13
»Okay, das ist gut …« Orla klemmte sich das Küchentelefon zwischen Kinn und Schulter und schrieb alles auf einen Notizblock, wobei sie dem Drang widerstand, nach der korrekten Schreibweise zu fragen. »Ist das schlecht? … Sollen wir weitere Tests machen? … Okay.«
Kurz nachdem das Telefon geklingelt hatte, hatte Eleanor Queen den Tisch verlassen, an dem sie Schularbeiten gemacht hatte, und war zur Hintertür gegangen. Sie verweilte dort und blickte hinaus, wobei ihr Atem die Glasscheibe beschlagen ließ.
»Sind Sie sicher? Würden Sie sich Sorgen machen, wenn Ihre eigenen Kinder es trinken würden? … Okay, danke … Das werden wir, danke nochmals, tschüss.« Sie legte auf. »Shaw?«, rief sie in Richtung seines Ateliers. Er antwortete nicht, aber Tycho hüpfte mit einem Malbuch herein. Er trat zu seiner Schwester an die Hintertür und stellte sich auf die Zehenspitzen, um aus dem Fenster zu sehen.
»Shaw?«, rief Orla erneut, obwohl ihre Aufmerksamkeit von der Übermittlung der Nachricht an ihren Mann abgelenkt war. Wofür interessierten sich die Kinder dieses Mal? »Was macht ihr denn da?«
»Guck mal, Mama«, sagte Tycho.
»Was seht ihr da draußen?« Sie spähte durch das Fenster über ihre Köpfe hinweg. Tycho, der die Antwort nicht zu kennen schien, wandte sich an seine Schwester. »Eleanor Queen, hast du dein Kapitel fertig?«, fragte Orla.
»Können wir da rausgehen?«, kam die Gegenfrage ihrer Tochter, die nach draußen zeigte.
Orla hatte sich noch nicht in den dichten Wald hinter dem Haus gewagt; nach Shaws Missgeschick am ersten Tag hatte sie versucht, so zu tun, als gäbe es ihn nicht. Vor nicht einmal 24 Stunden hatte Shaw sie fast überfahren. Sie war nicht scharf darauf, neues Terrain zu betreten. »Ich weiß nicht …«
»Wir werden uns nicht verirren«, beharrte Eleanor Queen, als läse sie ihre Gedanken. »Wir gehen einfach nur den Baum besuchen, er ist einsam. Er ist ja gleich dort.«
»Wir werden den Baum besuchen, Mama.«
»Was ist da draußen?«, fragte Shaw, als er in die Küche stürmte und seine Familie an der Tür versammelt sah. Seine Finger waren mit orangefarbenen und roten Spritzern besprenkelt. Er hebelte mit dem Ellbogen die Kühlschranktür auf und griff nach einer frischen Flasche Wasser.
»Hey.« Orla trat hinüber und lehnte ihre Hüfte an den Kühlschrank. »Ich habe gerade mit dem Wassermenschen gesprochen. Er meinte …« Sie sah auf ihrem Notizblock nach. »Keine coliformen Bakterien. Das ist das Wichtigste, wonach sie suchen, sagte er. Sie haben geringe Spuren von Arsen gefunden, aber er war nicht beunruhigt, sagte, es …«
»Ja, in vielen Gewässern sind Spuren davon vorhanden. Also ist alles gut?«
»Das hat er gesagt, ja.«
»Okay.« Er schien weder erfreut noch erleichtert zu sein. Orla hätte ihn als ungeduldig und ein wenig distanziert beschrieben; die gleiche Stimmung, in der er aufgewacht war. Sie hatte gehört, wie er mitten in der Nacht aufgestanden und die Treppe hinuntergegangen war. »Ich wollte nur etwas nachsehen«, hatte er gesagt, als er ins Bett zurückkehrte. Den ganzen Morgen über hatte er diese Schlafmützigkeit vor sich hergetragen.
»Wir gehen zu dem großen Baum«, sagte Tycho. »Stimmt’s, Ele-Queen?«
»Okay, na dann viel Spaß.« Shaw wollte sich auf den Weg zurück in sein Atelier machen.
»Warte.« Orla war Shaws vorgebliche diszipliniert-künstlerische Art langsam leid; es schien eher ein selbstsüchtiges Vermeiden zu sein. »Wolltest du mit uns kommen? Die Kinder wollen sich umsehen …«
»Ich arbeite.«
»Okay, also.« Sie war sich sicher, dass, wenn er etwas brauchte, es ein Nickerchen war und nicht noch mehr Zeit, die er in seinem Atelier verbrachte. »Meinst du, es ist sicher draußen?«
»Wir werden uns nicht verirren, Mama, das habe ich dir schon gesagt.« Eleanor Queen klang gereizt.
