7
Orla hastete zur Haustür und kümmerte sich nicht um Stiefel oder Mantel. Draußen …
Weiß.
Nichts als Weiß.
Der blaue Himmel und der Sonnenschein waren fort. Die Macht des Windes brachte sie ins Straucheln, als sie die fast unsichtbare Verandatreppe hinuntereilte.
»Tycho! Eleanor Queen!«
»Mama! Mama!« Die Kinder schrien, aber sie konnte sie nicht sehen.
Der Wind zerrte an ihrer viel zu dünnen Kleidung und sie hielt die Arme schützend vor die Brust. Sie glitt aus und die letzten zwei Stufen hinunter und fiel auf die Knie, während eine Hand im Schnee versank. Die Kinder waren da draußen und gar nicht weit weg, dem Klang ihrer Stimmen nach zu urteilen, aber der peitschende Schnee verwischte ihr Sichtfeld; sie hatte Mühe, überhaupt die Augen offen zu halten.
»Tycho! Eleanor Queen!«, schrie sie. »Ruft weiter, damit ich euch finden kann!«
»Mama!«
Orla taumelte in Richtung der Stimmen, ihr ganzer Körper kribbelte vor Gänsehaut und ihr Herz klopfte gegen die schmalen Knochen in ihrer Brust. Sie streckte eine Hand vor sich aus und tastete blindlings, in der Erwartung, die flauschige Polsterung eines der Kindermäntel zu ergreifen. Sie klangen so nahe. Außer wenn der Wind ihre Stimmen wegzutragen schien. Einmal drehte Orla den Kopf und sah zum Himmel hinauf, weil sie überzeugt war zu hören, wie ihre Tochter in die Atmosphäre hinaufgesogen wurde. »Eleanor Queen!«
»Hier, Mama! Wir sind hier!«
Orla stolperte über etwas. Der Drache. Endlich sah sie Farbe im erdrückenden Weiß. Sie griff danach. Das Rot der Schneehose von Eleanor Queen. Mit einer Hand zerrte sie an dem Rot, mit der anderen griff sie nach dem blauen Mantel ihres Sohnes. Die Kinder stürzten sich auf sie und drückten ihre Gesichter gegen ihr Schlüsselbein. Sie hielt sie mit aller Kraft fest, dankbar dafür, sie in ihren Armen zu haben, und dankbar für die Wärme, die sie spendeten. Sie konnten nicht mehr lange hier draußen bleiben: Orla wäre die Erste, die erfrieren würde. Sie zwang sich aufzustehen, obwohl ihre kalten Muskeln sich gegen eine solche Anstrengung sträubten, und zog die Kinder auf die Beine.
Der Wind drückte und zerrte, und der Schnee peitschte ihr ins Gesicht – wo war das Haus? Sie drehte sich in die vermutete Richtung, hob die Kinder hoch, eines auf jedem Arm, und stürzte nach vorn.
Nach wenigen Schritten …
... wurde alles still. Der tosende Wind verstummte so plötzlich, dass Orla zuerst dachte, sie sei taub geworden. Dann wurde ihr klar, dass es einfach nichts mehr zu hören gab. Als der Schnee sanft zurück auf den Boden fiel, wurde die Umgebung wieder klar umrissen. Das Haus. Die Garage. Die Bäume. Der blaue, wolkenlose Himmel. Die Sonne, unvermindert.
Orla brauchte einen Moment, um zu Atem zu kommen. Sie ließ die Kinder von ihren Armen gleiten und auf die Füße kommen. Alle drei blickten sich um, verblüfft von der Heftigkeit des Wetters und schockiert über dessen plötzlichen Rückzug. Erst als Eleanor Queen zu wimmern begann, machte sich in Orla wieder die Dringlichkeit breit.
Sie packte die beiden, zog sie nahe zu sich heran und schleppte sie halb zurück zum Haus. Tycho kämpfte sich durch den tiefen Schnee, also hob Orla ihn hoch und trug ihn wie ein Baby in ihren Armen.
