8
Das Abendessen war eine bedrückende Angelegenheit, bei der das übliche Geplauder der Familie durch übertriebenes Schlürfen und Kaugeräusche ersetzt wurde – so schien es Orla jedenfalls. Eleanor Queen starrte auf ihren Teller und stach mit der Gabel Löcher in ihre Nudeln. Tycho stieß jedes Mal, wenn er seine Milch schluckte, ein überschwängliches Aaaahh! aus, das an ihrer Geduld zerrte. Shaws Gabel klapperte so oft gegen seinen Teller – was zerschnitt er überhaupt? –, dass Orla zu glauben begann, er wolle ihr absichtlich auf die Nerven gehen.
»Welchen Film wollt ihr heute Abend sehen?«, fragte Orla in der Hoffnung, die seltsame Spannung zu lösen.
»Ich werde den Film wahrscheinlich ausfallen lassen.« Alle Augen richteten sich auf Shaw nach seiner uncharakteristischen Ankündigung. Er sah die Frage in ihren Gesichtern. »Ich muss noch arbeiten …«
»Du liebst Filme.«
Orla wollte ihre Tochter küssen, weil sie so anklagend klang; das waren genau die Worte und der Ton, die Orla verwendet hätte, vor allem wenn sie einen Streit hätte anzetteln wollen.
»Ja, meine kleine Bean, das tue ich. Aber ich habe eine Idee im Kopf, und es wird Zeit, dass ich mit dem Skizzieren anfange.«
»Haben dir die Bäume etwas erzählt?«, fragte Eleanor Queen mit einem Hauch ängstlicher Ehrfurcht in der Stimme.
Orla warf Shaw einen überstrengen Blick zu. Er wusste jetzt, dass er es nicht leichtfertig verschlimmern durfte.
»Nein – jedenfalls nichts, was ich verstehen könnte. Ich musste mir ganz allein etwas ausdenken.«
»Oh.« Sie wandte sich wieder dem Nudelstechen zu, wobei die Enttäuschung ihrem tief gesenkten Kopf anzusehen war.
»Okay.« Orla stand auf und sammelte schnell die Teller ein. »Diese merkwürdige Stimmung muss ein Ende haben. Du«, sagte sie zu Shaw, »gehst in dein Atelier und machst dein Ding. Wir«, zu den Kindern, »werden den besten Film aller Zeiten aussuchen.«
Tycho hüpfte aus dem Raum. Shaw und Orla tauschten finstere Blicke, warteten aber, bis Eleanor Queen ebenfalls verschwunden war, bevor sie wieder sprachen.
»Du bist keine Hilfe«, flüsterte Orla, als sie die Teller abspülten.
»Was soll ich denn tun?«
»Tu wenigstens so, als würde es dir etwas ausmachen, dass es für den Rest von uns nicht einfach ist.«
»Du meinst für dich.«
»Scheint Eleanor Queen denn besonders glücklich zu sein?«, fauchte sie ihn so leise an, wie sie konnte.
»Es ist unser erster richtiger Tag hier, das braucht Zeit …«
»Und du hattest auch nicht den besten Tag, wenn ich das mal anmerken darf. Also rennst du in dein Zimmer, um dich zu verstecken …«
»Um mich zu verstecken? Ich wollte hierherziehen, um zu arbeiten!«
»Was ist mit dem Rest von uns?«
Er rückte so nahe an sie heran, dass seine Spucketröpfchen wie Gift gegen ihre Wange stachen. »Glaub nicht, dass ich nicht schon immer gewusst habe, dass du willst, dass ich etwas tue, dass ich Erfolg habe. Nun, ich bin auf dem richtigen Weg, meine Arbeit ist besser als je zuvor. Ich bin dir nie in die Quere gekommen; ich habe deine Entscheidungen unterstützt, selbst wenn du deine Meinung geändert hast.«
Sie wusste, dass er sich auf ihre abrupte Änderung der Pläne nach der Geburt von Tycho bezog. Shaw dachte, sie hätte der ECCB gekündigt, aber das hatte sie noch nicht getan, für den Fall, dass … Damals fühlte sie sich noch stark; sie war nicht bereit. Sie hatten sich tagelang darüber gestritten – Shaw bestand zum ersten Mal darauf, dass er an der Reihe war –, als Orla mit dem Unverzeihlichen herausplatzte.
