6

Lange Unterwäsche. Pullover. Dünne Socken unter dicken Socken. Tycho hüpfte auf einem Fuß und dann auf dem anderen, während Orla ihm in seine Schneehose half; Eleanor Queen schlüpfte allein in ihre. Orla war dankbar, dass sie Julies Rat befolgt und in ein Paar richtig hohe und warme Schneestiefel für sich selbst investiert hatte. Tycho versuchte seine Stiefel zu schnüren, gab dann aber auf und ließ sich vor der Tür auf den Boden plumpsen, damit Orla es tun konnte. Als Nächstes kamen die Mäntel, Schals, Mützen und Handschuhe. Orla packte sich nicht ganz so dick ein – sie hatte nicht vor, ganz in den Schnee einzutauchen. Als alle fertig waren, öffnete sie die Haustür und die Kinder eilten nach draußen, sprangen von der Veranda.

»Shaw? Wir gehen raus.«

»Okay. Ich komme gleich nach.«

Sie wusste nicht, was er in seinem Atelier machte – sie hatte erwartet, dass er sie bei ihrem ersten Abenteuer im Schnee begleitete –, aber sie konnte die Kinder nicht warten lassen, nachdem sie alle angezogen waren.

Sobald Orla von der Veranda hinaustrat, musste sie sich die Hand vor die Augen halten, um sie vor der blendenden Helligkeit des Sonnenlichts auf der weißen Fläche zu schützen. Die Kinder, deren Kichern die reine Freude spielender Geschöpfe ausdrückte, schaufelten bereits den Schnee zu Hügeln. Sie standen auf, stolperten ein paar Schritte und ließen sich dann in das polsternde Weiß fallen, wobei ihre Hände jede makellose Oberfläche berührten, als könnten sie sie gar nicht schnell genug für sich einfordern.

Orla schlenderte ein paar Schritte vom Haus weg und genoss das Knirschen unter ihren Stiefeln. Es wärmte ihr das Herz, Eleanor Queen so sorglos zu sehen, so vertieft in den Augenblick, dass ihr allzu aktiver Verstand ihr endlich ein paar Sekunden Ruhe gönnte.

»Wird Papa uns helfen, den Schneedrachen zu bauen?«, fragte sie.

»Ich glaube, schon.« Orla blickte zurück zum Haus. Shaw stand in der Tür und zog seinen Mantel an.

»Was ist das?«, kreischte Tycho aufgeregt. Er zeigte auf etwas, das einige Meter entfernt lag. Orla stapfte hinüber, um es sich näher anzusehen.

»Hm. Sieh mal einer an.« Ihr Sohn hatte etwas entdeckt, das wie ein zusammengerolltes Schneebündel aussah, wie eine Biskuitrolle oder einer dieser riesigen Heuballen, die sie bei ihren seltenen Fahrten auf dem Land gesehen hatte, obwohl dieser Schneeballen weniger als 30 Zentimeter breit war. »Eleanor Queen? Komm und sieh es dir an!« Als ihre Tochter an ihrer Seite war, zeigte sie auf den flachen Schnee hinter dem aufgerollten Teil. »Siehst du? Als hätte der Wind es in diese Form geblasen.«

»Das ist so cool.«

»Wird es immer größer und größer werden?«, fragte Tycho und hielt seine Hände so weit auseinander, wie es ging.

»Das weiß ich nicht.« Orla zückte ihr Handy und machte ein Foto davon. Die Kinder, die bereits das Interesse verloren hatten, rannten zurück zum Spielen. Orla stöberte in Google herum und versuchte herauszufinden, welche Suchbegriffe sie eingeben sollte. Der Empfang war ausnahmsweise mal gut, vielleicht lag es am wolkenlosen Tag, oder vielleicht war dies die einzige Stelle im Hof, an der die Berge nicht im Weg waren. »Ich habe es gefunden!« Sie ignorierten sie, aber Orla las sich fasziniert durch die Einträge.

Shaw kam mit einem Paar Schneeschuhe und einer Karte aus dem Haus, den kleinen Rucksack über eine Schulter gehängt. In weiser Voraussicht hatte er eine Sonnenbrille aufgesetzt.

»He, seht mal!«, rief Orla. »Wir haben eine Schneerolle in unserem Hof! So nennt man die Dinger …« Sie sah auf ihrem Handy nach. »Auch Schneeringe oder Windschneeballen. Das ist ein meteorologisches Phänomen. Und ja, Tycho, sie können richtig groß werden. Oder es können sich viele an einem Ort bilden, wenn die Bedingungen stimmen …«

Niemand schenkte ihr wirklich Aufmerksamkeit. Tycho erblickte die Schneeschuhe seines Vaters und stapfte zur Veranda, wo er sie anlegte. »Darf ich es versuchen?«, fragte er und streckte die Hände aus.

