14

Es war leicht. Eleanor Queen führte den Trupp souverän an, obwohl sie über unberührten Schnee stapften. Trotzdem sah sich Orla immer wieder um, hielt Ausschau nach …

Sie machten genug Lärm, um die Bären fernzuhalten. Wie sehr sie ihren kleinen Jungen liebte, der gern sang. Und sie achtete darauf, dass sie nicht von ihrem gewählten Weg, ihrer gewählten Mission abkamen, damit das Wetter sie nicht mit einer weiteren stürmischen Schneeböe überraschte.

Ihre Wachsamkeit zahlte sich aus, als sie etwas entdeckte, das nicht gefährlich, aber verblüffend schön war: ein Albino-Reh, das leichtfüßig zwischen zwei Bäumen hindurchtrat.

Die filigrane Stellung seiner Hufe ließ Orla an Spitzenschuhe denken, aber die Kinder trabten so zielstrebig voran, dass das Reh weggesprungen war, bevor sie sie auffordern konnte, langsamer zu werden und den Anblick zu genießen.

»Mama, guck!«, keuchte Eleanor Queen einen Moment später auf und deutete nach oben.

»Was ist das?« Tycho hüpfte neben ihr in Stellung und war gespannt.

»Eine Schnee-Eule! Mit großen goldenen Augen!«

Eleanor Queen klang so erfreut. Aber als die anderen beiden der Richtung ihres Fingers folgten, sahen sie nur dunkle und leere Baumstämme.

»Sie ist weggeflogen«, sagte sie und sprang über einen kleinen Ast, der ihnen im Weg stand.

Sie waren nur ein paar Schritte weitergegangen, als Tycho scharf einatmete und sein Gesicht aufleuchtete, während seine Hand mit dem Fäustling auf eine Stelle zwischen zwei niedrigen Bäumen wies.

Wieder hielten sie an, aber Orla konnte nichts außer schneebedecktem Gestrüpp erkennen.

»Da ist nichts.« Eleanor Queen lief weiter.

»Er war da – ich habe einen Wolf gesehen!«

»Einen Wolf?« Orla packte Tycho an der Kapuze, um ihn davon abzuhalten, sich auch nur einen Zentimeter von ihr zu entfernen. Der Aufschrei Wolf! veranlasste auch Eleanor Queen, doch einmal stehen zu bleiben und sich umzudrehen, wobei ihre großen Augen unsicher auf ihre Mutter gerichtet waren.

»Er war ganz weiß und hatte Augen wie kleine Sonnen. Er war ganz freundlich, Mama.«

Orla schaffte es, ihren Mund nicht zu einem Lächeln zu verziehen, aber sie zwinkerte ihrer Tochter zu. Tycho ahmte, wie es jüngere Geschwister oft taten, seine Schwester gern nach. »Nun, dein freundlicher Wolf ist wohl nach Hause gehuscht.«

»Jawohl!« Er galoppierte Eleanor Queen hinterher, als sie wieder in Richtung der hoch aufragenden Kiefer losstürmte, und folgte zufrieden ihrer Führung.

Orla wünschte sich, Shaw wäre dabei. Er setzte sich zu sehr unter Druck und hätte einen Moment des unerwarteten Staunens gebrauchen können. Vielleicht war es das, was er die ganze Zeit gesucht hatte, ein Ort, der seine Fantasie anregte. Und sie empfand ein wenig Reue, weil sie so frustriert über ihn war. Er trug eine Last, die sie nicht teilte – seine Idee, seine Kunst – , und wer war sie, über seine Arbeit zu urteilen? Sie mochte die Achterbahn der Gefühle nicht, die sich seit dem Umzug zwischen ihnen abgespielt hatte.

Eleanor Queen war bereits dabei, den Baum langsam zu umrunden, als Orla ihn erreichte, Tycho an der Hand. Er war genauso beeindruckend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. So breit wie ein Mensch lang war der Stamm an seinem Fuß, und er ragte so hoch auf, dass sie den Kopf ganz nach hinten legen musste, um seine Spitze zu sehen. Die graue Borke sah uralt aus, tief gerillt und gefurcht. Wie die Oberfläche eines ausgedörrten Planeten. Die meisten der riesigen Äste, die weit über ihnen aus dem Stamm ragten, waren knorrig und kahl. Nur die Krone in der Stratosphäre über ihren Köpfen war immergrün.

