10
Der Samstag begann und endete mit bunten Regenbogen. Orla sah sie zum ersten Mal am Morgen, als sie auf der Toilette saß. Eigentlich sah sie nur die Reflexion auf der Wand: Als die Sonne durch das Milchglasfenster schien, überzog das Muster einen kleinen Teil der Wand mit bunten Punkten. Sie betrachtete es versonnen und war versucht, Shaw oder die Kinder hereinzurufen, um sich das anzusehen. Flecken von gebrochenem Licht, winzig wie Glitter.
An diesem Abend blieb Shaw nach dem Abendessen in der Küche, um das Geschirr abzuwaschen, und Orla ging nach oben, um die letzten Mini-Jalousien für das Schlafzimmer aufzuhängen. Die einfachen Vorhänge würde sie an einem anderen Tag aufhängen; die waren eher ein schönes Accessoire als eine Notwendigkeit. Shaw glaubte nicht einmal, dass sie die Jalousien brauchten, da die Nächte dunkel waren und es keine Straßenlaternen gab. Aber Orla sah die längeren Tage voraus – auch wenn das noch Monate dauern mochte –, an denen die Sonne hereindrängen würde, um auf ihre Augen herabzubrennen, bevor sie bereit waren aufzuwachen. Und es gefiel ihr immer noch nicht, dass jemand sie beobachten könnte. Selbst wenn theoretisch niemand da draußen war.
Die Kinderzimmer hatte sie schon früher am Tag gemacht, mit Tycho, ihrem hilfreichen Assistenten, dem ständig die Schrauben auf den Boden fielen. Allein würde sie nur einen Bruchteil der Zeit brauchen, um das letzte Fenster in ihrem und Shaws Schlafzimmer fertigzustellen. Danach würde sie sehen, ob sie die Kinder vom Fernseher weglocken konnte, deren Sucht so schnell wieder entflammt war.
Der Tritthocker quietschte auf dem Holzboden, als sie ihn vor dem großen Fenster des Elternschlafzimmers in Stellung brachte. Auf der mittleren Stufe, die Bohrmaschine in der Hand, wollte sie gerade anfangen, als draußen etwas in ihrem Blickfeld aufblitzte. Sie keuchte und musste sich am Fensterrahmen festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als sie fast rückwärts ins Leere trat. Sie sprang vom Hocker, warf den Bohrer auf das Bett und rannte aus dem Zimmer.
»Shaw? Eleanor Queen? Tycho? Zieht eure Stiefel an!«, rief sie, während sie die Treppe hinuntersprintete.
Die Kinder betrachteten Orla mit diesem leeren, glotzenden Fernsehausdruck, als sie an ihnen vorbei- und zu ihrer neuen Schuhablage eilte, über der ihre Mäntel ordentlich an den Haken hingen. »Kommt schon! Alle! Stiefel, Mäntel!«
»Haben wir eine Feuerübung?«, fragte Eleanor Queen.
»Du wirst sehen, komm schon.«
Die Kinder sprangen auf, schlossen sich ihr an und steckten ihre Füße in die Stiefel.
»Shaw?«
Er spähte aus der Küchentür. »Was ist los?«
»Komm mit! Draußen, das musst du dir ansehen.«
»Bin in einer Sekunde da.« Er wischte sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab.
Orla schloss den Reißverschluss von Tychos Jacke und setzte sich selbst eine Mütze auf. Als die Kinder ausreichend eingepackt waren, öffnete sie die Haustür und schob sie hinaus. Sie führte sie an den Rand der Veranda und beobachtete, wie ihre Gesichter aufleuchteten, als sie in den Himmel blickten.
»Wow!« Eleanor Queen klang ehrfürchtig und ihre Augen wurden so rund wie der Mond in der vergangenen Woche.