»Diesmal nicht, Tigger. Die sind zu groß für dich.«

Orla hielt ihr Handy in der Hand, als sie zum Haus zurückstapfte. Sie hatte immer gedacht, Schneeschuhe seien aus Holz mit einem Seilnetz darin, aber die, die Shaw anschnallte, bestanden aus Hightech-Stahlrahmen mit strategisch platzierten Steigeisen. Julie hatte ihnen ein Paar billigere und kleinere Schneeschuhe für die Kinder mitgegeben, die Jamie und Derek nicht mehr passten. Aber offensichtlich plante Shaw einen Soloausflug.

»Niemanden interessiert das Phänomen in unserem Garten? Wohin gehst du denn?«, fragte sie. Hinter sich hörte sie das Schleifgeräusch der Schneehose von Eleanor Queen. Die Hosenbeine rieben gegeneinander, als sie herüberkam, um sich zum Rest der Familie zu gesellen.

Shaw winkte mit der topografischen Karte. »Ich dachte, ich könnte das Grundstück abgehen – es ist alles hier eingezeichnet. Und ein paar Fotos machen. Ich bin ganz scharf darauf, mit meiner Naturarbeit anzufangen. Im Grunde möchte ich nur ein bisschen herumlaufen. Auf der Suche nach Inspiration, und vielleicht erzählen mir die Bäume etwas.« Er zwinkerte Tycho zu.

»Können Bäume sprechen?«, fragte der seinen Papa.

Orla bemerkte, wie Eleanor Queen den Kopf drehte, um zu der hoch aufragenden Kiefer hinaufzublicken.

»O ja«, sagte Shaw. »Aber du musst sehr genau hinhören. Seht, all die hier …« Er gestikulierte um sie herum und beide Kinder sahen zu, wie seine Hand über die aufmerksam lauschenden Bäume strich. »Sie sprechen ihre eigene Sprache. Sie flüstern sie in ihren Ästen und senden Botschaften durch ihre Wurzeln. Die strecken sie bis in unterirdische, plätschernde Ströme, die mit allerlei Neuigkeiten und Klatsch gefüllt sind. Manchmal, wenn es sehr windig ist, haben sie viel zu besprechen und man kann sie plappern und streiten hören. Aber wenn es windstill ist, muss man sich konzentrieren.«

»Worüber reden sie?«, fragte Tycho.

»Oh, über all das, was sie von ganz oben und ganz unten gesehen haben. Die Tiere und Käfer, die zu Besuch kommen, die Vögel, die in ihren Zweigen Nester bauen. In der Stadt haben wir die Hektik des Lebens in großen Wohnblocks. Hier haben wir den Wald, der auf eine andere Weise geschäftig ist.«

»Wow«, machte Tycho mit weit aufgerissenen Augen und schien verzaubert.

Orla sah, wie sehr sich Eleanor Queen bemühte, sie zu hören, die Gemeinschaft der Bäume. Sie sah auch den unbedingten Glauben, dass sie tatsächlich miteinander oder mit ihr selbst kommunizierten, ohne dass sie etwas davon mitbekam.

»Papa meint das nicht wörtlich«, sagte Orla zu ihrer Tochter und zog die linke Seite ihrer Mütze zurück über ihr Ohr, um sie abzulenken.

»Doch, das tue ich! Ich habe erstaunliche Dinge von Bäumen gelernt – was glaubt ihr denn, warum ich hierherkommen wollte?« Er zwinkerte wieder, und Tycho wusste, das war sein Stichwort, um mit seinem Vater zu kichern. Aber Orla hätte Shaw Schnee unter das Hemd stopfen können. Konnte er denn nicht sehen, wie beeinflussbar seine Tochter war? Selbst wenn sie mit neun Jahren besser in der Lage war, Realität und Fantasie zu unterscheiden, als ihr Bruder, was wusste sie schon über die Wildnis? Es war gefährlich, Dinge zur Belustigung eines sensiblen Kindes zu vermenschlichen.

