15
Orla lag im Bett unter dem gemütlichen Lichtkegel ihrer Nachttischlampe und blätterte in einem der muffigen Bücher, die sie im Keller gefunden hatte. Ein paar andere lagen neben ihr auf der Bettdecke, verblasste, leinengebundene Geschichtsbücher, einige mit Schwarz-Weiß-Fotos auf Hochglanzseiten. An der Wand gegenüber dem Bett blinzelte der gerahmte Druck von Feuillet’s Balet ihr zu und zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Seit jenem Tag, an dem sie die Choreografie im Schnee entdeckt hatte, sahen die eigentlichen Schrittkombinationen nur noch wie Vogelspuren aus. Wenn ihr Freund, der Rote Kardinal, ihr nicht gerade Gesellschaft leistete, probte er mit einer bunt zusammengewürfelten Balletttruppe aus widerwilligen Vögeln. Sie presste die Lippen zusammen, um sich das Lachen zu verkneifen.
Shaw stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster und kritzelte etwas in ein Skizzenbuch. Die Jalousie war halb hochgezogen und er spähte in die dunkle Nacht, manchmal drückte er seine Nase fast an das Fenster.
»Was siehst du da?« Das Buch war nicht spannend genug.
»Ich versuche, etwas herauszufinden«, murmelte er.
Er schlief in einem T-Shirt und Boxershorts, sie in einer abgetragenen Jogginghose und einem Tanktop. Es fiel ihr auf, wie unattraktiv sie waren. Shaw, der noch nie der fitteste Kerl gewesen war, wurde um die Mitte herum immer schlabbriger. Vielleicht würde mehr körperliche Arbeit – Holz hacken? Schnee schaufeln? – seinen ansonsten unförmigen, fischbauchweißen und mit Leberflecken übersäten Armen etwas mehr Muskeln verleihen. Und wenn Orla sich nicht bemühte, ihren eigenen Muskeltonus zu erhalten, würde sie am Ende noch staksiger aussehen. Ihr Top hatte fünf Zentimeter über dem Bauchnabel ein Loch, groß genug, um einen Finger hineinzustecken, und darunter etwas, das aussah wie Spaghettisoßenspritzer.
Ihr Sexleben hatte nach dem Beginn der Fortpflanzung nachgelassen, aber abgesehen davon, dass sie beide müde und beschäftigt waren, fehlte der ausklappbaren Schlafcouch im Wohnzimmer auch die Intimität ihres früheren Schlafzimmers, das zum Kinderzimmer wurde. Früher waren sie ziemlich abenteuerlustig gewesen und hatten sich ausgeklügelte Geschichten ausgedacht, in denen sie verschiedene Charaktere darstellten. Es hatte als eine Erweiterung von Shaws Schauspielunterricht begonnen, aber dann hatten sie ihre Szenarien mit dem sexuellen Element auf eine neue Ebene gehoben. Nachdem sie sich auf einer Parkbank oder in einem Café getroffen hatten, als Fremde, die entzückt die Entdeckung machten, wie gut ihre Gesprächsthemen harmonierten, landeten sie wieder in ihrer Wohnung, erotisch aufgeladen durch ihre neuen Rollen. Ihre Rollenspiele hatten auch ein therapeutisches Element; »Dorothy« und »Dashiell« konnten Dinge zugeben, die Orla und Shaw nicht zugeben konnten.
Sie hatten jetzt wieder ihre eigenen Schlafzimmerwände, ihre eigene Tür, ihr eigenes Bett, das keinem anderen Zweck dienen musste. Vielleicht war es an der Zeit, einige der alten Figuren wieder aufleben zu lassen oder neue zu erfinden.
»Was zeichnest du denn?« Sie gab das Buch auf und legte es beiseite.
Shaw blieb vertieft. Sie waren nur wenige Meter voneinander entfernt, aber ihr Mann schien eine Galaxie weit entfernt von ihr. Manchmal informierte er sie spätabends über die Fortschritte, die er mit seiner Serie machte, übersetzte die Symbolik seiner Bilder oder erläuterte die Entwicklung seiner Ideen. Aber dies war das erste Mal, dass er seine aktuelle Arbeit mit ins Bett brachte.
