12
Zwei parallele Lichtstrahlen tauchten im hochgewirbelten Schnee auf. Sie erkannte erst, dass es sich um Scheinwerfer handelte, als das Auto schon fast über ihr war.
Die Stoßstange schlug gegen ihre Hüfte; es war, als würde sie mit einem Kantholz geschlagen, und sie ging wieder zu Boden, sicher, dass das Fahrzeug sie überfahren würde.
Doch es kam schlitternd zum Stehen.
Und der Wind legte sich.
Und der Schnee.
Es wurde wieder so still wie zuvor. Eine geschüttelte Schneekugel, die zurück in ihr Regal gestellt wurde.
Und jetzt sah sie es: Es war ihr Auto. Shaw kletterte auf der Fahrerseite heraus.
»Orla!« Seine Stimme klang so laut gegen die nun stille Kulisse, als wäre das Rauschen des Windes durch das Schließen einer riesigen Tür zum Schweigen gebracht worden.
»Hast du das gesehen?«, fragte Orla, die immer noch im Schnee lag.
»Ich habe dich nicht gesehen! Der Schnee …«
»Du hast es also gesehen?«
»Ja, ich war total schneeblind.« Er fiel neben ihr auf die Knie. Sie rieb sich das Bein. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ich glaube, schon. Der Schnee …« Sie wollte gerade sagen, dass er ihren Sturz abgefedert hatte. Aber er hatte auch den Unfall verursacht, der viel schlimmer hätte ausfallen können. »Was machst du denn hier draußen?«
Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass der Geländewagen in der Garage fehlte; sie hatte angenommen, dass Shaw hinter der geschlossenen Tür seines Ateliers war.
»Ich bin zu der kleinen Bäckerei gefahren, die wir gefunden haben. Wollte allen ein paar Bagels besorgen. Sind die Kinder wach?«
»Ja, vor dem Fernseher. Ich wusste nicht, dass du nicht im Haus bist.«
»Tut mir leid, ich dachte, es wäre eine schöne Überraschung. Kannst du aufstehen?« Er half ihr auf die Beine. Half ihr, auf die Beifahrerseite des Autos zu humpeln. »Ich habe dich erst in letzter Sekunde gesehen, es tut mir so leid.«
Sie ließ sich auf den Sitz sinken und zuckte ein wenig zusammen, als eine Prellung schmerzhaft gegen das Polster gedrückt wurde. Shaw ging herum und stieg auf der Fahrerseite ein. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, saßen sie benommen in der Sicherheit des Wagens.
»Egal was der Wassertest ergibt …«, begann sie.
»Nein, diese Wetteraussetzer sind echt.«
Wollte er damit andeuten, dass andere Dinge vielleicht nicht echt waren?
»Ich verstehe das nicht«, sagte er. Einen Moment lang blieb er in Gedanken versunken, die Hände auf dem Lenkrad, und sah sich in der friedlichen Landschaft um. »Vielleicht sollte ich jemanden anrufen. Mal sehen, ob das eine neue Sache ist. Diese Windstöße.«
»Wen denn?«
»Ich weiß es nicht. Ich bin sicher, es gibt jemanden vor Ort, der Schneefall und Wind und so weiter an das Wetteramt meldet.«
Orla nickte, aber ihre Gedanken waren ein Chaos. Nur wenige Augenblicke zuvor war sie bereit gewesen, an die Rechtmäßigkeit des kapriziösen Wetters, seinen Platz im Universum, zu glauben, bereit, vor seiner Allmacht niederzuknien. Sie war bereit gewesen, sich anzupassen, um des Heiligen und Wichtigen willen. Aber dass Shaw sie fast mit dem Auto überfahren hätte … das war alles andere als heilig. »Vielleicht bist du zu schnell gefahren.«
»Wie bitte?« Er wandte sich ihr zu.