»Danke, Bean, ich weiß dein Selbstvertrauen zu schätzen, aber wir wissen nicht alles über …« Orla beendete den Satz nicht. Wussten sie, wusste sie selbst überhaupt irgendetwas über das, was da draußen war? Sie war sich nicht tausendprozentig sicher, dass geringe Spuren von Arsen nicht doch irgendwelche Probleme verursachen konnten, aber Shaw sorgte sich nicht, und der Wassermensch sorgte sich auch nicht. Und je länger sie hier waren, desto mehr setzte sich der Gedanke in ihren Knochen fest: Dieser Ort existierte außerhalb des Erfahrungsbereichs der anderen Orte, an denen sie bisher gelebt hatte, und es gab klaffende Löcher in ihrem Verständnis von Naturphänomenen . Auf die Logik, mit der sie bisher in einer Stadt navigiert hatte, konnte sie sich hier nicht verlassen.
»Es ist wahrscheinlich besser, wenn ich nicht dabei bin«, sagte Shaw. »Ich werde drinnenbleiben.« Er stapfte mit seiner kostbaren Flasche Wasser und seinem verletzten Ego aus der Küche. Orla hatte nicht die Geduld, sich mit seinem Selbstmitleid zu befassen, auch wenn er in gewisser Weise sowohl das Potenzial für künftige Merkwürdigkeiten als auch die Sorge um ihre Sicherheit anerkannte. Angesichts der Verstörtheit ihres Mannes und der Genervtheit ihrer Tochter wünschte sich Orla, sie könnte sich in ihr Zimmer zurückziehen, wo sie die Tür schließen und einen Moment lang schreien könnte.
»Das Wasser ist sicher!«, verkündete Orla allen Anwesenden. »Wir müssen es nicht mehr abkochen.«
»Juhu!«, jubelte Tycho.
»Na, da bin ich aber froh, dass sich einer darüber freut.« Sie steckte ihren Kopf ins Wohnzimmer und rief Shaw lauter als nötig hinterher: »Wir müssen also nicht verschwenderisch mit den Flaschen sein …«
Er schloss seine Tür und ignorierte sie.
Sie hätte anklopfen sollen, aus Prinzip. Aber stattdessen stürmte sie hinter ihm her und betrat sein Atelier. »Türen sind nicht dazu da, um sie vor den Augen der Leute zu schließen.«
»Raus hier!« Er fuhr erschrocken zurück und versuchte, seine zweite Staffelei mit seinem Körper zu verdecken.
»Warum bist du so mürrisch?«
»Es ist noch nicht fertig, ich will nicht, dass jemand sieht – es ist noch nicht richtig.«
Seit wann machte es ihm etwas aus, dass sie sein unvollendetes Werk sah? Aber dieses Bild interessierte sie nicht. Es war das Bild auf der anderen Staffelei, das ihr eine Grimasse entlockte. Es zeigte eine Baumgruppe, die von einem Tornado in zwei Hälften gerissen worden war – oder von einem Riesen mit einer Machete, der sich seinen Weg durch den Wald gebahnt hatte. Aber anstelle von hölzernen Splittern, wo die Äste abgesäbelt worden waren, bluteten die Äste. Knochen ragten heraus. Sie sahen aus wie scharfe, abgetrennte menschliche Gliedmaßen.
»Das ist …«
Shaw stellte sich vor das Gemälde. »Es ist nur ein Experiment.«
»Es ist ekelhaft, nichts für ungut. Kein Wunder, dass du so schlechte Laune hast.«
Seine Züge wurden weicher. »Es ist nicht Teil von … Es ist mir einfach so gekommen.«
»Ich hab Durst!« Tycho galoppierte in den Raum.
Orla hob ihn sofort hoch und drehte sich mit ihm so, dass er der Tür zugewandt war. Shaw bewies gesunden Menschenverstand, hob das grausige Gemälde hoch und drehte es zur Wand. Orla schnappte sich Shaws Wasserflasche von seinem Stuhl, reichte sie ihrem Sohn und schob ihn sanft aus dem Zimmer.
»Du wirst die Kinder erschrecken«, zischte sie leise.
»Siehst du? Ein guter Grund, die Tür geschlossen zu halten.« Er deutete darauf, forderte sie wortlos zum Gehen auf.
»Schlaf. Du brauchst ein Nickerchen, nicht noch mehr Stunden, in denen du nur Terpentin schnüffelst.« Sie marschierte hinaus, und die Tür fiel hinter ihr mit einem Klicken zu.
Die Hände in die Hüften gestemmt, überlegte Orla, was sie tun konnte. Am Ende ihres Lateins und mit dem Bedürfnis nach frischer Luft, nach Freiraum und Bewegung marschierte sie zurück in die Küche. »Okay. Stiefel, Schneehose, das ganze Zeug. Lasst uns unseren Freund den Riesenbaum besuchen gehen.«
»Juhu!«, jubelten beide Kinder.
Der Freudenausbruch von Eleanor Queen besänftigte Orla ein wenig, obwohl ein Teil von ihr immer noch versucht war, vor Shaws Tür zu rufen, er solle einen Suchtrupp schicken, wenn sie nicht in T minus 60 Minuten zurück wären. Sie übertrieb, das wusste sie. Und wollte ihm etwas heimzahlen, irgendwie. Aber sie war auch entschlossen, der weniger verstörte, gestörte Elternteil zu sein. Blutende Bäume? Sie würden nur geradeaus hin- und zurückwandern und nicht versuchen, das Grundstück mit einer Karte und einem defekten Kompass zu vermessen. Nichts, wovor man sich fürchten müsste.