11

Normalerweise steckte der Postbote die Post einfach in ihren Briefkasten, der am Ende der kurvenreichen Zufahrt neben der Straße stand und vom Haus aus nicht zu sehen war. Sie hatten ihn nur ein paarmal getroffen, wenn er ihnen Pakete bis an die Veranda gefahren hatte. Er trug einen Hut mit Ohrenklappen und fuhr einen Post-Jeep mit Allradantrieb, und er hatte ihnen erzählt, dass er sie immer früh belieferte, da ihr Haus am Anfang seiner Route lag. Orla hatte eine neue Lieblingsroutine entwickelt, etwas, von dem sie nie gedacht hätte, dass es ihr Spaß machen würde: jeden Morgen mit einer Tasse Tee in der Hand die 60 Meter zum Briefkasten hinunterzuschlendern. Jetzt, nach fast zwei Wochen in ihrem neuen Leben, war sie gespannt darauf, wie sich diese Routine mit dem Wechsel der Jahreszeiten verändern würde – würde sie im Sommer den Spaziergang barfuß wagen? Würde der Weg mit Wildblumen übersät sein?

Es war wieder ein frischer, klarer Tag, aber es machte ihr nichts aus, ihre Winterklamotten anzuziehen, um ihren Spaziergang in aller Ruhe zu machen. Aus ihrer Tasse stieg Dampf auf, und die Wärme des Tees wirkte der kalten Luft entgegen, wenn sie einen Schluck nahm. Sie benutzten nun schon den fünften Tag abgekochtes und in Flaschen abgefülltes Wasser, und zwei Tage zuvor, am Dienstag, war jemand gekommen, um ihr Brunnenwasser zu testen. Sie und Shaw hatten begonnen, sich jeden Abend vor dem Schlafengehen zu beraten, aber es gab nichts Neues oder Merkwürdiges zu berichten. Der Haushalt war die ganze Woche über von Kichern, Musik und Geplauder erfüllt gewesen, gestärkt durch einen neuen Optimismus.

In der Stadt waren ruhige Momente sehr knapp bemessen gewesen. Orla erkannte jetzt, dass sie sich mehr danach gesehnt hatte, als ihr bewusst gewesen war. Diese Samstag- oder Sonntagmorgen, an denen sie sich früh aus dem Haus geschlichen hatte, mit keinem anderen Ziel, als die Straßen ohne Verkehr, die Bürgersteige ohne Menschen zu sehen. Manchmal war es ein sehr kleines Zeitfenster, und die Autos und Menschen schlichen sich gleich wieder in ihre Einsamkeit. Aber bevor sie sie zerstörten, erfreute sich Orla daran, wie anders sich alles anfühlte, wie friedlich, wenn die Stadt, die niemals schlief, dann doch gedämpft dalag in ihrer Stunde des Schlummers.

Und hier, jenseits der Grenzen einer Ansammlung von Kleinstädten, waren sie praktisch im Nirgendwo. Obwohl es ihr nicht mehr an Ruhe fehlte, war der morgendliche Gang zum Briefkasten oft ihre einzige Chance, allein zu sein. Oder irgendwohin zu Fuß zu gehen. Irgendwann würde sie mehr Mut aufbringen müssen und anfangen, kleine Spaziergänge rund um das Grundstück zu machen, vielleicht sogar tiefer in den Wald hinein. Ohne die Möglichkeit, sich die Beine zu vertreten, würde sie auf Dauer nicht überleben: Abgesehen davon, dass ihr Körper es brauchte, durfte sie sich nicht gefangen fühlen.

Sie ging in einem der zerfurchten Abdrücke entlang, die ihr Geländewagen hinterlassen hatte. Es war schon ein paar Tage her, dass sie irgendwohin gefahren waren – ihr letzter Ausflug war zur nächsten Pizzeria gewesen, 30 Minuten entfernt –, aber seitdem hatte es nicht mehr geschneit, und die Reifenspuren sahen in den parallelen Furchen noch frisch aus. Es war so still, dass sie das Rascheln der Äste in den Bäumen in der Ferne hören konnte und aus der Nähe das dumpfe Platschen, wenn der Schnee den Halt an einem Ast verlor und auf die darunterliegende Schneewehe stürzte. Orla lächelte, als sie ihren fröhlichen Freund, den hier ansässigen Roten Kardinal, von einem Ast über ihrem Kopf auf sie herabblicken sah. Die Luft roch nur nach Kälte und dem weit gereisten Duft von Kardamom, der von ihrem Tee aufstieg.