Eleanor Queen eilte über die Veranda und hielt ihrer Mutter die Tür auf. Als sie alle die Schwelle überschritten hatten, sackten sie drinnen zusammen, Orla und Eleanor Queen in Tränen aufgelöst.
»Was ist passiert, Mama?«, fragte Tycho, sein Gesicht rosig und erstaunt.
»Ein Schneesturm, eine Schneeböe.« Ihre Hände waren fast steif gefroren. Und ihre Hausschuhe waren völlig durchnässt; ihre Zehen brutzelten vor Schmerz. Ihre nackte Haut fühlte sich an, als wäre sie ausgepeitscht worden. Mit unbeholfenen Händen half sie Tycho aus seinen Stiefeln und seiner Ausrüstung.
»Sie kam aus dem Nichts.« Die Augen von Eleanor Queen waren groß und hoffnungslos.
»Kommt, zieht alle eure nassen Sachen aus, damit wir uns aufwärmen können.« Doch in Wahrheit war nur Orla bis auf die Knochen durchgefroren. »Mama kann nicht aufhören zu zittern.«
Sie wollte nicht, dass ihre Kinder ihren Schrecken spürten oder sahen; es war besser, ihn abzutun, als wäre ihr lediglich eiskalt. Was auch immer geschehen war … Was war geschehen? Ein verrückter Wettersturz? Sie hatte schon ähnliche Windstöße gesehen, die wie ein formloser Tornado durch die fünf Stadtbezirke fegten und Müll und zerbrochene Äste hinterließen. Bei all ihren Vorbereitungen hatte Shaw nichts von gefährlichen Schneestürmen erwähnt, oder davon, dass das Wetter so unbeständig und unberechenbar war. Die plötzliche Wut darüber, dass er ihr so etwas vorenthalten hatte, brachte Wärme in ihre frierenden Glieder.
Eleanor Queen wollte nicht baden, aber sie half dabei, ein Bad für Tycho einzulassen, während Orla sich in ihrem Schlafzimmer trocken rubbelte. Orla zog sich zwei Lagen Jogginghosen und Sweatshirts und zwei Paar Socken an. Bevor sie zu den Kindern ins Bad ging, rannte sie nach unten und drehte den Thermostat auf 22 Grad. Ihre Knochen schmerzten von der Anstrengung, und sie hätte nichts gegen ein paar Minuten im warmen Wasser einzuwenden gehabt, aber die Kinder brauchten sie.
Während Tycho im schaumigen Wasser planschte und mit einem Spielzeugflugzeug spielte, saß Orla auf der geschlossenen Toilette und hatte Eleanor Queen in Schlafanzug und Fleecedecke eingemummelt auf dem Schoß. Tycho schien von dem, was draußen geschehen war, gar nicht verstört zu sein. Er summte wieder eine seiner kleinen Melodien, während sein Flugzeug wiederholt eine Bruchlandung im Wasser machte. Aber Eleanor Queen zitterte in ihrem Kokon, trotz Orlas starken Armen um sie herum.
»Es war nur ein bisschen schlechtes Wetter. Der Winter kann so bösartig sein.« Orla glaubte ihren eigenen Worten nicht ganz, aber sie flüsterte sie ihrer Tochter ins Ohr, in der Hoffnung, ihr die Angst zu nehmen.
Eleanor Queen schüttelte den Kopf.
»Nein?«, fragte Orla.
Eleanor Queen schüttelte erneut den Kopf. »Das war kein normales Wetter.«
»Nein, ich schätze, da hast du recht. Es kam sehr plötzlich und intensiv, aber trotzdem – es ist nur Schnee und Wind. Und es war nicht von Dauer. Es hat euch einen Schrecken eingejagt, aber es ist ja nichts passiert. Ihr hättet euch nicht verlaufen oder …«
»Es wollte uns fressen.«
»Schhh.« Orla wiegte sie. »Es wollte euch nicht fressen, genauso wenig wie die Sonne euch küssen oder der Regen euer Haar waschen will.«
In der Wanne kicherte Tycho.