»Bringst du dann ein regelmäßiges, festes Gehalt nach Hause? Während du deine Träume verfolgst? Denn das ist es, was ich tue: Ich verdiene ein Gehalt, auf das wir uns verlassen können. Ich denke, du hast es doch leichter, wenn ich weiterarbeite, denn dann sind wir nicht darauf angewiesen, dass du den größten Teil unseres Geldes verdienst.«
Sie hätte ihm ebenso gut seine ausrangierten Stricknadeln in den Bauch rammen können. Sie hatte sich sofort entschuldigt. Aber es spielte keine Rolle, wie oft sie beteuerte, dass sie es nicht so gemeint hatte, denn die Wahrheit, die Werkzeuge seines »Handwerks«, lag verstreut in ihrer Wohnung herum. Orla hatte insistiert, dass sie an sein Talent glaubte, auch wenn er zu diesem Zeitpunkt seine Berufung noch nicht gefunden hatte. Aber Shaw konterte mit dem Vorwurf, der ihn selbst am meisten belastete:
»Ohne dich hätte ich niemals in New York bleiben können. Ohne dich und deine Eigentumswohnung.«
Es war ein klägliches Eingeständnis, und sie konnte sich nicht entscheiden, ob es mutig von ihm war, es zuzugeben, oder ob es ein Zeichen für etwas Erbärmlicheres war, das ihre Zukunft zerstören könnte. In den letzten Wochen ihres Mutterschaftsurlaubs war die Stimmung angespannt gewesen. Aber als sie wieder aus dem Haus war und zu der Routine zurückkehrte, die sie seit vielen Jahren gelebt hatten, hatte sich alles beruhigt. Seitdem hatten sie keinen ernsthaften Streit mehr gehabt. Aber sie hatten auch noch nie ein Szenario erlebt, in dem sie beide auf unbestimmte Zeit zusammen zu Hause sein würden.
Der erste richtige Tag in ihrem neuen Zuhause war nicht gut gelaufen. Und wenn er sich hier oben immer so verhalten würde, wäre der Umzug ein größerer Fehler, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie hatten damit gerechnet, dass sie eine Eingewöhnungsphase brauchen würden – dass zumindest Orla sie brauchen würde; sie waren sich bewusst, dass ihr Leben im Norden des Staates New York ganz anders sein würde als im Süden, in der Stadt. Aber was, wenn sie nicht bedacht hatten, dass sie es gar nicht aushielten, ständig in der Gesellschaft des anderen zu sein? Und was, wenn Shaws Verdrießlichkeit oder gar die Angst, die er bei seinem Missgeschick erlebt hatte, ein Anzeichen dafür war, dass er es sich anders überlegt hatte? Er durfte keine Zweifel haben. Schon gar nicht nach nur einem Tag. Sie alle hatten ihr Leben für ihn auf den Kopf gestellt, waren in eine Landschaft gezogen, die er auf die Leinwand bringen wollte, hatten ihm seine zwölf Quadratmeter persönlichen Freiraum verschafft.
Orla überlegte, ob sie dem Haus die Schuld geben sollte. Sein Vorbesitzer hatte jahrzehntelang hier gelebt und war hier gestorben, vielleicht in Shaws Atelier. Im Schrank des Zimmers hatten sie beim Ausmisten einen emaillierten Nachttopf gefunden; vielleicht war der alte Mann in seinen letzten Jahren zu klapprig gewesen, um die Treppe zum einzigen Badezimmer hinaufzusteigen. War eine Faser, ein Hauch von ihm immer noch hier, glitt zwischen ihnen umher und stellte leise, mürrische Forderungen?