Zu ihrem morgendlichen Ritual gehörte es, sehr aufmerksam zu sein; sie legte Wert darauf, Dinge zu bemerken, die sie vorher nicht gesehen hatte. Shaw hatte diese Praxis in einem Schauspielkurs erlernt, den er Jahre zuvor besucht hatte, und sie beide nahmen sie in ihr Leben auf – wenn sie sich daran erinnerten. In der Stadt war das schwieriger gewesen, denn wenn man auf dem Bürgersteig langsamer wurde, musste man damit rechnen, dass ungeduldige Fußgänger vorbeirauschten. Aber hier … ließ sie ihren Blick schweifen, hielt inne, wenn sie etwas sah, das ihre Aufmerksamkeit erforderte. Wie zum Beispiel … winzige Fußabdrücke?

Zuerst dachte sie, es seien Vogelspuren im Schnee – vielleicht von ihrem gefiederten roten Freund? Aber bei näherer Betrachtung … begann sie zu bedauern, dass ihr jedes Mal solche Details auffielen, wenn sie sich vorbeugte, um einen besseren Blick auf etwas zu erhaschen.

Sie erkannte das Muster. Es hätte nicht offensichtlicher sein können; sie hatte einen Druck davon gegenüber ihrem Bett hängen. Aber das war unmöglich. Wir haben das Wasser abgekocht .

Einige zeitgenössische Choreografen verwendeten ein System namens Benesh Movement Notation, auch wenn die meisten, mit denen sie gearbeitet hatte, es vorzogen, mit Videos zu arbeiten. Die Choreografie wurde auf einem Blatt aufgezeichnet, das wie ein fünfzeiliges Notensystem aussah, aber es dokumentierte Körperteile und keine Noten. Schon früh in ihrer Karriere hatte sie sich für ältere Systeme zur Aufzeichnung von Choreografien interessiert und war dabei auf Feuillet und die französischen Tänze gestoßen, die er um 1700 dokumentiert hatte. Die Notationen waren mit wirbelnden Linien gezeichnet, als würde man auf den Boden blicken und die Muster sehen, die durch die Bewegung der Tänzer entstanden. Ihr Lieblingsbild, das Shaw als Druck für sie gerahmt hatte, hieß schlicht Balet . Es zeigte spiegelbildlich zwei doppellinige S-Formen mit gleichzeitigen Drehungen und Schwüngen. An ihrer Schlafzimmerwand wirkte es anmutig, wenn auch abstrakt. Hier im Schnee wirkte es …

Falsch.

Sie blinzelte heftig, um einen klaren Blick zu bekommen. Vielleicht war es gar nicht wirklich da. Vielleicht dachte sie so oft an den Tanz, wenn auch unbewusst, dass sie ihn jetzt in der Landschaft ihrer neuen Welt auftauchen sah.

Sie starrte erneut auf die Spuren hinab. Und lachte über sich selbst. »Du verlierst den Verstand.«

Beim ersten Mal hatte sie richtig gesehen: kleine Fußabdrücke von Vögeln, die in den Schnee geätzt waren.

Mit etwas mehr Eile ging sie weiter, bis sie die Straße erreichte. Das Kreischen der rostigen Scharniere des Briefkastens drang ihr bis ins Mark; es blieb wie der Nachhall eines blutroten Farbtons in ihrem Kopf.

Sie bezahlten alle ihre Rechnungen online und bekamen nie viel Post, aber sie war nie enttäuscht, wenn der Briefkasten leer war. Es war sogar eine Art Errungenschaft; sie mussten keine Bäume verschwenden, um zu kommunizieren. Aber heute gab es personalisierte Werbesendungen von ihrer neuen Satellitenfirma und ihrer neuen Bank. Sie stopfte sie in ihre Manteltasche und drehte sich um, um ihren Fußspuren zurück zum Haus zu folgen. Obwohl es sie an dem Tag, an dem sie eingezogen waren, gestört hatte, dass das Haus so weit von der Straße entfernt lag, gefiel es ihr jetzt. Es gefiel ihr, einen verlassenen Weg zu gehen, ohne ein einziges Gebäude in Sichtweite zu haben, zumindest für eine kurze Strecke. Und obwohl ihr der Ort zunächst gefährlich erschienen war, weil niemand wusste, dass sie dort waren, fühlte sie sich jetzt sicherer. Niemand konnte sie von der Straße aus sehen, es sei denn, ihr Schornstein rauchte.