»Weißt du, was wir schon lange nicht mehr gemacht haben?«
Sein Kopf ruckte hoch, aber nicht als Reaktion auf ihre Frage. Er hastete rückwärts, als ob er vor etwas zurückweichen würde, bis er gegen das Bett stieß. Die Matratze wackelte ein wenig, als er sich draufplumpsen ließ, und seine Aufmerksamkeit war völlig woanders, als er auf etwas lauschte, das ganz sicher nicht Orla war. Welches Geräusch er auch immer verfolgte, es lag offenbar knapp jenseits seines Hörbereichs; er drehte ständig den Kopf, blinzelte, als wäre er plötzlich eine menschliche Satellitenschüssel, die nach einem Signal suchte. Es verursachte ihr eine Gänsehaut.
Sie hatte ihn das schon früher machen sehen. Und weniger auffällig hatte auch ihre Tochter dieses Verhalten gezeigt.
Damals in ihrem Apartment berichtete ihr Mann oder ihre Tochter manchmal, dass sie ein hohes elektrisches Summen hörten, das sie nicht wahrnehmen konnte. Und einmal, lange nach dem Vorfall mit den verfaulten Kartoffeln, schnüffelte Shaw im ganzen Wohnzimmer herum, weil er sicher war, dass er etwas Verbranntes roch; besorgt verfolgte er die Spur zur Kerze des Nachbarn, zwei Türen weiter im Flur. Was aber hatte er hier gehört? Mitten im Nirgendwo, wo sogar sie schon schwor, dass sie den Schnee fallen hören konnte?
»Babe? Was machst du denn?« Sie glitt zu ihm hinüber und sah auf das Skizzenbuch auf seinem Schoß, das von seiner eigenen Nachttischlampe beleuchtet wurde. Aber er hatte nicht gezeichnet. In einem unordentlichen Gekritzel sah sie einzelne Worte:
HINEIN!
Du
ich?
zusammen zusammen
MUSS!
hinein???
Sie streichelte seinen Rücken, ihr Hirn von unerwünschten Gedanken völlig aus dem Takt gebracht. Er sprang auf, als hätte sie ihn mit einem Eiszapfen gestochen.
»Tut mir leid …«
»Nein, ist schon in Ordnung.« Er schob das Skizzenbuch in seine Nachttischschublade. »Ich will das nicht mehr machen.«
»Shaw?«
Der dunkle Ghoul, der ihnen auf der Straße gefolgt war, berührte sie mit seiner scharfen Kralle. Was ist nur los mit ihm?
Er ging auf und ab, hielt sich die Hände über die Ohren. »Ich kann das nicht mehr tun, zwing mich nicht dazu, ich verstehe nicht, was ich …«
»Shaw, hey!« Er war noch nie geschlafwandelt, aber es schien, als wäre ihr Mann in einem Albtraum gefangen. Orla kniete auf dem Bett und griff nach seinem Handgelenk. Wahrscheinlich packte sie zu fest zu – er würde die blauen Flecken später sehen, die ihre Finger hinterließen –, aber es gelang ihr, ihn in die Gegenwart zurückzuholen. »Ist ja schon gut. Ich zwinge dich doch nicht, irgendwas zu tun. Was ist mit dir?«
Er ließ sich neben sie auf das Bett fallen und nahm sie in die Arme. »O Orla.«
»Bitte sprich mit mir.«
»Es ist nichts, es tut mir leid.« Er wandte sich etwas verlegen ab. »Ich habe zu viel gearbeitet. Wahrscheinlich hättest du nie gedacht, dass ich das mal sagen würde!« Er versuchte zu lachen.