»Was für ein großer, schöner Baum!«, staunte Tycho und hüpfte in den Stiefelabdrücken seiner Schwester um den Baum herum.

»Er ist majestätisch«, sagte Orla mit ihrer fröhlichsten Stimme. »Und sehr, sehr alt: 500 Jahre!«

Tycho strahlte voller Ehrfurcht zu dem Riesen hinauf.

Eleanor Queen schlenderte weiter nachdenklich um die Kiefer herum. Sie hatte einen Fäustling ausgezogen und fuhr mit den Fingern an der Borke entlang, während sie ging. Orla befürchtete, dass ihre scharfsinnige Tochter bemerkt hatte, was sie bemerkt hatte: die vielen toten Äste, die verstreuten grünen Stellen, die vor allem in der Nähe des Wipfels zu sehen waren. Der Tod breitete sich von den Wurzeln nach oben aus. Orla dachte, dass dies wahrscheinlich bedeutete, dass der Baum bereits tot war, aber die oberen Äste waren so hoch, dass sie die Nachricht noch nicht erhalten hatten. Auch wenn er weit genug vom Haus entfernt war, wäre es schlimm, wenn ein so massiver Baum seinen Halt verlieren und umstürzen würde. Er würde so viel Schaden an den umliegenden Bäumen anrichten und den hinteren Teil ihres Grundstücks fast unpassierbar machen. Sie nahm sich vor, Shaw darauf anzusprechen; im Frühjahr könnten sie einen Baumpfleger brauchen, der herkam und sie beriet.

Tycho verlor bereits das Interesse und wanderte zu den viel kleineren Immergrünen hinüber, um Schnee von ihren ausladenden unteren Zweigen zu klopfen. Orla versuchte, ihn in Reichweite zu halten und gleichzeitig Eleanor Queen bei ihrem meditativen Marsch nicht aus den Augen zu verlieren, aber eine mulmige Nervosität machte sich in ihr breit, während sie mit den Bedürfnissen beider Kinder jonglierte. Notgedrungen blieb sie näher bei ihrem ungestümen Sohn, aber sie befürchtete, dass eine weitere Sturmböe kommen und Eleanor Queen aus ihrem Sichtfeld reißen würde.

»Ich glaube, wir sollten jetzt zurückgehen.« Sie hätte schwören können, dass die Temperatur gesunken war. Vielleicht war das ein frühes Warnzeichen; vielleicht gewöhnte sie sich bereits besser an ihre neue Umgebung, als sie gedacht hatte. »Es zieht ein Sturm auf, wir wollen nicht von ihm überrascht werden …«

»Es gibt keinen Sturm«, widersprach Eleanor Queen. Am Fuß des Baumes sank sie auf ihre durch die Schneehose gepolsterten Knie. Wie eine Bittstellerin, betend.

»Komm jetzt.« Orla winkte Tycho zu sich. Er stolperte herbei und ergriff ihre Hand.

»Ist es Zeit für heiße Schokolade?«, fragte er. Das war in der Stadt immer ihre Leckerei gewesen, wenn es viel Schnee gab.

»Ich glaube nicht, dass wir jedes Mal, wenn es hier schneit, heiße Schokolade trinken können; das wäre eine Menge heiße Schokolade. Bean, komm schon, wir gehen nach Hause.«

»Ich komme bald nach Hause.« Sie hatte offenbar nicht die Absicht, aufzustehen und mitzugehen.

Wie bitte? Das war zwar genau die Art von Unabhängigkeit, von der sie gehofft hatten, dass Eleanor Queen sie entwickeln würde, aber Orla bezweifelte, dass selbst Shaw es für eine gute Idee halten würde, sie jetzt draußen zu lassen – besonders angesichts der Launenhaftigkeit der Dinge, die sie erlebt hatten.