Wahrscheinlicher war, dass es an den vielen Zimmern, den vielen Türen lag. Hatten sie sich bereits auseinandergelebt? Oder brauchten sie mehr Räume, mehr Türen, um die Grenzen ihrer jeweils eigenen Identität zu wahren? Sosehr sie auch etwas dafür verantwortlich machen wollte, erkannte Orla doch, dass es auf die Menschen in den Räumen ankam und darauf, wie diese mit ihren Gefühlen umgingen.
Als der Film zu Ende war, klatschte Eleanor Queen zum triumphalen Abschluss Beifall und Tycho sprang begeistert auf und ab. Shaw streckte seinen Kopf aus seinem Atelier und fragte, ob Orla Hilfe brauchte, um die Kinder bettfertig zu machen. Sie verneinte, fühlte sich aber durch sein Angebot ermutigt, als sie nach oben ging. Er hatte sich wieder mehr wie er selbst angehört; hoffentlich würde der Tag voller kleinerer Kämpfe sie nicht lange aus dem Gleichgewicht bringen. Als sie die Treppe wieder herunterkam, wartete Shaw unten mit zwei Gläsern American Honey. Zum ersten Mal an diesem Abend grinste sie und nahm den Whiskey entgegen.
»Es tut mir leid«, platzten beide heraus.
Sie folgte ihm auf die Couch und kauerte sich in ihre bevorzugte Ecke. Shaw stellte die Whiskeyflasche zwischen ihnen auf den Boden und kuschelte sich neben sie.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hatte nicht geplant, dass der Tag so stressig wird, und ich komme nicht gut damit zurecht.«
»Mir tut es auch leid.«
Sie stießen mit ihren Gläsern an wie optimistische Gewinner eines Trostpreises.
»Auf die Wegbereiter«, sagte er.
»Ich weiß nicht, ob ich hier wirklich einen Weg bahne; vielleicht schaufle ich ein bisschen daran herum.«
Er schnaubte. »Nun, morgen ist ein neuer Tag. Und ich werde nicht wieder so … Ich bleibe bei euch, ich verspreche es.«
Sie nippten einen Moment lang schweigend und hingen ihren Gedanken nach. Es fühlte sich gut an, neben ihm zu sitzen, nur sie beide, niemand sonst in der Nähe; es war schon eine Weile her.
»Du hast also eine gute Idee gehabt?«, fragte sie. Es war ihr wichtig, dass er wusste, dass sie Vertrauen in ihn hatte, und dass er es auch spürte. »Ich weiß, ich hätte nicht so reagieren sollen. Es ist Wochen her, dass du in Ruhe arbeiten konntest.«
Sein Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Ich kann es nicht wirklich erklären. Die Bilder, die ich sehe … die Gewissheit, die ich fühle. Sie ist jetzt noch stärker. Als würde die Muse mir sagen: Das ist es! Sieh es dir endlich an! « Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich druckte ein paar meiner Fotos aus, nur um die Form, die Tiefe zu sehen. Und begann zu skizzieren, malte die erste Hintergrundebene, die erste Schicht.«
»Ich bin froh, Shaw. Das bin ich wirklich.« Ihre Finger trafen sich, verschränkten sich. »Können wir jetzt reden? Über den heutigen Tag? Die Kinder waren so verängstigt.«
»Ich verstehe das nicht so ganz. Was ist denn passiert?«
»Ich weiß es nicht. Sie haben gespielt. Ich kam herein, um im Wohnzimmer aufzuräumen. Und im nächsten Moment hörte ich sie schreien. Draußen gab es nur noch Weiß, absolut nichts mehr zu sehen …«
»O mein Gott.«
»Ich war wie schneeblind. Dann fand ich sie und packte sie, um ihnen zurück ins Haus zu helfen, und dann … war der Himmel wieder klar und sonnig. Als wäre nie etwas passiert.«
»Das ist wirklich seltsam.« Sein Gesicht sagte mehr als seine Worte, und sie fragte sich, ob er an seine eigene erschreckende Erfahrung dachte.