»Doch, Mama, ich habe es gespürt.« Eleanor Queen schmiegte sich noch enger an Orlas Brust.
Sie hatte noch nie einen so starken Drang verspürt, die Gefühle ihres Kindes zu ignorieren, doch wenn sie die bizarre Erklärung von Eleanor Queen akzeptierte – die sich so sehr von den sehr realen und unmittelbaren Dingen unterschied, die sie normalerweise ängstigten –, dann würde Orla nicht mehr wissen, wie sie sie beruhigen sollte. »Du hattest Angst, weil du vor lauter Schnee kaum etwas sehen konntest und vor lauter Wind kaum atmen konntest. Es ist in Ordnung, Angst zu haben – jeder hat mal Angst. Aber jetzt ist es vorbei und du bist in Sicherheit.«
Orla wünschte, Shaw wäre zu Hause. Ihm würde es gelingen, ihre Tochter zu beruhigen. Vielleicht könnte er sogar Orla beruhigen. Auch sie spürte etwas, eine Ebene der Furcht, die sie nicht erklären konnte. Shaw würde ihr den Kopf zurechtrücken, so wie sie es bei Eleanor Queen versucht hatte.
Immer noch sickerte eine Spindel aus Eis ihre Wirbelsäule entlang. Was, wenn auch Shaw in diesem Sturm gefangen gewesen war? Vielleicht gab es keinen Bergkamm, über den er stürzen konnte, aber das hieß nicht, dass er sich nicht verletzen und Hilfe brauchen konnte. Und sie wüsste nicht, wie sie ihn finden könnte. Komm nach Hause . Komm nach Hause .
»Okay, meine kleinen Schätze.« Sie stellte Eleanor Queen auf die Beine und stand auf. »Bevor unser kleiner Tigger ganz schrumpelig wird wie eine Rosine.«
Als sie ihm ein flauschiges Handtuch hinhielt, schoss Tycho aus dem Wasser hoch. »Ich mag keine Rosinen. Können wir heiße Schokolade haben?«
»Heiße Schokolade. Hört sich das gut an?«, fragte sie Eleanor Queen, immer noch in der Hoffnung, einen Weg zu finden, sie zu trösten.
Das Mädchen nickte, die Decke bis zu den Ohren und unter das Kinn geklemmt.
Orla trocknete ihren Sohn schnell ab. »Dann machen wir das.« Zumindest gab ihr das eine Aufgabe, eine Ablenkung. Und die Gewissheit, dass sie wenigstens in diesem Punkt ihren Kindern geben konnte, was sie wollten.
Sie beschäftigte die Kinder mit kleinen Aufgaben. Abwechselnd schoben sie zerknüllte Zeitungen und Zweige in den Holzofen. Orla entzündete ihn, und alle sahen gebannt zu, wie sich die Flammen ausbreiteten und stärker wurden. Dann legte sie ein trockenes Holzscheit auf das Feuer und schloss die Ofentür, während sie die ganze Zeit davon sprach, wie warm es sein würde, wie gemütlich, wie wohltuend an einem kalten Wintertag. Das Teufelchen auf ihrer Schulter sezierte ihre Worte, bereit, einen Streit anzufangen: Es war doch kaum Winter, immer noch November, wie schlimm sollte es noch werden? Aber diese Streitfragen hob sie sich für Shaw auf. Sie ließ die Kinder die Beine des kleinen Tisches einklappen, und die drei machten eine große Aktion daraus, ihn ins Wohnzimmer zu tragen – auch wenn Orla das in Sekundenschnelle auch mit einer Hand geschafft hätte.
Eleanor Queen durchsuchte die Schränke, um die frisch ausgepackten Tassen zu finden. Tycho kippte je ein Päckchen heiße »Sokollade« in die Becher, sodass sich um den Boden Kränze aus feinem braunem Pulver bildeten. Orla goss das heiße Wasser ein, überließ aber Eleanor Queen das Umrühren, als die darauf bestand, dass sie es schaffen würde, ohne auch nur einen Tropfen über den Rand zu spritzen. Und sie hielt sich an ihr Wort.