»Sch nee auf der Straße … und die Möglichkeit, dass es jeden Moment weiterschneit – ist diese Region nicht dafür bekannt?«
»Nicht so richtig.«
»Ich denke nur … du solltest keine voreiligen Schlüsse ziehen, denn ein Schneesturm kann jederzeit auftreten und …«
»Moment! Willst du mich verarschen? Du denkst, das Problem ist mein Fahrstil? «
Auch wenn sie wusste, dass es nicht nur seine Schuld war, so doch zum Teil. Allein die Tatsache, dass sie überhaupt hier waren. »Was auch immer der Wassertest ergibt … Es ist Winter, es wird weiterhin schneien. Wir sollten alle möglichen Vorkehrungen treffen.«
Neben ihr biss Shaw seine Zähne zusammen. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er innerlich grummelte und überlegte, ob er dieses Feuer schüren oder löschen sollte. Dann seufzte er und ließ die Schultern hängen. »Vielleicht hattest du recht mit dem, was du neulich Abend gesagt hast. Die globale Erwärmung bringt das Wetter auf der ganzen Welt durcheinander. Vielleicht ist diese Gegend anfällig für ungewöhnliche Veränderungen geworden. Ich werde das googeln; vielleicht hat jemand darüber gebloggt oder so.«
»Okay.« Das klang vernünftig. »Aber … wir müssen einen Weg finden, damit klarzukommen, und wenn die Kinder …«
»Ich weiß«, fiel Shaw ihr ins Wort und klang dabei sowohl irritiert als auch ungeduldig.
»Es ist nicht deine Schuld. Es tut mir leid, wenn ich angedeutet habe …«
»Ich habe dich gerade fast überfahren.«
»Vielleicht hätte ich nicht mitten in der Einfahrt entlanglaufen sollen.«
Er schüttelte den Kopf. »Es liegt nicht an dir. Wieder lasse ich euch hier allein und es kommt … ein Schneegestöber.«
»Nein, Shaw, das ist nur ein Zufall.«
»Soll ich denn niemals wieder weggehen? Hätte ich euch nicht hierherbringen sollen?«
Er tat es also auch, versuchte sich rational zu erklären, was immer auch geschah. Er verarbeitete es anders, fast egozentrisch. Waren es Schuldgefühle, die seinen Blick trübten? Dennoch sah sie ihm an, wie er nach einem Sinn, wenn nicht gar nach Beruhigung suchte.
»Wir werden uns etwas einfallen lassen.« Sie drückte sein Handgelenk, ohne zu wissen, was sie als Lösung herbeizaubern könnten, aber sie versuchte, zuversichtlich zu klingen. »Wir sollten zurückfahren.«
Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und der Wagen schlingerte vorwärts, aber er fuhr die letzten 30 Meter bis zur Garage im Schneckentempo, und Orla wusste, dass sie zu ihm durchgedrungen war. Es konnte jederzeit wieder passieren. Und eins der Kinder könnte dann im Hof spielen.
Sie waren übereingekommen, den jüngsten Wettersturz den Kindern gegenüber nicht zu erwähnen, die auf dem Sofa saßen, als sie hereinpolterten, selig vertieft in Der Gigant aus dem All, einen Film, den sie schon tausendmal gesehen hatten, weil er einer der wenigen war, auf den sie sich immer einigen konnten.
»Wer will ein echtes New Yorker Frühstück? Frische Bagels!«
»Ich! Ich!«, antworteten die Kinder.
Orla sah es an Shaws Handlungen und der Art, wie er sprach: Er überkompensierte. Sie spürte es auch, ein Gefühl, den Kindern etwas zu schulden. Etwas, das sicherer war, weniger bedrohlich als das neue Leben, das ihnen vorgesetzt worden war – obwohl sich keines der beiden offen beschwert hatte. Sie humpelte hinter ihnen her in die Küche. Ihre Verletzung musste wahrscheinlich mit Eis gekühlt werden, aber sie entschied sich, stattdessen ihre Aromapackung in die Mikrowelle zu legen. Sie mochte den Geruch von Kamille und Lavendel, und sie behielt den warmen Duft an ihrer Hüfte, während sie aßen.