»Ist das nicht erstaunlich?« Orla konnte ihre Begeisterung kaum unterdrücken. Sie hatte sich immer gewünscht, die Polarlichter zu sehen – und hier waren sie, in ihrem Vorgarten. Grüne und blaugrüne Bänder, violette und rosafarbene Flecken. Die Farben wogten wie im Tanz.
»Was ist das, Mama?«, fragte Tycho.
»Die Aurora borealis, die Nordlichter. Sind sie nicht wunderschön?«
Sie sah das Grün wie ein Glitzern in seinen Augen gespiegelt, aber Tycho wirkte eher perplex als beeindruckt. Eleanor Queen hingegen …
»Es ist … Wow. Alle meine Lieblingsfarben!« Sie streckte die Hand aus, als ob sie das Licht berühren könnte, und die tanzenden Farben schienen zu reagieren und sich auf die unsichtbare Spitze ihres Fingers zuzubewegen. Orla keuchte beim Anblick dieser Illusion, bevor sie vor Freude aufheulte, und selbst der verblüffte Tycho kicherte und deutete mit dem Finger in den Himmel hinauf, um den Trick selbst auszuprobieren.
»Was macht ihr denn hier draußen so einen Aufstand?« Shaw zog seinen Mantel an, als er auf die Veranda trat.
»Sieh doch nur! Davon hast du mir nichts gesagt!« Orla grinste in den Himmel über ihnen.
Shaw trat an ihre Seite, verschränkte seine warmen Finger mit ihren kalten. Er blickte nach oben. Die Lichter vollführten ihre kosmischen Tricks, schwankten und wogten. Aber sein Gesicht verzog sich nicht vor Staunen oder Ehrfurcht. Orla wollte gerade etwas über die Jungs in der Familie murmeln, über ihre mangelnde Wertschätzung für etwas, für das Menschen sehr weit reisten, um es einmal in ihrem Leben zu Gesicht zu bekommen.
Stattdessen fragte sie: »Findest du es nicht schön?«
»Natürlich. Aber … was tut es hier?«
»Was meinst du?«
»Wir sind zu weit im Süden, hier gibt es keine Nordlichter. Ich meine, einen Schimmer davon vielleicht, unter den richtigen Umständen, aber nicht so . Man muss in der Nähe eines magnetischen Pols sein, wie in der Arktis, in Alaska oder Skandinavien, um es so zu sehen. Und es wäre in der Vorhersage erwähnt worden.«
Er klang beinahe wütend. Orlas gute Gefühle begannen ihr zu entgleiten, tropften ihre Arme hinunter und sammelten sich im Schnee unter ihren Fingerspitzen. Der Schneesturm war erst eine Woche her; sie hatte die Schreie ihrer Kinder nicht vergessen und auch nicht, dass Shaw wie ein Geist auf ihrem Grundstück im Kreis herumgeirrt war, unfähig, den Weg nach Hause zu finden. Und seitdem gab es, wenn auch nicht jeden Tag, die anderen Dinge, die vielleicht nicht möglich waren und die sie deswegen in ihrem Kopf verdrängt hatte.
»Man kann sie auch am Südpol sehen«, sagte Eleanor Queen. »Aber dann nennt man sie Südlichter.«
»Das ist richtig. Aurora australis«, dozierte Shaw. »Aber trotzdem. Von der Antarktis sind wir ja noch weiter entfernt.«
Orla wollte ihm gegen den Arm boxen, um ihn aus seiner seltsamen Stimmung zu reißen. Er beobachtete den Himmel mit Argusaugen, wie ein Wanderer, der darauf wartet, dass sich eine Giftschlange vor ihm über den Weg schlängelt. Aber die trotzigen Lichter spielten weiter ihre Show ab.
»Hast du für den Unterricht etwas über die Aurora australis gelesen?«, fragte Orla Eleanor Queen, beeindruckt von ihrem Wissen.