»Tycho war danach mehr oder weniger unbeeindruckt. Aber Bean … Ich wollte doch … Ich hatte so gehofft, dass sie keine Angst hiervor hat, und ich will nicht, dass sie Angst haben muss. Vor allem nicht am ersten Tag.«
Frustriert schüttelte Shaw den Kopf, und die Bewegung erinnerte Orla an das Rucken auf einer magischen Tafel, wenn man ein Bild ausradierte. »Ich weiß. Es tut mir leid. Ich hätte hierbleiben sollen, ich weiß … Als ich da draußen war und nicht mehr zurückfand, musste ich immer denken, dass das meine Strafe ist. Ich habe die ganze Zeit gedacht, ich hätte nicht gehen sollen, für euch ist das alles neu hier, und es war meine … Ich habe mir eingeredet, dass der Wald mich bestrafen würde. Für falsche Entscheidungen.«
Orla gefiel es nicht, dass er die Wildnis wieder vermenschlichte. Sie glaubte nicht, dass Mutter Natur mit Menschen interagierte, genauso wenig wie sie glaubte, dass Jesus es tat. Und es erinnerte sie zu sehr an die beunruhigende Beschreibung von Eleanor Queen: wie ein böser Traum, der zum Leben erwacht war, wie etwas, das sie fressen wollte.
Sie rückte noch näher an ihn heran und drückte seine Hand. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du nicht zurückfinden konntest.«
Shaw kippte den Rest seines Getränks hinunter – um sich zu wappnen? –, bevor er fortfuhr. »Ich hatte die Karte. Ich hatte den Kompass. Ich weiß, wie dicht die Bäume hier stehen können. Als ich aufwuchs, hörten wir jedes Jahr mehrmals Geschichten über Touristen, die vom Weg abgekommen oder ins Blaue losgegangen waren, und die Such- und Rettungsteams wurden mobilisiert. Es hätte ganz leicht sein sollen, meinen Weg zurückzuverfolgen, denn ich hatte deutliche Spuren im Schnee hinterlassen.
Ich war noch nicht mal so weit gegangen … 50 oder 60 Meter in Richtung der großen Kiefer – wir müssen die Kinder mitnehmen und sie ihnen aus der Nähe zeigen; der Stamm muss anderthalb Meter breit sein, an ihrem Fuß. Ich hätte nicht gedacht, dass Weymouth-Kiefern überhaupt so groß werden können. Jedenfalls bin ich an der Kiefer vorbei- und dann bis zur nördlichen Grenze des Grundstücks gegangen, habe mich immer rechts gehalten, indem ich den Grenzmarkierungen auf der Karte folgte. Es war wunderschön, die schneebedeckten Bäume, das Blau des Himmels. Alles war unberührt. Leise, gedämpft, vom Schnee in Stille gehüllt.«
Sein Kopf machte rhythmische Nein-Bewegungen wie ein Metronom, während er versuchte, es zu verstehen. »Ich habe die Kamera rausgeholt. Habe angefangen, Fotos zu machen. Dann bemerkte ich diesen … Holzgeruch. Etwas brannte. Ich wusste, dass es in dieser Richtung keine Häuser geben sollte, aber ich begann, diesem Rauchgeruch zu folgen. Und ich kam zu dieser Ruine. Da war ein Schornstein. Ein altes Stein…«
»Hat da etwas gebrannt? Als wir hier ankamen …«
»Nein, da war gar nichts. Der Geruch wurde wahrscheinlich aus einer anderen Richtung herangetragen. Ich machte also noch ein paar Fotos und wollte dann weitergehen, dem Grundstücksrand folgen und wieder nach Hause kommen. Aber … Ich konnte meine Fußabdrücke nicht mehr sehen. Sie hätten überall sein müssen, ich bin ja nur herumgelatscht. Ich dachte … vielleicht war es windig und der Wind hat die Spuren verweht. Aber … so viel Wind hätte ich ja gespürt. Es hätte lange gedauert, all diese Spuren zu verwischen …«
Für Orla fühlte es sich an, als würde eine unter Strom stehende Nadel in ihre Kopfhaut stechen; die Haare auf ihrem Schädel stellten sich auf. Der elektrische Impuls fuhr ihre Arme hinunter, und sie zog die Schultern hoch, ihr ganzer Körper verkrampfte sich als Reaktion auf die Anwesenheit des Verkehrten.
