich. Ein Grinsen. Ein weiteres Küsschen auf die Wange. Aber seine Bemühungen, ihr die Sorgen zu nehmen, blieben erfolglos. Orlas Blick blieb auf die Fensterfront gerichtet, auf die dunklen Geheimnisse, die hinter der dünnen Membran lauerten. Was hatte er da draußen gespürt? Dasselbe, was ihre Tochter gespürt hatte? »Du bist wirklich besorgt«, stellte er fest.

Er trat in ihr Blickfeld, und sie kehrte in die Gegenwart zurück, in den Raum.

»Ich weiß nicht … Das ist mir alles so fremd. Werde ich vor die Tür gehen und einen Bären im Hof vorfinden? Werden Leute auf unserem Grundstück jagen? Ist es für die Kinder sicher, draußen zu spielen?«

»Halt, halt, Moment. Dies ist der Ort, an dem es sicher ist. Hier wird niemand überfallen. Fußgänger werden nicht von Arschloch-Rasern überfahren. Baukräne fallen nicht um und erdrücken Menschen; Gebäude stürzen nicht ein. Und es wimmelt nicht überall von bewaffneten Wachen, die zum Heimatschutz gehören. Ich weiß, dass du das hier nicht gewohnt bist, aber es ist nicht das, was an der Welt so beängstigend ist. Verstehst du?« Er meinte es liebevoll aufrichtig.

»Ich weiß. Ich meine, ein Teil von mir weiß es.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.

Er wiegte sich mit ihr hin und her; die beiden bewegten sich von einem Fuß auf den anderen, wie sie es oft taten, wenn sie sich umarmten.

»Es ist eine große Veränderung«, sagte er und seine Lippen kribbelten an ihrem Ohr. »Aber ich hätte das nicht vorgeschlagen, wenn ich denken würde, dass ihr, du und die Kinder, euch hier nicht wohlfühlen würdet. Bean könnte ein wenig aus sich herausgehen. Und Tycho – ich habe es geliebt, dies als meinen Garten zu haben, als ich aufgewachsen bin. Und du.« Er rückte ein Stück von ihr ab, um ihr in die Augen zu sehen. »Es war nicht nur ein egoistischer Vorschlag von mir …«

»Das dachte ich auch nicht.«

»Nicht einmal ein klitzekleines …«

»Okay, na ja, es gab Momente, aber nicht auf schlechte Art und Weise, wirklich …«

»Ich weiß.« Sein Lächeln erinnerte sie daran, dass er manchmal ihre Gedanken lesen konnte. »Ich hatte gehofft … Ich dachte, es könnte schwer für dich werden, in der Stadt zu bleiben, in der es immer um das Ballett ging – der Grund, warum du hingingst, warum du geblieben bist. Ich dachte, es könnte schwieriger sein, im Ruhestand immer noch dort zu sein. Alles würde dich daran erinnern. Ich wollte nicht, dass du … einen Verlust empfindest. Dies ist ein völlig neues Kapitel. Du kannst jemand Neues sein; niemand wird dich jedes Mal, wenn er dich sieht, fragen, ob du es vermisst.«

Sie umarmte ihn fest. Er hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, sie in Erstaunen zu versetzen. »Ich danke dir. Ich schätze, bei all den Vorbereitungen habe ich mir noch nicht so recht überlegt, was ich tun soll. Als Nächstes.« Sie lehnte sich ein wenig zurück, strich ihm über sein mit Farbe gesprenkeltes Haar. »Ich meine, klar, mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Eleanor Queen dieses Jahr mit der Schule und dem Lernen helfen. Wenn du groß rauskommst, kann ich vielleicht deine persönliche Assistentin werden.«

»Das gefällt mir!« Seine fummeligen Hände klopften im Rhythmus auf ihre Hüften, während er eine improvisierte Arie brüllte: »Meine Leinwände spannen und meine Pinsel holen wirst du mir …«

»Ich dachte eher an die Planung deiner Interviews und die Beantwortung deiner Fanpost.«

»Das ist doch mal ein Vorschlag.« Er gab ihr einen laut schmatzenden Kuss auf die Lippen.

Orla ließ ihn los und sah zu, wie er zu seinem Schreibtisch ging und weitere Farbtuben aus der Schachtel holte, scheinbar völlig frei vom Gewicht ihrer Sorgen.

»Aber nur für alle Fälle«, sagte sie und spielte herunter, wie wichtig es ihr war, »könntest du mir das Schießen beibringen?«

Am nächsten Morgen stand Orla früh auf, weil sie die Unordnung im Erdgeschoss störte, und stapelte Gläser und Tassen in einen oberen Küchenschrank, wobei sie die Herausforderung genoss, wenig oder gar keinen Lärm zu machen. Sie lächelte, als sie ihre Lieblingstasse einräumte. Eleanor Queen hatte sie als Sechsjährige als Muttertagsgeschenk mit schief geratenen Herzen bemalt. Sie war etwas ganz Besonderes, wegen der Erinnerungen, die sie weckte: Shaw, der heimliche Ausflüge in den Laden mit den Töpferwaren zum Selbstbemalen arrangierte, in der Zeit, als er den kleinen Tycho in einer Kängurutasche überallhin mitnahm. Einige ihrer »Erinnerungen« waren Dinge, die Shaw ihr beschrieben hatte: Momente, die sie verpasst hatte, als die Kinder noch klein waren. Jetzt würde sie diese Momente nicht mehr verpassen.