Es war eine gewisse Erleichterung, dass er aus der Stratosphäre zurückgekehrt war und sich wieder wie er selbst anhörte. »Du hast immer hart gearbeitet, deine Energien in alle Richtungen gestreut. Aber jetzt bist du so konzentriert, vielleicht zu konzentriert? Du kannst nicht jede Minute eines jeden Tages arbeiten. Es ist kein Wettlauf.«
Er nickte. »Ich habe das Gefühl … manchmal … dass ich ein bisschen verrückt werde. Und manchmal gefällt mir das sehr, weil es sich so produktiv anfühlt, ich habe so viel Energie. Aber manchmal …«
Sie streichelte seinen Rücken. »Du musst dich nicht so sehr anstrengen. Das ist …«
»Ich habe das Gefühl, dass ich muss, dass ich gezogen werde … Manchmal möchte ich mich dagegen wehren, weißt du? Wir sind hier an diesem wunderschönen Ort und ich habe das Gefühl, dass ich dich und die Kinder kaum zu Gesicht bekomme, aber ich muss produktiv sein, das habe ich versprochen. Aber mir war nicht klar … Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe.«
»Wir sind alle noch dabei, unseren Weg zu finden. Atme einfach durch. Sei nicht so hart zu dir selbst. Atme.«
Er stieß einen immensen Seufzer aus und ließ sich zurück auf das Bett fallen. Während sie neben ihm kniete, konzentrierte er sich auf seinen Atem – ein, aus, ein, aus –, eine Technik, die er gelernt hatte, um seine Nerven zu beruhigen. Das rhythmische Geräusch beruhigte auch sie.
Sie blieb auf den Knien und atmete eine Weile mit ihm, ihre ungekämmten Haare hingen wie ein Vorhang um ihr Gesicht. Ihr Tanktop blähte sich unförmig, und sie kratzte an dem orangefarbenen Fleck.
»Würde es helfen, wenn ich mich ein bisschen mehr anstrengen würde, mich schön zu machen? Wir beide vielleicht. Sollten wir uns mehr anstrengen, jetzt, wo wir unser eigenes Zimmer haben? Vielleicht ist es das, was uns fehlt: Erinnerst du dich an Dorothy? Und Dashiell? Wir waren so kreativ; es war so erotisch. Wir haben es schon lange nicht mehr versucht.« Vielleicht war dies nicht die einzige Quelle seiner Angst, seines Stresses, aber es könnte etwas sein, etwas Greifbares, an dem er sich festhalten, an dem er arbeiten konnte.
Shaw blinzelte, ruhiger als zuvor. Er drehte sich auf die Seite und ließ seinen Blick über ihre vertraute Gestalt wandern; das brachte ihn in den Moment zurück. Er spielte mit einer Haarsträhne von ihr. »Was haben wir lange nicht versucht?«
»Wirklich die zu sein … Ich will nicht sagen, die wir waren, weil ich nicht in der Vergangenheit leben will. Aber vielleicht brauchst du genau das, dass ich eine andere bin. Und das ist die perfekte Gelegenheit. Hier draußen könnten wir uns ganz neue Charaktere ausdenken, die sich von denen unterscheiden, die wir in der Stadt gespielt haben.« Orla zupfte an ihrem Hemd. »Ich trage die abgeranztesten Klamotten, die ich besitze, im Bett.«
»Bequem. Du meinst die bequemsten Klamotten.«
Sie war mit einem Satz vom Bett und zog sich ihr Oberteil hastig über den Kopf. Shaw folgte ihr auf Schritt und Tritt mit den Augen. Sein Blick ruhte auf ihren steifen Brustwarzen, als sie ihm gegenüberstand.
»Wir sind nicht … Bequemlichkeit ist eine Sache. Mit diesem zerlumpten Stück Scheiße könnte ich eher den Badezimmerboden putzen.« Das fleckige Top baumelte von ihrer Hand.
»Du kannst gern nackt schlafen. Vielleicht lässt sich sogar die Tür abschließen.« Er fingerte an einem der alten Bücher herum, die sie auf dem Bett liegen gelassen hatte.
»Das ist ein guter Gedanke.« Oben ohne ging Orla zur Tür und rüttelte an dem Mechanismus unter dem Knauf. »Ich glaube nicht, dass er funktioniert.«
»Nun. Wir könnten es reparieren. Oder einen von diesen kleinen Haken besorgen; die sind leicht anzubringen. Oder du ziehst dir einfach ein bequemes Shirt an und kommst zurück ins Bett.« Sie ging ruhelos im Kreis herum. »Orlie, was ist denn los?«
»Nichts.« Sie kramte in der Kommode und zog ein altes, aber nicht völlig zerfetztes T-Shirt von der Mermaid Parade heraus.
»Es tut mir leid. Ich habe das Gefühl, ich bin … ansteckend«, sagte er.
Während sie sich das Shirt über den Kopf zog, blies sie langsam Luft durch ihre aufgeblähten Wangen. War das ein schlechter Zeitpunkt? Sie wollte die Intimität eines echten Gesprächs, besonders seit Shaws Verhalten so sprunghaft geworden war. Aber sie zögerte, Flammen zu schüren, die sie nicht zu schüren brauchte, aus ebendiesem Grund.