»Nein, das stand in einem von Dereks Büchern.«
Eleanor Queen hatte in der Stadt nie großes Interesse am Wetter oder an der Astronomie gezeigt; Orla spürte eine erneute Dankbarkeit, dass ihre Kinder Zeit mit ihren Cousins verbringen durften; vielleicht hatte es ihnen den Übergang zum Leben auf dem Land mehr erleichtert, als ihr bewusst war.
»Das ist eine gute Idee«, sagte Shaw, als er seine Erstarrung abschüttelte, sein Kommentar rätselhaft, weil er so in der Luft hing. Er griff in seine Tasche und zog sein Handy hervor.
»Was machst du da?«, fragte Orla.
»Ich rufe Walker an. Mal sehen, ob sie das bei sich auch sehen.«
Er brauchte eine rationale Erklärung, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Sie hatten nicht mehr über seinen Schreck am vergangenen Samstag gesprochen, aber keiner von ihnen hatte sich seither wohl genug gefühlt, um mit den Kindern auf Entdeckungsreise zu gehen. Orla war die ganze Woche über von seiner Disziplin beeindruckt gewesen, von den Stunden, die er in seinem Atelier verbrachte, von den vielen Gemälden, die sich in verschiedenen Stadien der Fertigstellung befanden. Er hatte eine zweite Staffelei bestellt, die am Montag geliefert werden sollte; im Moment standen die Leinwände wie am Fließband im Raum verteilt. Aber vielleicht war seine Serie doch nicht sein einziger Grund gewesen, die ganze Zeit drinnen zu bleiben. Vielleicht hatte er Angst, nach draußen zu gehen. Es war offensichtlich, dass er den Lichtertanz nicht schätzte, ihn vielleicht sogar fürchtete. Sie war froh, als die Kinder in den Hof hinabsprangen, kicherten und ihre Hände voll Schnee hochwarfen; sie würden Shaws Gespräch mit seinem Bruder, seine Sorge und seine Zweifel nicht mitbekommen.
»Hey, ich bin’s«, sagte er ins Telefon. »Nichts, ich stehe nur draußen und sehe in den Himmel. Was macht ihr denn so? Hey, also ich will euch nicht aufhalten, ich wollte nur sehen … Habt ihr ungewöhnliche Lichter? Farben am Himmel?«
Es gab eine längere Pause, und Orla stellte sich vor, wie Walker von seiner Arbeit aufstand und zum nächsten Fenster ging, um den Vorhang zurückzuziehen und hinauszuspähen.
»Bist du sicher? … Nein, ich habe mich nur gefragt – hat uns an die Nordlichter erinnert, und die Vorhersage hatte nichts dergleichen erwähnt, das ist alles … Okay, ja. Und irgendwann besorgen wir uns dann auch einen richtigen Tisch und laden euch ein … Okay, bis bald.«
Er steckte das Telefon zurück in seine Tasche. »Nee. Dort sieht man nichts.«
»Nun, vielleicht ist es ein regionales Phänomen.« Sie wollte nicht, dass er etwas so Schönes ruinierte. Es war ihr egal, ob die Lichter nicht da sein sollten. Sie hatte sie immer sehen wollen. Sie waren ein Himmelsgeschenk.
»Der Himmel ist nicht regional.« Er klang immer noch verärgert.
»Vielleicht liegt es an der globalen Erwärmung, oder …«
»Daran ist gar nichts global.«
Eine Zeit lang standen sie Schulter an Schulter, aber Shaw wollte sich nicht entspannen und das kosmische Schauspiel genießen.
»Es ist nichts, Shaw. Reg dich nicht so auf.«
»Ich möchte wissen, wie das möglich ist. Und letzte Woche. Und …«
»Was glaubst du denn, was es ist? Eine Erscheinung? Ein Gespenst?«
»Was?«
Sie wollte den Moment nicht ruinieren. Sie wollte glauben, was Shaw versprochen, aber vielleicht nicht so wörtlich gemeint hatte: dass sie in ihrer Umgebung, in dieser wilden Natur Magie finden würden. Aber die merkwürdigen Vorkommnisse häuften sich langsam.