»Irgendetwas stimmt da draußen nicht.« Sie stieß die Worte hervor, bevor sie überhaupt nachdenken konnte. Schierer Instinkt.
Er zuckte die Achseln. »Ich bin nur … Vielleicht bin ich mehr aus der Übung, als ich dachte.«
Orla vermutete, dass Shaw sie beruhigen wollte. So etwas sagte man, wenn jemand eine verrückte Vermutung äußerte, zumal sie wie eine lauwarme, schlecht geschriebene Figur in einem Horrorfilm klang. Vielleicht überreagierte sie auf alles, war hier einfach zu fremd und wurde von ihrer eigenen Fantasie erschreckt.
»Und es war so seltsam, denn ich hätte mich doch an der großen Kiefer orientieren können müssen, so wie man sich früher an den Türmen des World Trade Centers orientieren konnte, nach Norden und Süden. Aber … Ich konnte sie nicht sehen … Also guckte ich auf meinen Kompass, aber der war eingefroren.«
»Hat er funktioniert, bevor du losgegangen bist?« Eine vom Alkohol angefeuerte Paranoia machte sich breit, oder etwas noch Lächerlicheres. Vielleicht war ein Raumschiff auf dem Land vergraben oder ein alter Meteor, der Magnetismus und Wetter durcheinanderbrachte, und … Alles, was sie über das Überleben in der Wildnis wusste, stammte aus Filmen, die sie mit Shaw gesehen hatte. Und wenn das eher Horrorfilme waren, oder kitschige Schwarz-Weiß-Science-Fiction-Streifen, dann war das Shaws Schuld, weil er einen so verdrehten Filmgeschmack hatte. Und seine Geschichte war nicht hilfreich. Vielleicht war es ihm peinlich und er hatte Angst, dass sie sich tatsächlich übernommen hatten. Er war noch nie der Anführertyp gewesen, und nun konnte er sich nicht einmal in seinem eigenen Garten zurechtfinden.
»Ich hab ihn nicht überprüft, bevor ich ging, ich nahm einfach an …«
»Du musst vorsichtiger sein.« Sie nahm einen Schluck des süßen Whiskeys, in der Hoffnung, die unförmige Pille ihrer Wut hinunterzuschlucken.
»Ich weiß, ich bin nur … Es ist schon eine Weile her.«
Vielleicht hatte der Kompass also nie funktioniert. Und vielleicht hatte der Wind wirklich Shaws Fußspuren verwischt. Und vielleicht fühlten sich beide unter Druck, weil sie kein Internet hatten, weil alles Vertraute weit weg war, weil alle darauf vertrauten, dass sie wussten, was sie taten. Niemand hatte gesagt: Seid ihr euch da wirklich sicher? Im Gegenteil, alle ihre Freunde und sogar Orlas Eltern hielten den Umzug für beneidenswert, die Erfüllung eines Traums. Entschleunigung. Vereinfachung. Alle hatten davon geschwärmt, wie toll es sein würde, die Naturwunder direkt vor ihrem Fenster zu sehen. Denn Shaw war ja von dort. Er wusste, was er tat .
»Ich bin wohl in Panik geraten. Ich bin im Kreis gelaufen wie ein Idiot … Vielleicht hatte ich nur Angst vor mir selbst, vor dem, was ich unserer Familie angetan habe. Und was, wenn es den Kindern nicht gefällt, was, wenn es dir nicht gefällt? Und da lief ich nun also im Kreis herum wie ein Arschloch, das im Kreis herumläuft …«
»Hör auf, Baby. Bitte sprich nicht so über dich. Du hattest Angst, und genau wie ich schon zu Eleanor Queen sagte, du darfst Angst haben. Es kann ja gar nicht so sein wie damals, als du ein Kind warst: Du bist kein Kind mehr, und wir tragen Verantwortung, aber es ist unsere Verantwortung. Wir haben sie uns ausgesucht. Du bist kein …«
Sie erstarrte, als Shaw mit einem Satz vom Sofa aufsprang. Zuerst dachte sie, er sei über etwas verärgert oder wolle sich vor dem Gespräch drücken. Aber dann fiel ihr der Ausdruck in seinem Gesicht auf. Wachsam. Ängstlich. Suchend. Hatte eines der Kinder im Schlaf geschrien? Aber sie hörte nichts – weder von oben noch von sonst wo. Auf ihren Armen breitete sich erneut eine Gänsehaut aus. »Was ist denn?«
Seine Haltung, seine Konzentration, die Neigung seines Kopfes – genau wie bei Eleanor Queen – deuteten darauf hin, dass er einem Geräusch nachspürte. Einem Geräusch, das sie noch immer nicht hören konnte.