Langsam gewöhnte sich Orla an das neue Konzept der Unsichtbarkeit. Sie war jetzt unauffällig, eine Person ohne Bühne, ohne Podium. Nach so vielen Jahren als Darstellerin hatte sie damit gerechnet, dass die Umstellung sie wund scheuern würde. Vielleicht hatte Shaw recht gehabt, dass es ihr abseits der Stadt leichter fallen würde, mit weniger Ablenkungen. Weniger Erinnerungen. (Abgesehen von den Vogelspuren im Schnee.) Weniger hellen Lichtern, die sie zum Verweilen zwangen.

Als sie den Becher an die Lippen führte, wehte er ihr plötzlich aus den Händen. Ein Windstoß, der sie überraschte.

Sie bückte sich, um ihn aufzuheben. Die Teespritzer auf dem Schnee erinnerten sie an Hundepisse – von einem leicht kranken Hund. Das brachte sie zum Glucksen, bis ein Windstoß sie von den Füßen riss. Als Nächstes kam der Schnee, der wie eine Wand aus Wespen auf sie herabstieß. Die gefrorenen Partikel peitschten gegen ihre Wangen, winzige Rasierklingen, die sich scharf genug anfühlten, um blutige Striche zu hinterlassen.

Orkanartige Böen griffen sie aus allen Richtungen an, und sie hatte Mühe, wieder aufzustehen. Die Tasse vergessen, vergraben, kniff sie die Augen gegen den rasenden Schnee zusammen, unsicher, ob sie sich zusammenkauern und abwarten oder sich nach Hause durchpflügen sollte. Beim letzten Mal war der Schneesturm vorbei gewesen, bevor sie die Kinder ins Haus gebracht hatte; vielleicht würde er sich diesmal genauso schnell auflösen. Sie ließ ihren Körper in der Taille eingeknickt und machte ihren Kopf zum Rammbock gegen das tosende Weiß, fest entschlossen, sich in die Sicherheit des Hauses zu kämpfen.

Der Wind brauste ihr ins Gesicht und zwang sich ihre Kehle hinab. Er raubte ihr den Atem, und sie japste wie ein Fisch an Land, kurzzeitig in Panik von dem Gefühl des Erstickens. Sie verbarg ihren Mund unter dem Revers ihres Mantels und kämpfte sich weiter voran, froh, dass die Kinder nicht bei ihr waren.

Es hatte sogar etwas Aufregendes, die Gefahr, die Zufälligkeit. Nachdem sie so viele Jahre damit verbracht hatten, die Zeitpläne im Auge zu behalten – das nicht enden wollende Wer-Wo-Wann, das Puzzlebild, das sich ständig änderte, je nachdem, was im Leben der viel beschäftigten Familie passierte –, war es seltsam faszinierend, vom Unerwarteten entführt zu werden. Ein Teil von ihr schätzte sogar die Machtdemonstration des Wetters. Es erinnerte sie daran, bescheidener zu sein, besonders nach einem Erwachsenenleben, in dem sie für den Applaus gearbeitet hatte. Es gab Dinge in der Welt, die sie nicht verstand, und das hier – genau jetzt, als sie nach Luft rang, um auf den Füßen zu bleiben – musste nicht unbedingt etwas Schlechtes sein. Sie war offen für die Möglichkeit, in die Schranken gewiesen zu werden, ein winziges Wesen, das in der Weite, im Unbekannten erwacht und sich im Gleichklang mit der immerwährend nach außen strebenden Kraft des Urknalls dreht.

Sie drängte weiter vorwärts, ohne etwas anderes als den Wind und den Schnee zu bemerken. Selbst das kam ihr angemessen philosophisch vor; sie war ganz im Moment. Ihr neues Leben, so beschloss sie, erforderte Achtsamkeit, Wertschätzung und, ja, philosophischer zu werden. An einem Ort ohne die endlosen Unterhaltungsmöglichkeiten, die sie früher für selbstverständlich gehalten hatte, würde sie verrückt werden, wenn sie in den Dingen um sie herum keinen Sinn und keine Befriedigung finden könnte. Sie würde die hohe Kunst des Balletts durch die hohe Kunst der kontemplativen Dankbarkeit ersetzen.

Der Boden um sie herum begann sich zu erhellen, nicht unähnlich den ersten Momenten auf einer Bühne, und sie wandte sich dem Licht zu. Aber sie erkannte erst, was es war, als es zu spät war.