Shaw schmierte dicke Schichten Frischkäse auf die Apfel-Zimt-Bagels der Kinder, und Orla machte ihnen heiße Schokolade. Bisher war ihre Adirondack-Diät entsetzlich, aber Orla war sich bewusst, dass sie keine Witze darüber machen durfte, wie fett sie alle werden würden, damit Eleanor Queen nicht ein weiteres Opfer unrealistischer Körpererwartungen wurde. Orla hatte es nie gemocht, wenn Leute – Freunde, Verwandte, Fremde – vor Eleanor Queen Bemerkungen über ihre Dünnheit (oder Giraffenglieder oder Schwanenhälse oder ausladende Entenfüße) machten, weil sie befürchtete, das Mädchen würde sich mit ihr vergleichen und über den eigenen Körper urteilen, wie er sein sollte oder nicht sein sollte. Aber irgendwann mussten sie zu einer gesünderen Ernährungsweise zurückkehren.
Nach dem Frühstück einigten sich Orla und Shaw auf einen halb garen Plan, immerhin besser als nichts: eine Leitschnur zu ziehen, die sich die Einfahrt entlang von der hinteren Seite der Garage bis zur Straße erstrecken sollte. Sie stiegen in den Keller hinunter und durchwühlten den Schrott, den der Vorbesitzer hinterlassen hatte, um nach brauchbaren Materialien zu suchen. Orla wurde bald von einer Kiste mit Büchern abgelenkt und hob die Klappen des Kartons an, um zu sehen, welche Schätze sich darin befanden. »Hey, vielleicht sollten wir einem Online-Buchclub beitreten. Und auch einen für Eleanor Queen finden!«
»Das können wir tun.« Aber Shaw konzentrierte sich auf die Holzpfähle und die verlassenen Werkzeuge, die er gefunden hatte.
»Geschichte. Hauptsächlich Sachbücher, wie es aussieht.« Sie pustete Staub von den Rändern eines leicht stockfleckigen Buches, ganz vertieft in ihren Fund. »Ziemlich alt, das meiste davon.«
»Das sollte funktionieren. Orlie? Erde an Orlie? Ich glaube, wir haben gefunden, was wir brauchen.«
Es war Shaws Idee, ein Seil zwischen den Pfosten (falls sie diese in den gefrorenen Boden bekommen konnten) und den Bäumen zu befestigen, damit Orla sich mit den Fingern daran entlanghangeln konnte, während sie zum Briefkasten ging. Sollte es wieder zu einem Schneegestöber kommen, könnte sie den Weg zurückfinden, ohne mitten in der Einfahrt umherirren zu müssen.
»Na gut.« Orla schloss ihre Bücherkiste, um sie später genauer zu durchforsten, und hob sie hoch.
»Willst du das wirklich die Treppe hochschleppen?«
»Ja. Wir brauchen alle Bücher, die wir kriegen können.«
»Die stinken.«
»Alt heißt nicht schlecht. Vielleicht gibt es hier eine wertvolle Erstausgabe, die eine Trillion Dollar wert ist.«
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand hier unten etwas aufbewahren würde, das ihm wirklich wichtig ist. Kannst du noch etwas tragen?« Als Orla nickte, legte Shaw einige Seile und Schnurbündel auf ihre Kiste. Er schnappte sich die Pfosten und Werkzeuge und sie gingen nach oben.
»Walker kennt vielleicht jemanden vor Ort, der das Wetter beobachtet. Das könnte hier ein ziemliches Thema sein, und dann gibt’s eine Meetup-Gruppe oder so«, sagte sie. Es schien, als wäre das Wetter ein Lieblingsthema für alle und überall; ihr Vater begann jedes Telefongespräch mit der Temperatur- und Niederschlagsvorhersage für Pittsburgh. Für Orla war es nur logisch, dass an einem Ort mit dramatischem Wetter, an dem Temperatur und Niederschlag tatsächlich eine Rolle spielten, noch mehr Menschen auf dem Laufenden sein würden.