»Papa hat recht«, sagte Eleanor Queen, ihre Aufmerksamkeit immer noch auf die Bäume gerichtet. »Ich kann sie fast hören …«

Shaw grinste, aber Orla warf ihm einen »Siehst du, was du angerichtet hast«-Blick zu, der ihn dazu zu bringen schien, sich nun wirklich auf sein Abenteuer zu begeben. »Okay, meine Sippschaft, wir sehen uns nach meiner Rückkehr!«

Ihr Grundstück war offiziell knappe zweieinhalb Hektar groß, aber es war von dicht bewaldeten Hügeln umgeben, die endlos schienen. Nur das flachere Stück Grund unmittelbar um das Haus war gerodet worden. Orla wollte sich ihre Enttäuschung über seinen Abschied nicht anmerken lassen, nicht so kurz nach ihrem unbehaglichen Gespräch am Abend zuvor, in dem es darum ging, dass sie sich nicht sicher fühlte. Er schien ihre Besorgnis ernst zu nehmen, aber nicht so ernst, dass er sie – sie alle – in wirklicher Gefahr sah. Das war einerseits gut, aber er hatte bei Haferbrei und Frühstücksspeck nicht einmal etwas davon gesagt, dass er allein losziehen wollte. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie eher wütend darüber war, dass er nicht blieb, um den Kindern bei ihrer Schneekreatur zu helfen, oder ob sie Angst davor hatte, zum ersten Mal allein im Haus zu sein. Mitten im Nirgendwo. Sie wünschte, sie hätten den Internetanschluss gehabt, bevor sie eingezogen waren. Der Rest der Welt fühlte sich so unerreichbar weit weg an.

»Funktioniert dein Handy da draußen?« Sie folgte ihm, während er mit seinen Schneeschuhen auf den Waldrand hinter ihrem Haus zustapfte. Der Empfang ihres eigenen Handys wurde schwächer, sobald sie sich dem Wald näherten.

»Ich weiß nicht. Ich habe es nicht mitgenommen.«

»Was ist, wenn etwas passiert?«

»Was denn zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht … dass du zum Beispiel von einem Bergkamm abrutschst und dir ein Bein brichst.« Solche Dinge passierten immer in Filmen mit Bergen und Schnee.

Er blieb stehen, bevor er in den Wald trat. »Ich gehe nicht so weit. Und hier draußen gibt es keinen Bergkamm. Mach dir keine Sorgen. Ich bin bald zurück!« Sie hielt ihm ihr Telefon hin, aber er winkte ab. Es war alles so einfach für ihn. Vielleicht hatte es dieser Jahre in der Stadt bedurft, damit er erkannte, dass er hierhergehörte. Er schien keine Eingewöhnungszeit zu brauchen und hatte nicht ein einziges Mal Sehnsucht nach den Cafés und Bistros geäußert, die noch vor Kurzem ein fester Bestandteil seines Alltags gewesen waren. Aber sie sehnte sich bereits nach einem rund um die Uhr geöffneten Diner mit einer Speisekarte so lang wie Moby-Dick und spanisch sprechenden Kellnern, die wussten, was sie gern bestellte. Das totale Klischee.

»Papa?« Eleanor Queen kam herbeigelaufen, und die düstere Besorgnis breitete sich erneut auf ihrem Gesicht aus. »Was ist mit dem Schneedrachen?«

»Keine Sorge, Bean, deine Mutter kann mit euch den Anfang machen. Und ich helfe euch, wenn ich zurückkomme. Oder – es ist ja nicht wie in der Stadt – wir können jeden Tag ein bisschen daran werkeln. Das hier gehört alles uns.« Er breitete die Arme aus. »Die Kälte bleibt. Dieser Schnee geht nirgendwohin.«

Shaw war gut darin, Eleanor Queen zum Lächeln zu bringen. Dafür würde Orla ihn immer lieben. Auch wenn er sich gelegentlich etwas zu sehr von seinen eigenen ungestümen Ideen ablenken ließ.

Er stapfte in den Wald hinein und versprach, über alles Interessante, das er fand oder hörte, zu berichten. Die Stämme hoben sich so deutlich vom Schnee ab, als wären sie tausend Tore in eine andere Welt. Ein Wind flatterte durch die Äste, und Orla hoffte, dass die Bäume nicht über sie und ihre dämliche, städtische, unvorbereitete Art tratschten. Wenigstens sah Shaw so aus, als wüsste er, was er tat. Orla marschierte zurück zu den Kindern und ging entgegen ihrer ursprünglichen Absicht auf die Knie, um ihnen zu helfen, ihre Schneehaufen aufzuschichten. »Das kann der Rücken des Drachen werden«, sagte sie.

»Und er muss einen sehr langen Schwanz haben«, sagte Eleanor Queen.

»Und Feuer speien!«, rief Tycho.

»Kein Feuer; dann schmilzt doch der Schnee.«

»Ach ja.« Tycho machte es nichts aus, wenn seine Schwester ihn korrigierte; er lachte nur, als er seinen albernen Fehler bemerkte.