Sie hingen stundenlang im warmen Wohnzimmer herum und spielten Kniffel, Uno und Dame. Orla wärmte eine Dosensuppe zum Mittagessen auf – der Gefrierschrank war noch nicht mit selbst gemachten Vorräten gefüllt – und tat so, als würde sie sich keine Sorgen machen, dass Papa noch nicht nach Hause gekommen war.
Der Tag blieb sonnig und klar, aber keines der Kinder wollte erneut zum Spielen nach draußen gehen. Tycho machte irgendwann ein Nickerchen auf der Couch. Eleanor Queen schlich sich in ihr Zimmer zu ihren Büchern. Orla begann mit dem Abwasch, hielt aber inne, als sie feststellte, dass jedes Familienmitglied an einem anderen Ort war: in drei verschiedenen Zimmern drinnen und irgendwo draußen.
Eine neue Angst überkam sie.
Würden sie sich auseinanderleben? Würden sie instinktiv ihre eigene Einsamkeit suchen und vergessen, wie es gewesen war, als sie immer aufeinanderhockten? Das war etwas, worüber sie sich manchmal beschwert hatten, aber jetzt konnte Orla mit einem Mal die Nachteile von mehr Platz erkennen – die allmähliche Dehnung ihrer Verbindungen zueinander. Jahrelang war das Funktionieren eine tägliche Übung in Kompromissen gewesen, immer neue Tänze mit neuer Choreografie – manchmal ein Walzer, wenn sie auf ihrem Weg durch den Raum schwungvoll die Hindernisse, die Menschen, umging; manchmal eine Polka mit einem improvisierten Vor und Zurück, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Würden sie aufhören zu versuchen, die Bewegungen und Stimmungen der anderen zu lesen, jetzt, wo ständige Nähe nicht mehr notwendig war? Würden sie sich stattdessen aus dem Weg gehen und sich dem Schweigen und dem Getrenntsein hingeben, die im Zuhause der meisten Familien wie ungezähmte Mitbewohner zu leben schienen?
Das würde sie nicht zulassen.
Orla ließ die Küchenpflichten liegen und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Die Kartons waren bereits geöffnet, also begann sie mit den Kinderbüchern, die sie mit wenig Aufwand geräuschlos in die Regale schob. Manchmal warf sie einen Blick auf Tycho, der schlief, schlaff wie das Baby, das er immer noch war. Was für ein süßer Junge er doch werden würde. Sie konnte sich vorstellen, wie er eines Tages in die Schule gehen würde, mit ebenso süßen und neugierigen Freunden. Sie würden ganz ernsthaft darüber reden, zum Mars zu fliegen, und ihre Zukunft als Astronauten würde nie infrage stehen. Ihr Sohn wusste, dass es einen Tycho gab, der Astronom gewesen war, obwohl ihr Sohn eigentlich nach dem Papagei des besten Freundes seines Vaters Lawrence benannt worden war. Der Papagei Tycho zählte gern von zehn abwärts und krächzte: »Abheben!« Eine kurze Zeit lang hatten sie und Shaw seinen Namensvetter, den Astronomen-Papagei, im Stillen verflucht, als das Kleinkind Tycho, das den Papagei gut kannte, auf jede Frage »Abheben!« geantwortet hatte.
Die Erinnerung daran brachte sie immer zum Lächeln; während andere Zweijährige zu allem »Nein« sagten, war ihr kleiner Junge bereit gewesen, zum Mond zu fliegen. Er würde eines Tages ein bemerkenswerter Mann sein. Sie würde alles tun, um sicherzustellen, dass er seine Liebenswürdigkeit und seine Leichtigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, behielt.