»Vielleicht.« Shaw klang unverbindlich. »Ich könnte mich auch umhören, wenn ich in der Stadt bin. Vielleicht verlassen sich die Leute mehr auf einen bestimmten Meteorologen als anderswo. Vielleicht müssen wir eine andere App benutzen.«
Orla vermutete, dass dahinter ein Problem mit seinem Stolz steckte, dass er Fremden oder seinem Bruder keine ungewollt naiven Fragen stellen mochte. Kein Mann wollte als der dumme Stadtmensch dastehen, schon gar nicht einer, der eine Stunde entfernt aufgewachsen war. Und waren sie sicher, dass an diesem Morgen überhaupt etwas Ungewöhnliches passiert war? Innerhalb weniger Jahre war auch New York City anfälliger für Wirbelstürme geworden; sie hatten Glück, dass sie nur wenige Blocks außerhalb der Evakuierungszone wohnten, als Sandy zuschlug. Orla wusste, dass sie in diesem Teil des Staates nicht in ihrem Element war und dass neue und seltsame Wetterphänomene eine reale Möglichkeit darstellten. Jawohl. Das ergab zumindest annähernd Sinn.
Sie verhielten sich klug; das mysteriöse Wetter zu ignorieren würde es nicht verschwinden lassen. Es war besser, vorbereitet zu sein, wenn sie es konnten. Und die Herstellung der Leitschnur beschäftigte sie alle. Shaw schlug die Pfosten mit einem Vorschlaghammer in den Boden, und vielleicht wurden sie größtenteils vom Schnee gehalten, aber wenigstens standen sie. Orla knotete das Seil um die Pfosten; sie brauchten nur wenige, da der größte Teil der Einfahrt von Bäumen gesäumt war. Sie wickelte das Seil um die dünnsten verfügbaren Stämme und hoffte, dass die verschiedenen Schnüre bis zum Ende der Einfahrt reichen würden. Tycho folgte ihr und sprang in die Stiefelabdrücke seines Vaters, während er ein kleines Lied über wehenden, leuchtenden Schnee sang. Und Eleanor Queen hielt die Schnurbündel fest, wickelte sie ab, während sie weitergingen, und erklärte, wie die Leute ähnliche Richtschnüre um die Gebäude der Forschungsstationen in der Antarktis machten: weitere Informationen, die sie aus Dereks Buch hatte. »Genau so, damit sich die Wissenschaftler nicht verirren, wenn ein Schneesturm aufzieht. Man könnte sehr schnell erfrieren.«
»Wir sind sehr, sehr weit von der Antarktis entfernt«, erwiderte Shaw.
»Und das ist gut so«, sagte Orla. »Ich will keine Eisbären in unserem Garten haben.«
»Eisbären!«, rief Tycho, mehr aufgeregt als ängstlich.
»Wusstet ihr, dass Arktis Bär bedeutet?«, fragte Eleanor Queen.
Sie gaben alle zu, das nicht zu wissen.
»Eisbären leben ja in der Arktis, und Antarktis bedeutet keine Bären, sodass man sich merken kann, dass es am Südpol keine Bären gibt.«
»Das ist eine fantastische Erklärung«, sagte Orla.
Eleanor Queen sah recht zufrieden mit sich selbst aus.
»Nun, wir müssen uns in beiden Fällen keine Sorgen machen«, vermeldete Shaw. »Da wir uns weder am Nord- noch am Südpol befinden, sind wir einfach nur vorsichtig, da es hier keine Bürgersteige gibt.«
»Ganz genau«, stimmte Orla zu. Aber da das Thema Bären aufkam, konnte sie nicht umhin, einen Blick hinter sich zu werfen, weil sie das Gefühl nicht loswurde, beobachtet zu werden. (Oder belauert.) Es war ihr egal, wie unwahrscheinlich es war; wenn Mutter Natur das Polarlicht (Wir alle haben es gesehen!) und verrückte Schneestürme herbeirufen konnte, warum konnte sie dann nicht auch einen Eisbären herbeirufen? Einen verirrten und hungrigen Eisbären.
Trotz ihres schmerzenden Beins forderte Orla die Kinder auf, mit ihr um die Wette zum Haus zu laufen, sobald sie das Ende der Leine um den dicken Pfosten des Briefkastens gebunden hatte. Die Beinahekatastrophe vom Morgen und das Gerede über Bären hatten sie verunsichert. Tycho und Eleanor Queen sahen es als Spiel an, aber es beruhigte Orla zu sehen, wie schnell sie rennen konnten.