»Shaw?«
Er ging auf die Eingangstür zu, drehte sich dann abrupt um und ging ein paar Schritte in Richtung Küche. Genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war, verschwand sein intensiv-aufmerksamer Blick und seine Schultern entspannten sich. Erschrocken fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare und ließ sich zurück auf das Sofa fallen.
»Was war denn?« Etwas schien unter ihrer Haut zu krabbeln.
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, ich hätte etwas gehört … etwas gehört. Ist ja auch egal.« Er rückte zur Kante vor und hob die Flasche American Honey hoch.
Orla schob ihr Glas neben seins, und er schüttete den goldenen Alkohol in beide. Ihr Herz schlug warnend, als sie ihn hinunterkippte. Aber Shaw lehnte sich wieder zurück, bereit, dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatten. Die Falten um seine Augen wirkten ausgeprägter als noch kurz zuvor. Er brauchte eine gute Mütze Schlaf.
»Warum lassen wir’s nicht …« Sie wollte ihn ins Bett locken, aber er vibrierte geradezu vor Energie, obwohl er so erschöpft aussah. Seine Finger klopften eine Nachricht gegen sein Glas, und sie fühlte sich an Morsezeichen erinnert.
»Ich möchte, dass du weißt«, sagte er, »dass ich mich eingehender über die Gegend informiert habe, denn als wir zum ersten Mal St. Armand, North Elba und Harrietstown besuchten, hatten wir diese Ecke noch nicht ernsthaft als unser Ziel in Betracht gezogen. Es gibt nicht nur die Touristen; im Dorf leben das ganze Jahr über viele kreative Menschen, und es gibt mindestens einen Ort, ein Community Arts Center, an dem ich vielleicht unterrichten könnte. Ich habe vor einiger Zeit eine E-Mail an sie geschickt, um mich über unsere Möglichkeiten zu informieren. Ich könnte Zeichnen oder Malen oder digitale Fotografie unterrichten – oder Gitarre. Ich werde nicht zulassen, dass uns das Geld ausgeht.«
»Ich weiß das zu schätzen, aber das ist nicht das, was ich für dich möchte. Ich habe die Fortschritte gesehen, die du im letzten Jahr gemacht hast, und noch mehr in den letzten Monaten. Ich möchte, dass du diese Zeit nutzen kannst; es ist deine Zeit. Wir haben Ressourcen, von denen wir leben können …«
»Aber nur für den Fall. Und unsere Ersparnisse werden nicht ewig reichen. Das wäre also eine Möglichkeit. Vielleicht kannst du dort sogar Ballett unterrichten.«
Orla setzte sich ein wenig aufrechter hin, als ob allein der Gedanke, etwas mit Tanzen zu tun zu haben, eine bessere Haltung erforderte. Ihr Körper fühlte sich so leicht an wie seit Wochen nicht mehr. »Das würde mir gefallen. Das wäre ein toller Nebenjob.« Sie hatte Ballettunterricht nicht als Möglichkeit in Erwägung gezogen, nicht in der Wildnis. Als sie ihre eigenen zusätzlichen Nachforschungen angestellt hatte, war ihr Blick nicht über die Leere und die Einschränkungen hinausgegangen. Alles war weiter weg, als sie es gewohnt war, aber das bedeutete nicht automatisch, dass es keine Zivilisation gab. Keine Menschen und keine Versammlungsorte, die sie anlockten. Die Zukunft erschien ihr plötzlich weniger fremd, weniger abstrakt. Sogar vielversprechend.