»Das ist nicht die erste Erscheinung, die ich sehe«, sagte sie mit leiser Stimme. Im Hof klatschten die Kinder Schneebrocken auf den Drachen, um seinem Rücken Rillen zu verleihen.
»Was sagst du da?« Er drehte sich zu ihr um; seine Augen blickten wachsam und alarmiert.
Orla wollte es am liebsten zurücknehmen und stattdessen von Wundern plappern, aber sie würden hier nie klarkommen, wenn sie nicht miteinander kommunizierten, und sie hatte schon genug zurückgehalten.
»Ich habe ein paar Dinge gesehen, das ist alles. Dinge, die ich nicht erklären kann. Nichts Schlimmes, nicht wie an dem Tag mit dem Whiteout. Ich versuche nur, mir einen Reim darauf zu machen. Ist es besser, wenn diese Lichter wirklich hier sind? Nur hier, wo niemand sonst sie sehen kann? Oder wäre es besser, wenn sie gar nicht da sind, wir sie aber trotzdem sehen?«
War eine kollektive Familienhalluzination weniger schlimm als eine individuelle?
In Shaws Gesicht zeichnete sich die Anspannung ab, als er über ihre Worte nachdachte. Ein Muskel an seinem Kiefer knackte und er nickte.
»Nein. Du könntest recht haben.«
Doch anstatt zu erklären, worin er ihr zustimmte oder was es bedeutete, rief er die Kinder mit eindringlicher Stimme, so als ob eine Bedrohung vorläge: »Bean, Tigger, lasst uns wieder reingehen. Kommt, machen wir euch bettfertig.«
Sie stapften durch den Schnee und auf die Veranda, wo Shaw ihnen half, den Schnee von ihren Hosenbeinen zu klopfen.
Vielleicht gab es Wunder, die keiner von ihnen verstand. Mutter Natur könnte Tricks in petto haben, von denen Neuankömmlinge wie sie nichts wussten. Die Schneewalzen, so erinnerte sie sich, waren ein natürliches Phänomen. Aber Shaw wartete nicht, um darüber zu diskutieren. Er schickte die Kinder ins Haus und folgte ihnen, während Orla mit ihren Gedanken allein blieb wie mit Teilen aus verschiedenen Puzzles, die sich nicht zusammenfügen ließen.
Natürliches Phänomen. Natürliches Phänomen .
Sie ließ die Worte in ihrem Mund kreisen, bis sie sich wie eine Geheimsprache anfühlten.
Diese neue Welt war fremd und seltsam, aber war es nicht das, was sie gewollt hatten? Aus ihrer Stadtblase hinauszukommen und neue Erfahrungen zu machen? Sie wollte, wollte sogar verzweifelt gern, all den Dingen trauen, die sie im Ungewissen ließen, wollte daran glauben, dass der Umzug, das neue Zuhause eine gute Entscheidung war. Auch wenn das bedeutete, Paradoxien zu untersuchen und Anomalien anzuerkennen, die in ihrem Stadtleben nicht relevant gewesen waren.
»Es könnte Wunder geben«, sagte sie zu sich selbst. Und nach einem Leben voller lebhafter Träume, die sie immer wieder an den Grundlagen des Bewusstseins zweifeln ließen, konnte sie die Möglichkeit einer höheren Macht nicht ausschließen: einer Macht, die nicht verpflichtet war, ihr jeden ihrer Schritte zu erklären. Mutter Natur, Gaia … Diese weiblichen, irdischen oder himmlischen Energien erschienen ihr plausibler als die männlichen Gottheiten, die organisierte Religionen stützten.
An diesem neuen Ort musste sie sich auf neue Möglichkeiten einlassen, und sei es nur, um die natürliche Welt zu entdecken, über die sie bisher nicht viel nachgedacht hatte.