Gerade als sie sich Eleanor Queen in der Zukunft vorstellen wollte – ein Mädchen, das sich schon dem Namen nach niemals mit dem Status einer Prinzessin zufriedengeben würde –, klapperte etwas an der Hintertür. Ihr Puls beschleunigte sich und sie sprang auf, bereit, ihre Kinder einzusammeln oder zu kämpfen. Das erste irrationale Bild, das ihr in den Sinn kam, war das eines Fuchses – oder mehrerer Füchse – mit flinken Händen und kleinen Werkzeugen, der einzubrechen und das Haus auszurauben versuchte. Du hast zu viele Bilderbücher gelesen . Ihr zweiter Gedanke war ein Schwarzbär, der seine Pfote durch das Küchenfenster schieben wollte, um nach Resten zu suchen.
Ein dumpfer Schlag .
Ein doppeltes Klappern.
Sie ging vorsichtig auf das Geräusch zu und fragte sich, welches Küchenutensil als Waffe verwendet werden könnte. Was war überhaupt verfügbar? Ein Rührlöffel aus Bambus? Ein Milchtopf mit Stiel?
Sollte sie besser eine der Waffen holen?
Shaw stolperte herein und brachte stiebenden Schnee und einen Schwall Kälte mit sich.
Ihre Panik verflog, aber nicht bevor der schlimmste Gedanke, den sie je hatte, ihre Erleichterung durchdrang: Genau so werden Familien durch tödliche Fehler zerstört. Wenn sie die Waffe geholt, in ihrer Angst nur einen dunklen Schemen gesehen hätte und nicht ihren Mann … Sie hätte sich das niemals verzeihen können.
Er keuchte und stützte die Schneeschuhe gegen die Wand, wo der Schneematsch von ihnen tropfte. Orla verschränkte die Arme vor der Brust und war stinksauer. Trotz der eingebildeten Katastrophe war sie sich sicher, dass das, was ihn so viele Stunden aufgehalten hatte, seine eigene Schuld war. Sie konnte sich diese ungnädigen Gedanken leisten, nachdem sie gesehen hatte, dass es ihm abgesehen von seiner Erschöpfung gut ging.
»Wo bist du gewesen?«
Er ließ sich auf den einzigen verbliebenen Küchenstuhl fallen, der nicht im Wohnzimmer am Klapptisch stand. Nachdem er den Reißverschluss seiner Jacke aufgezogen hatte, blieb er einfach so sitzen, völlig erschöpft und in sich zusammengesunken.
»Gibst du mir ein Glas Wasser?«
Orla goss ihm ein Glas ein und reichte es ihm. Ihre Empörung verblasste. Was immer er durchgemacht hatte – auch wenn es nicht zu gebrochenen Knochen geführt hatte –, war nicht einfach gewesen. Oder lustig. Er trank das Wasser gierig.
»Noch mehr?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und reichte das Glas zurück. Mühsam hob er einen Knöchel auf sein Knie und begann, seinen Stiefel aufzuschnüren.
»Was ist passiert?« Irgendetwas stimmte nicht. Und Shaw war derjenige von ihnen, der den wilden Norden eifrig und freudig begrüßt hatte. Jetzt sah er niedergeschlagen aus. »Hast du dich verlaufen?«
Er stieß einen bellenden Laut aus, halb Lachen, halb Schluchzen. »Ich dachte, ich würde den Weg zurück nicht mehr finden.«
»Baby.« Orla ging zu ihm, und er schlang seine Arme um ihre Taille. Und weinte. Seine Tränen brachten etwas in ihr zum Knistern; gleichzeitig erwachte das Feuer im Innern des Heizkessels im Keller fauchend zum Leben. War es auch peinlich berührt? Ängstlich sogar? Sie würde ihrem Mann nie das Recht absprechen zu weinen, aber was hatte ihn so erschüttert? Sie wollte ihn am liebsten fragen, ob sie in Sicherheit waren, aber stattdessen hielt sie ihn in den Armen, bis er sich beruhigt hatte, dann kniete sie sich hin und löste die Schnürung seines anderen Stiefels. Nahm ihm die Mütze vom Kopf. Hob ihm das Gewicht des Rucksacks von den Schultern. Sie ließ die Stiefel auf der Fußmatte stehen, damit sie den schmelzenden Schnee aufsaugen konnte, stellte die Schneeschuhe ebenfalls darauf und lehnte sie gegen die geschlossene Tür.