»Wenn wir das, was wir haben, mit Teilzeitjobs unterfüttern können, ist das immer noch kreative …«
»Ich möchte, dass du dich auf deine Arbeit konzentrieren kannst«, sagte sie. Aber der Gedanke war beruhigend.
»Das werde ich. Das tue ich. Dieses neue Bild …« Er vibrierte fast vor Aufregung. »Ich schwöre, ich wollte die Kinder nicht erschrecken, aber dieser Ort … zwischen meinen Träumen und dem, was wirklich hier ist, was ich sehe … Komm, sieh es dir an!« Abrupt nahm er ihr das Glas aus der Hand, stellte es mit seinem auf den Boden und ergriff ihre Hand.
Endlich konnte sie kichern, als er sie dann in sein Atelier führte. Wie oft hatte er sie gebeten, sich sein neues Gedicht oder Lied anzuhören oder sich das neue Ding anzusehen, das er gemacht hatte? Dies war ihr vertraut. Dies war ein Stück Heimat, das sich nie ändern würde.
Er hatte die auf billigem Kopierpapier ausgedruckten Fotos mit Klebeband an die Wand neben seiner Staffelei gepappt. Die Leinwand zeigte eine grobe Skizze von Bäumen mit breiten Streifen Himmel, die durchschienen.
»Ich weiß, dass man noch nicht viel erkennen kann, aber die Äste, die Gliedmaßen, sie werden am Ende miteinander verschmolzen sein, von einem Baum zum anderen, als wäre es ein einziger Organismus. Und es wird diese Details in der Rinde geben, fast wie in der menschlichen Anatomie, die ein Gefühl für das Nervensystem und die Muskulatur vermitteln, aber sehr subtil, man muss also genau hinsehen. Und dann unter der Erde … Das ist alles nur meine Fantasie, weil ich es natürlich nicht sehen kann, aber die Wurzeln werden aussehen wie … Ich habe mich noch nicht ganz entschieden. Vielleicht menschliche Arme und Hände …«
»O Gott, das ist unheimlich.«
»Nein, nein, ich will nicht, dass es unheimlich ist. Ich möchte vermitteln, dass es diese … Intelligenz unter der Erde gibt. Eine Gemeinschaft. Unter den Wurzeln. Und wie andere Dinge mit ihr interagieren. Also dachte ich, wenn ich die Wurzeln mit menschlichen Händen darstelle … Also, es könnte ein Kaninchennest geben, und eines der Kaninchen schläft in der Fläche einer Hand. So etwas.«
»Oh … Ah.« Das Begreifen kam als zwei Silben heraus. »Also eher fürsorglich.«
»Genau. Bäume arbeiten zusammen. Und sie leisten auch viel für den umliegenden Lebensraum. Ich wollte diese Idee der Verbundenheit vermitteln. Der Symbiose.«
Orla fiel eines der anderen ausgedruckten Bilder ins Auge, und sie ging näher heran, um es besser sehen zu können. »Ist das der Schornstein, den du entdeckt hast?«
»Ist der nicht cool?« Irgendwie schaffte er es, noch aufgeregter zu klingen, als er es bei der Beschreibung seiner Arbeit war. »Ich schätze, er muss wirklich alt sein. Unsere ganz eigene Ruine! Die Belohnung dafür, dass ich mich verlaufen habe.«
Sie betrachtete den Steinhaufen, konnte sich aber nicht erklären, warum Shaw so verliebt in ihn war. »Gab es dort also ein Haus?«
»Vielleicht. Vor 100 Jahren stand dort irgendein Bauwerk. Im Frühjahr, wenn wir die Einzelheiten besser sehen können, werden wir vielleicht besser erkennen, was es war.«
»Interessant.« Vor 100 Jahren war die Gegend noch abgelegener gewesen, doch jemand hatte sich damals entschieden, bei so viel frei verfügbarem Land ein Haus nicht weit von ihrem zu bauen. Hatte diese Person etwas über diesen Ort gewusst, das ihn besonders machte? Oder war sie vielleicht einfach nur empfänglicher für eine Schönheit, die Orla noch nicht zu schätzen wusste?