Orla war bereit, die Möglichkeit von Unerklärlichem, von Geheimnissen zu akzeptieren, vor allem wenn sie sich in solcher Schönheit manifestierten. Der Himmel tanzte. Sie hatte gewollt, dass ihre Familie ihn bestaunte, dass sie sich daran erfreute, aber vielleicht war dieser Tanz, dieser Moment, nur für sie bestimmt. Sie war nie ein religiöser Mensch gewesen, aber sie spürte überall um sich herum etwas Allmächtiges, das sie nicht erklären konnte. Das ist es, was die Menschen zur Natur hinzieht . Sie spürte es in ihren Knochen, der Sternenstaub ihrer Zellen erkannte den Sternenstaub ihrer Vorfahren. Und wer war sie schon; nur ein Staubkorn in der Weite des Universums. Es war wichtig, ehrfürchtig zu sein, dankbar, nicht bloß ängstlich, wenn sie Zeugnis von einer heiligen Macht ablegte.
Deshalb sind wir hergekommen . Langsam ergab es einen Sinn, dass Shaw den Drang zur Rückkehr in die Wildnis verspürt hatte.
Was für ein erstaunlicher Ort. Ein Ort, den man nicht unterschätzen sollte. Ein Ort, der das Unmögliche neu definierte; vielleicht war ihre Vorstellungskraft doch begrenzter, als sie je gedacht hatte.
Als ihr die Kälte bis in die Zehen drang, drehte sie sich um und ging zurück ins Haus. Sie sagte sich immer wieder: Es ist gut, es ist gut, es ist gut . Und sie hoffte, dass sie nicht einfach nur versuchte, alles rational zu erklären, sich das einredete und ihre Intuition ignorierte.
Als Shaw nicht ins Bett kam, schlich Orla hinunter in sein Atelier. Der Ofen war für die Nacht heruntergefahren und die Dielen waren kalt unter ihren nackten Füßen. Sie hatte stundenlang über ihre Situation nachgedacht. Sie fühlte sich beinahe genial, und sie wollte seine Anerkennung dafür, dass sie sowohl eine rationale Erklärung als auch eine Lösung für etwas gefunden hatte, das jenseits ihrer Alltagserfahrung lag.
Sie klopfte sacht an seine Tür, bevor sie sie öffnete. Er beachtete sie nicht, als sie im Türrahmen stand; er blieb vor seiner Staffelei stehen und machte schnelle Striche mit einem dünnen Pinsel. Aus diesem Blickwinkel sah er … anders aus. Stämmig. Er brauchte eine Rasur. Er hatte beinahe etwas Werwolfartiges an sich, als würde er zunehmend so widerspenstig werden wie das Land, das sie umgab. Der grimmige, jenseitige Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sie fantasieren, dass er nicht malte, sondern eine Sektion vornahm.
Neugierig, wie sich seine Arbeit entwickelte, kam sie geräuschlos näher. Es war ein weiterer Baum, der in dunklen Farben gemalt war. Er hatte etwas Morbides – und das Gemälde besaß jetzt schon subtile Details, die sie anzogen, bis sie praktisch neben ihm stand. Der Baum verzweigte sich in ein Y, und in seinem Stamm … war eine menschliche Gestalt zu erkennen, eine geteilte Figur mit zwei Oberkörpern, aber nur einem Satz Beine. Es erinnerte sie an siamesische Zwillinge und dann – sie keuchte auf – an das Mischwesen, das sie im Schnee gesehen hatte.
Neben dem Baum befand sich etwas viel weniger Schauriges: eine Hütte. Er war noch nicht zu den feineren Details gekommen, aber sie erkannte den steinernen Rauchfang. Das Bild hatte denselben Blickwinkel wie der Foto-Ausdruck an der Wand, nur dass Shaw nicht die jungen Bäume gemalt hatte, die heute neben der Ruine wuchsen, sondern das Gebäude, das einst dort gestanden haben könnte.