Sie plauderten über all die Dinge, die ihr Drache brauchen würde: Schuppen, Zähne, Höcker und Flügel. Orla schob ihre Mütze höher und blinzelte, erfrischt durch die Anwesenheit der Sonne. Auf dem Ast eines nahen Baumes entdeckte sie einen Kardinal, dessen Rot ein fröhlicher Gruß in der verschneiten Landschaft war. Es hätte glatt ein Postkartenmotiv sein können.

Irgendwann begannen sie, das Rückgrat des Drachen als Mauer zwischen sich zu benutzen, und Tycho beanspruchte die eine Seite, Eleanor Queen die andere. Sie bewarfen sich gegenseitig mit locker geformten Schneebällen. Orla kündigte an, ins Haus zu gehen; ihre Hose war nass, und auch die Kinder hatten das Interesse an ihrer bildhauerischen Aufgabe verloren.

»Ich bin drin im Wohnzimmer, okay? Ich packe die Bücher aus.« Sie riefen »Okay«, ohne sie überhaupt anzusehen. Orla zog ihren Handschuh aus und machte ein schnelles Foto, um ihren Eltern eine Nachricht zu schicken und ihnen zu zeigen, wie gut es den Kindern ging. Als sie die Tür erreichte, hielt sie inne; sie hatte sie noch nie einfach draußen gelassen. Zum ersten Mal würdigte sie die Sicherheit, die Unmöglichkeit, dass jemand vorfahren und sich eines ihrer Kinder schnappen könnte, während sie ihnen den Rücken zukehrte. Sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass sie fallen und auf Beton oder Glasscherben treffen könnten. Und es gab auch keine aggressiven Kinder, die sie beim Spielen wegschubsen konnten.

Sie ging hinein, zog ihre Stiefel aus und strich den Schnee von ihren Jeans. Die klebten an ihren kalten Beinen, und alles, was sie wollte, war ihre weiche, warme Pyjamahose. Sie warf ihren Mantel ab und auf eine Kiste, dann eilte sie die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.

In ihrem Zimmer stellte sie sich ans Fenster und sah auf die Kinder hinunter, während sie ihre Hose auszog. Es ging ihnen gut. Sie gingen nirgendwohin. Sie spielten keine zehn Meter von der Haustür entfernt. Sie redete sich zu, sich endlich zu entspannen. Es war neu, dass die Kinder allein und ohne ihre Anwesenheit spielten. Aber so hatte sie doch selbst gespielt, als sie aufgewachsen war. Sie war mit Kinderscharen durch die Nachbarschaft gezogen und hatte sich stundenlang in fremden Gärten aufgehalten. Sie hatte es geliebt, unabhängig zu sein und dass ihre Eltern ihr vertrauten, dass sie zur vereinbarten Zeit zurückkehrte. Sie wusste, dass sie sich auf Eleanor Queen verlassen konnte, dass sie in Sichtweite des Hauses bleiben und ihren kleinen Bruder nicht weglaufen lassen würde. Es gehörte zum Älterwerden dazu, dass man ihr immer mehr Verantwortung übertrug. Das versicherte Orla sich selbst. Trotzdem schlüpfte sie schnell in ihre Pyjamahose und Hausschuhe und ging wieder nach unten.

Sie hatten vor, einen größeren Tisch zu kaufen, aber im Moment benutzten sie noch den Klapptisch, den sie aus der kleinen Wohnung mitgebracht hatten. Orla schob die restlichen Küchenkartons über die Schwelle, hievte dann einen auf den Tisch und einen weiteren auf die Ablagefläche der Schränke. Das Wohnzimmer wurde dadurch überschaubarer, mit mehr Platz zum Manövrieren und weniger Kisten im Weg. Sie warf einen Blick in Shaws Atelier, bevor sie sich mit den Bücherkisten niederließ. Er war lange aufgeblieben, und der Raum sah komplett fertig aus.

Es wurde wohnlich, Schritt für Schritt.

Sie ertappte sich dabei, dass sie so optimistisch war wie seit Monaten nicht mehr. Wahnsinn und Stress des anhaltenden Schwebezustands lagen endlich hinter ihnen. Es war an der Zeit, sich zu entspannen. Sich einzuleben. Sich auf den Neuanfang einzulassen – und auf die Magie, die Shaw ihnen allen vermitteln wollte.

Orla beugte sich weit hinunter und drückte ihre Stirn gegen ihre Knie, während sie ihre Handgelenke locker hinter ihren Fersen hielt. Das fühlte sich so gut an, die Dehnung entlang ihrer Beinrückseiten. Sie hätte für immer in dieser Position bleiben können, oder zumindest für weitere fünf Minuten. Aber dann begannen ihre Kinder zu schreien. Laute, spitze Schreie voller Schrecken. Sie richtete sich mit einem Ruck auf.