Die Küche war zwar voll funktionsfähig und hatte eine große Arbeitsfläche, aber es gab keine Geräte, die jünger als 30 Jahre alt waren. Immerhin war der Linoleumboden vor Kurzem durch Fliesen ersetzt worden, und die rustikalen Schränke waren aus Walnussholz mit antiken Türgriffen, die ihr gut gefielen. Der Immobilienmakler hatte ihr erzählt, dass die ursprüngliche Küche nur halb so groß gewesen war und eine viel niedrigere Decke hatte, als ob die Tatsache, dass sie vor 50 Jahren schlechter gewesen war, ein Verkaufsargument für den heutigen Zustand wäre. Wenn sie erst einmal einen richtigen Tisch und passende Stühle hatten, würde es ein gemütlicher Ort sein, an dem sie ihre Mahlzeiten zubereiten und essen konnten. Aber zuerst brauchten sie etwas, um den Luftzug zu stoppen, der durch die Hintertür eindrang. Die kalte Luft wirbelte um ihre Knöchel und gab ihr das Gefühl, dass etwas Schelmisches grinste, während es sie kitzelte.

Oben öffnete sich quietschend eine Tür, gefolgt von einem schrillen Schrei. »Papa! Mama! Wir haben drei Meter Schnee!«

Orla gluckste. Eine weitere Tür quietschte in den Angeln – wahrscheinlich erwartete Tycho, sie im Bett neben Shaw zu finden. Sie stellte sich Shaw mit dem Kissen über dem Ohr vor, seine bevorzugte Schlafposition.

»Drei Meter, Papa! Drei Meter!«

Sie hörte eine rumpelnde, tiefe Stimme, konnte aber Shaws Antwort nicht verstehen. Einen Moment später kam Tycho die Treppe heruntergaloppiert. »Mama!«

»Hier drin, Schätzchen.«

Er rannte in die Küche. »Wir haben drei Meter Schnee!«

Orla hob ihren kleinen Jungen auf den Arm. Sie trug ihn auf der Hüfte und blickte aus dem Wohnzimmerfenster, wo sie sich ein besseres Bild von der Schneemenge machen konnte. Der Schnee bedeckte die ersten beiden der vier Stufen, die zur Veranda heraufführten.

»Ich denke, vielleicht … 25 Zentimeter? 30? Vielleicht ein bisschen tiefer, wo der Wind ihn verweht hat?«, schätzte sie.

Shaw stolperte mit schläfrig-schweren Schritten die Treppe herunter und zog sich seinen zerlumpten Schottenkaro-Bademantel über. »Bitte sag mir, dass wir keine drei Meter abbekommen haben – das war nicht vorhergesagt.«

»Eher 30 Zentimeter«, versicherte Orla ihm.

Eleanor Queen kam als Nächste herunter, flink wie ein Kobold. Sie sprang auf den Zehenspitzen zum Fenster und stützte ihre Fingerspitzen auf das Glas.

»Wow«, flüsterte sie.

»Schön, nicht wahr?«, fragte Shaw und entwirrte die Schlafnester im Haar seiner Tochter.

Die Unheilswolken des Vortages hatten sich von ihrer schweren Last befreit und waren verschwunden. Orla konnte es sich nicht erklären, aber das Haus fühlte sich im Sonnenschein und bei blauem Himmel standfester an. Der Schnee wirkte jetzt, da er nicht mehr durch die Luft peitschte, weniger bedrohlich. Sie hatte den Eindruck, dass der Ort sie willkommen hieß, seine weiße Wunderdecke ausbreitete und sie mit seinem Charme einhüllte.

»Was haltet ihr davon, wenn ich uns ein schönes, herzhaftes Frühstück mache«, schlug sie vor, »und dann gehen wir in den Schnee spielen!«

Die beiden Kinder jubelten. Shaw grinste und zeigte dabei alle Zähne.

Die Kinder hatten natürlich auch schon früher im Schnee gespielt, in den zertrampelten Gemeinschaftsflächen der städtischen Parks. Aber nie in ihrem eigenen Garten. Sie waren noch nie in der Lage gewesen, etwas zu bauen, das unbehelligt blieb, bis sie wieder zum Spielen gingen.

»Wir können einen Schneemann bauen«, sagte Tycho.

»Eine Schneefrau «, widersprach Eleanor Queen.

»Einen Schneedrachen! «, brüllte Shaw dazwischen. Tycho hüpfte von Orlas Armen hinunter, damit er sich zu seiner Schwester gesellen konnte, während ihr Vater sie fauchend durch den Raum jagte.

Orla spürte wieder dieses Aufflackern eines Moments aus der Vergangenheit. Das Elternhaus. Ihr Vater brachte ihren kleinen Bruder zum Lachen. Auch wenn keiner von ihnen jemals den zarten Otto umherjagte, damit er nicht stolperte und zerbrach.