Sie dachte weiter über die tröstliche Vorstellung einer ehemaligen Nachbarin, eines Nachbarn nach, während sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die skizzierten Linien und Pinselstriche auf Shaws Leinwand richtete. Er hatte eine solche Vision vor Augen, und das beeindruckte sie. »Deine Klarheit. Zielgerichtet, mit einem Gefühl dafür, was dieses Ziel ist.« Shaw strahlte. »Wer sind Sie und was haben Sie mit meinem Mann gemacht?«
Sie lachten gemeinsam und sie schlang ihre Arme um ihn.
Er blickte auf sein unvollendetes Gemälde. »Ich weiß, dass die Leute lange Zeit dachten, ich hätte so viel Zeit und Geld für all diese Kurse, Bücher und Materialien verschwendet … Aber jetzt bin ich bereit, und es kommt alles zusammen, es ergibt einen Sinn.«
»Ich bin unheimlich stolz auf dich. Ich will, dass du das weißt. So viele Menschen schmeißen hin, geben auf. Aber du wusstest, dass du etwas in dir hast, dass du etwas zu sagen hast, eine Vision, und du hast so lange gearbeitet, bis du sie direkt vor Augen hattest.«
»Ich habe all die Dinge gebraucht, die ich getan habe, um an diesen Punkt zu gelangen.«
»Ich weiß.«
Er wandte sich ihr zu, die Hände auf ihrer Taille, ein wahnsinnig zufriedenes Grinsen im Gesicht. »Ich liebe dich so sehr, Orlie.«
»Ich liebe dich auch – und ich verspreche dir, dass ich all diese Neuerungen annehmen werde. Ich will das auch – für dich, für uns alle.«
Seine Batterie lief schließlich doch leer, und sie küsste seinen hängenden Kopf, bevor sie ihn zurück ins Wohnzimmer und zum Sofa führte. Ein Lächeln verweilte auf seinem Gesicht, als er sich hinlegte und seine Wange auf ihren Schoß bettete. Sie streichelte sein Haar, und sie blieben eine Weile so und genossen die Stille. Der Lärm der Stadt war so allgegenwärtig gewesen, dass sie ihn kaum wahrgenommen hatte. Aber hier – so hörte sich Stille an. Das leise Anrauschen des anspringenden Ofens. Das gelegentliche Summen des Kühlschranks. Sie grinsten gleichzeitig als Reaktion auf einen leichten Schlag über ihren Köpfen, dessen Ursprungs sie sicher waren: eines von Tychos Spielzeugen, das ihm im Schlaf aus der Hand und auf den Boden fiel. Morgens fanden sie immer Spielzeug neben seinem Bett.
Ich könnte mich daran gewöhnen .
Sie sprach es nicht laut aus, weil ein anderer Gedanke diesen begleitete. Auf eine Art glaubte er, dass die Bäume miteinander kommunizierten – was nicht bedeuten musste, dass er glaubte, sie flüsterten ihm Ideen zu. Vielleicht meinte er nur, dass sie miteinander redeten. Er hatte noch nie auf diese Weise über die Natur gesprochen, aber sie verstand, dass der künstlerische Prozess von den Menschen verlangte, sich zu öffnen . Hinzusehen und zuzuhören. Neue Schlüsse über die Welt zu ziehen. Das machte sie nachdenklich …
Ihr Mann war wie ihre Tochter hochsensibel, und sie zweifelte nicht an seiner Fähigkeit, Dinge zu erkennen, die andere Menschen nicht wahrnahmen. Vor allem wenn er sich in diesem Zustand der kreativen Blüte befand. Konnte ein Ort tatsächlich nach jemandem rufen, wie eine Art Einladung?
Dieser Gedanke erschreckte sie nicht, sondern brachte sie zum Lächeln. Es würde bedeuten, dass sie hier erwünscht waren. Und das war ermutigend; sie würde sich vielleicht nicht immer wie die stümperhafte Fremde fühlen. Sie würde ihren Weg finden und eines Tages ein echtes Gefühl der Zugehörigkeit verspüren.