»Es liegt nicht an dir oder an deiner Arbeit. Oder an diesem Ort. Hinter alldem stehen immer noch wir. Wir . Weißt du … Es ist einfach, sich Bluejeans und mottenzerfressene Wollpullover vorzustellen, und beide Kinder tragen jahrelang nur die abgelegten Jungsklamotten ihrer Cousins. Und wir machen uns nicht mehr die Mühe, uns die Haare schneiden zu lassen, und es ist uns egal, was gerade in Mode ist … und vielleicht ist das auch gut so. Aber wenn wir so werden … nur noch das Nötigste … Ich will nicht, dass wir die verlieren, die wir waren. Wir hatten unsere eigene Art von Coolness, oder nicht?«
»Ich glaube, schon.«
»Und es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass ich wirklich zur Frau vom Mann in den Bergen werde.«
Shaw lachte. »Wir sind nicht auf einem Berg.«
»Zur Frau auf dem bewaldeten Hügel dann eben.«
»Mit Ranken im Haar, Löwenzahntee kochen. Kein Deo, kein Zähneputzen. Stinkende Naturfrau. Das könnte eine lustige Figur sein, die man erforschen könnte, halb wild …«
»Ich bin froh, dass du das lustig findest.« Sie klang nicht froh, aber sie kroch zurück auf das Bett, mehr durch seine Leichtigkeit getröstet, als sie ausdrücken konnte, durch die Rückkehr seines Humors. Halb gegen seine Knie gelehnt nahm sie seine Hand in ihre. »Es geht aber um mehr als das …«
»Ich weiß.«
»Es geht um uns. Das ist etwas, auf das wir uns konzentrieren können. Ich will nicht, dass wir …«
»Völlig schlampig werden?«
»Das ist nur der einfache Teil. Es ist ein Gleichgewicht. Und manchmal, miteinander … ein Meerjungfrauen-T-Shirt? Und das ist schon ein Fortschritt? Als Ehemann hättest du vielleicht ein bisschen mehr Einsatz von mir verdient.«
»Ich mag Meerjungfrauen.«
»Trotzdem.«
»Und vielleicht möchtest du auch bloß ein bisschen mehr Einsatz von mir?«
»Wir müssen einfach im Einklang sein, und zwar nicht so, dass wir einander gemeinsam gleichgültig werden.«
»Nein, ich weiß. Du hast ja recht. Ich denke auch manchmal darüber nach. Ich hatte all meine schicken Klamotten, und ich mochte es, mich für besondere Anlässe anzuziehen …«
»Du sahst gut aus in deinen schicken Klamotten …«
»Und ich habe keinen Schimmer, wohin wir hier ausgehen können. Es wird anders.« Er rieb über den Knöchel ihres Daumens.
»Ich meine, ich verstehe, dass wir etwas anderes machen«, sagte sie. »Aber während wir uns verändern, gibt es immer noch einen Teil von uns, der es vielleicht nicht tut, weißt du? Es kann sein, dass wir Dinge aus unserem alten Leben vermissen, und darauf müssen wir vorbereitet sein und das nicht als Rückschlag empfinden. Aber es gibt vielleicht auch andere Teile, die sich ändern sollten , es aber nicht tun, wenn wir uns nicht ein wenig anstrengen. Wir haben uns an eine bestimmte Art des Zusammenseins gewöhnt. Und oft ist es so – um dein Wort zu benutzen – bequem. Und das ist gut, aber ich möchte nicht, dass es sich anfühlt wie Aufgeben. Vielleicht müssen wir noch ein bisschen mehr tun, zumindest darüber reden, was wir wollen. Was wir von unserem Sex erwarten, ob es nun neue Fantasien sind oder nicht. Was wir brauchen. Denn hier ist alles anders. Wir können dies zu einer Gelegenheit machen, alte Muster zu ändern … und das könnte wirklich gut für uns sein.«
Sie liebte es, wenn er ihr so intensiv in die Augen blickte; dann wusste sie, dass er ihr wirklich zuhörte.