Ein anerkennender Laut kam über ihre Lippen, als ihr auffiel, wie schön die Proportionen getroffen waren.
Er zuckte zusammen und stieß einen kleinen Laut der Überraschung aus. »Hey.«
»Das sieht wirklich … richtig aus. So passt es perfekt zu dem Schornstein.«
Es war, als wäre er aus einer Trance erwacht, und nun blickte er wach auf seine Leinwand. Ein Lächeln ließ seine Züge weicher wirken. »Ich würde gern die Lorbeeren ernten, aber ich habe mich im Internet ein wenig umgesehen. Architektonische Stile der Region und der Zeit – natürlich ist es auch ein wenig Spekulation. Aber es könnte ziemlich nahe dran sein.« Er rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und hinterließ graue Flecken in seiner Augenbraue. »Wie spät ist es?«
»Fast 1:30 Uhr.«
»Oje! Tut mir leid.«
»Nein, ich wollte dich auch nicht unterbrechen, aber ich hatte eine Idee.«
»Für ein Gemälde?«
Die Frage verwirrte sie für einen Moment. »Nein. Eine Erklärung für die seltsamen … Dinge.«
»Oh.« Er legte den Pinsel weg und nahm das alte Geschirrtuch zur Hand, das über dem Stuhl mit der Leiterlehne aus dem Secondhand-Laden hing, der jetzt als Ablage für seine Sachen diente. Er schrubbte sich die Hände damit.
»Weißt du noch, als wir vor all den Jahren ausprobiert haben, Gras zu rauchen, und ich nach ein paarmal diesen Schreckmoment hatte?«
»Als du halluziniert hast?«
»Ganz genau. Das war eine chemische Störung in meinem Gehirn. Und oben im Bett habe ich angefangen nachzudenken … Wir haben das Brunnenwasser nicht überprüfen lassen.« Es machte so viel Sinn für sie, aber sein Gesicht blieb starr und verwirrt. »Okay, also der Reihe nach. In den Nachrichten ist momentan viel von Fracking die Rede, aber das muss es nicht sein. Brunnenwasser wird auch durch Bohrungen und Chemikalien verunreinigt. Und was wäre, wenn das mit unserem Wasser passiert ist? Wir haben keine Ahnung, was dadrin ist, aber vielleicht ist da irgendein Schadstoff drin und deswegen …«
»Halluzinieren wir. Interessante Theorie, Orlie.« Sein Kopf wippte nickend, und sie konnte fast sehen, wie er im Kopf die Optionen durchging.
»Wir können jemanden anrufen, der es testet, und in der Zwischenzeit können wir alles abkochen oder Wasser in Flaschen zum Trinken kaufen und sehen, ob diese seltsamen Visionen oder was auch immer aufhören. Vielleicht stehen wir die Hälfte der Zeit unter dem Einfluss von … irgendwas … und merken es nicht einmal.«
Shaw nickte jetzt noch enthusiastischer. »Ja … Ja, das ist eine gute Idee.« Er packte ihre Oberarme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.
In diesem Moment wurde Orla erst klar, wie besorgt er gewesen war und wie sehr er seine aufgewühlten Gefühle vor ihr verborgen hatte. Aber jetzt verspürte sie keinerlei Befriedigung mehr über ihren Geistesblitz mit dem Wasser. Er mochte es Inspiration nennen oder auch Rücksichtnahme, dass er drinnen blieb und sie nicht allein ließ, aber es war offensichtlicher denn je: Er versteckte sich in seinem Atelier; er fühlte sich hier draußen in der Wildnis doch nicht ganz wohl. Vielleicht war er am Ende tatsächlich der Stadtjunge, den sie immer gekannt hatte. Oder vielleicht hatte auch er unerklärliche Dinge gesehen oder gehört. Sie war sich nicht sicher, welche Möglichkeit schlimmer war: dass sie sich gegenseitig die Wahrheit nicht mehr zutrauten oder dass sie beide an ihrem Verstand zweifelten.