»Ich kann dich hier draußen nicht allein lassen, und es ist Zeit zurückzugehen.«

»Warum nicht? Ich habe den Weg hierher gefunden, ich weiß, wie man zurückkommt.«

»Das ist großartig. Ich weiß, dass du eines Tages eine meisterhafte Entdeckerin sein wirst und uns das ganze Land zeigen kannst …«

»Darum geht es nicht.«

»Eleanor Queen.« Orla verlor langsam die Geduld. Es wurde eindeutig kälter. Sie spürte es; es kam etwas auf sie zu.

»Es kommt etwas auf uns zu, Mama.«

Ein Schauer lief Orla den Rücken hinunter. »Ich weiß, deshalb müssen wir gehen.« Sie griff nach ihrer Tochter und zerrte an ihrem Arm.

»Deshalb müssen wir hierbleiben! « Sie zog ihren Arm zurück.

Tycho begann, an Orlas Hand zu ziehen, bereit zu gehen. Orla war in der Mitte gefangen, da ihre beiden Kinder darauf bestanden, in unterschiedliche Richtungen zu streben. Eleanor Queen zappelte weg und zwang Orla, Tycho mit sich zu ziehen, während sie die gepolsterte Jacke ihrer Tochter wieder in den Griff bekam.

»Jetzt, Eleanor Queen Bennett, ich werde es nicht noch einmal sagen!«

Orla musste nur selten den Ich-meine-es-ernst-Tonfall benutzen, aber ihre Tochter akzeptierte die Niederlage. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie ließ sich zurück Richtung Haus ziehen.

»Du verstehst das nicht«, jammerte das Mädchen.

»Dann erkläre es mir.« Aber Orla war nicht wirklich in der Stimmung zuzuhören; sie behielt ihre Umgebung aufmerksam im Auge und versuchte festzustellen, ob die Lufttemperatur stieg, als sie sich dem Haus näherten.

»Ich kann ihn hier draußen besser hören, und er versucht wirklich, wirklich, wirklich, mir etwas zu sagen, und ich weiß nicht, warum ich nicht einfach reinkommen kann, wenn ich so weit bin, und es gibt hier nichts anderes zu tun, also warum lässt du mich nicht draußen bleiben?«

Orla atmete erleichtert auf, als sie den Waldrand erreichten und das Haus in Sichtweite kam. Sie hatte nur Bruchstücke des verärgerten Geschreis ihrer Tochter mitbekommen.

»Hast du mich gehört, Mama?« Diesmal war es Eleanor Queen, die am Ärmel ihrer Mutter zerrte und versuchte, so ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.

»Wir sind fast zu Hause.«

»Also nein, du hast nicht zugehört! Deshalb kannst du ihn auch nicht hören! Deshalb muss ich alles selbst machen!« Eleanor Queen riss sich los und marschierte auf das Haus zu.

Ihre Tochter sprach selten mit solcher Heftigkeit, und Orla fühlte sich kurz ein wenig schuldig.

Aber nur ein wenig; Eleanor Queen verstand nicht, was da draußen vor sich ging. Orla verstand es auch nicht besser, aber sie fühlte den Zwang, ihre Kinder zu beschützen.

»Mach dir keine Sorgen, Mama.« Der stets glückliche kleine Tycho grinste zu ihr hoch. »Die Ele-Queen ist nur sauer, weil die Bäume viele schwere Wörter benutzen, die sie nicht kennt.«

»Oh, ist das so?«

»Ja, das hat sie mir gesagt.«

»Nun, danke, jetzt fühle ich mich etwas besser.« Sie fühlte sich nicht besser. Ganz und gar nicht. Flüsterten ihre Kinder auch im Dunkeln, wie ihre Eltern? Tauschten sie Merkwürdigkeiten aus, die sie amüsierten oder ängstigten? Das einstige Gleichgewicht ihrer Familie war aus den Fugen geraten, und sie wusste nicht, wie sie es wiederherstellen sollte.

Sie folgten den Stiefelabdrücken von Eleanor Queen direkt durch die Hintertür, die einen Spalt offen stand. Ein quälendes Gefühl zerrte an Orlas Gedanken wie an einem Stück Stoff, das auch nach wiederholten Versuchen seine große Enthüllung nicht preisgeben wollte. Sie hatte etwas übersehen. Im Wald. Mit ihren Kindern. Und das nagende, quälende Ding – die Schärfe seiner Krallen – warnte sie, dass es sehr wichtig war.