»Willst du etwas Warmes? Kaffee? Tee?«
»Mir ist zu heiß«, sagte er, schlüpfte aus seiner Jacke und zupfte am Hals seines Pullovers.
Sie zog ihn ihm über den Kopf; das T-Shirt, das er darunter trug, war durchgeschwitzt.
»Papa?«
Eleanor Queen stand auf der Schwelle zwischen den beiden Räumen und beobachtete sie. Vorsichtig. Orla fragte sich, wie lange sie schon dort stand. Hatte sie gehört, dass er sich verirrt hatte? Hatte sie ihn weinen sehen? Shaws Zustand war untypisch für ihn; sie neigten beide nicht zur Überdrehtheit oder zu schwachen Nerven. Und zum ersten Mal wurde ihr klar, dass sie keine Vorstellung davon hatte, wie es aussah, wenn ihr Mann dort draußen allein war. In der Stadt kannte sie alle seine Lieblingsplätze, konnte sich vorstellen, wie er in seinem Element war, auch wenn sie nicht bei ihm war. Aber hier …
Sie erschauerte und war froh, dass sie nicht früher an dieses Nichts gedacht hatte, an dieses Vakuum, in das er verschwunden war, als er den Hof verließ.
»Mir geht es gut, Bean.« Er benutzte seine »Kein Grund zur Sorge«-Vaterstimme und streckte die Hand aus.
Orla strich ihm das verschwitzte Haar zurück und schämte sich, dass sie nicht sofort zu ihm gerannt war, um ihn zu begrüßen und zu trösten, als er durch die Tür gekommen war. Sie legte einen Arm um seine Schulter und lächelte Eleanor Queen an, damit sie nicht so zögerlich blieb.
»Papa geht es gut. Er hatte bloß einen langen Tag im Wald.«
Eleanor Queen hielt den Blick weiter auf ihren Vater gerichtet. Sie näherte sich mit der gleichen Wachsamkeit, die sie normalerweise Hunden gegenüber an den Tag legte; sie traute ihnen nicht, selbst wenn sie ruhig dasaßen, weil sie immer Angst hatte, dass sie bellen oder springen würden. Als sie in Reichweite war, zog Shaw sie an sich und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. Aber sie ließ nicht zu, dass er sie in seiner Umarmung festhielt. »Hat es versucht, dich zu fressen?«, fragte sie und zog sich zurück.
»Hat was versucht … Was?«
»Wir hatten hier selbst ein kleines Abenteuer«, sagte Orla. »Ein kleiner Schneesturm. Aus dem Nichts. Aber jetzt geht es allen wieder gut.«
In Shaws Gesicht blieb Verwirrung zurück. »Es hat hier geschneit?«
»Nur kurz, ja.«
»Hat es dort, wo du warst, nicht geschneit?«, fragte Eleanor Queen.
»Nein … Nein.« Er versuchte, darüber zu lachen. »Mann, ich wusste, dass wir hier ein verrücktes Wetter haben würden, aber es ist nicht mehr so, wie es war, als ich ein Kind war.«
Mit einer Hand massierte Orla den harten Muskel zwischen Shaws Schulter und Nacken. Er sah zu ihr auf und zog verschwörerisch die Augenbrauen hoch. Es war eine Geste, die sie beide verstanden und die sie auch schon früher benutzt hatten, eine stumme Aufforderung, das weitere Gespräch zu verschieben, bis sie allein waren, wenn keines der Kinder mithören konnte.
Das Haus war so warm – zu warm –, aber Orla fröstelte. Sie wünschte sich, die Zeit verlangsamen zu können, weil sie Angst davor hatte, was Shaw ihr erzählen würde, wenn die Kinder schliefen. Seine Worte könnten ein Szenario bestätigen, von dem sie nicht sicher war, ob sie es anstandslos akzeptieren konnte – dass er vielleicht auch nicht wusste, wie man hier leben konnte und sollte.