»Nein, du hast recht.« Er rückte weiter nach unten, sodass sie aneinandergekuschelt lagen, die Gesichter auf gleicher Höhe. Er gab ihr einen zarten Kuss auf die Lippen. »Wir sollten uns auf jeden Fall bewusster machen, was mit uns los ist. Diese Gelegenheit nutzen, um uns gemeinsam weiterzuentwickeln.«
»Das ist es, was ich will.«
»Ich auch.« Er lächelte sie verträumt an. »Du bist wunderschön, sogar in einem Meerjungfrauenhemdchen. Danke, dass du auf mich aufpasst. Auf uns.«
»Immer.« Sie schaltete ihre Lampe aus und kuschelte sich neben ihm zurecht, wobei sie die Decken unter den Achseln hochzog.
Nach einigen langen Momenten, in denen sie ihren Gedanken nachhing, wusste Orla, dass sie noch nicht ganz bereit für den Schlaf war. Neben ihr blätterte Shaw in einem der Geschichtsbücher, aber sie hatte ein anderes Thema, das sie beschäftigte. »Glaubst du, Eleanor Queen geht es gut?«
Shaws Mund verzog sich zu einem halben Grinsen. »Sie war auf jeden Fall nicht glücklich darüber, dass du sie nach Hause mitgenommen hast.«
»Sie war so still beim Abendessen. Und als ich ihr einen Gutenachtkuss gab, hielt sie nur ihr Buch in der Hand und starrte ins Leere.« Wie du.
»Sie wird drüber hinwegkommen.«
»Es fühlte sich seltsam an, Shaw, da draußen. So wie manche Dinge hier manchmal …«
»Ist etwas passiert?« Seine Stimme war sofort wieder schärfer und er klappte das Buch zu.
»Nichts Eindeutiges. Nur etwas, das ich gespürt habe. Ich nehme jetzt alles so überdeutlich wahr, bin immer auf der Hut. Und die Art, wie Eleanor Queen … Ich weiß, du willst nicht, dass ich, dass wir Angst haben, aber ich weiß wirklich nicht, was ich denken soll, und manchmal … macht es mir eben Angst.«
Falls sie gehofft hatte, er würde ihre Sorgen mit sanften Worten zerstreuen, ihr irgendetwas erzählen, das alles erklärte, was er auf einer aktuelleren Wetter-App gefunden hatte, so geschah das nicht. Stattdessen spürte sie, wie er den Atem anhielt. Sie rückte noch enger an ihn heran und wartete darauf, dass er sprach.
»Meine Träume haben sich verändert«, flüsterte er. »Früher waren sie so gut, ich fühlte eine solche … Wärme. Bevor wir hierherkamen. Und jetzt …«
»Albträume?« Er nickte. »War es das, was letzte Nacht passiert ist? Bist du deshalb nach unten gegangen?«
»Es war einer dieser Träume, in denen das, was man sieht, nicht wie etwas offenkundig Beängstigendes scheint. Aber wie du gesagt hast, es fühlt sich dennoch so an . Ich fühle immer wieder – letzte Nacht, aber sonst wiederholt – ein Herz, das stehen bleibt. Eine Kälte, die eindringt. Das genaue Gegenteil der Wärme, die ich früher empfand, wenn ich hiervon träumte.«
»Die Träume handeln immer noch von hier?«
»Ich glaube, schon. Ich habe letzte Nacht so gefroren, und ich hatte das Gefühl, dass der Traum mir etwas sagen wollte, dass die Zündflamme im Ofen ausgegangen ist oder so. Aber als ich in den Keller ging, war alles in Ordnung. Aber ich spüre es die ganze Zeit. Dieses Gefühl, dass ich etwas tun soll. Und so male und arbeite ich weiter, weil es sich sinnvoll anfühlt, weil ich dann eben etwas tue … aber das Gefühl geht nie weg.«
Orla wusste nicht, was sie denken sollte. Da war die offensichtliche Interpretation: Er hatte Zweifel am Umzug. War es zu früh, um ihm vorzuschlagen, die Zelte wieder abzubrechen? Es war ja nicht so, dass sie nicht selbst schon darüber nachgedacht hätte, ungeachtet der finanziellen Folgen und so weiter. Menschen machten Fehler, das kam vor. Sie konnten sich einig sein, die Schläge einstecken und es woanders noch einmal versuchen. Aber der hartnäckige Teil von ihr wollte nicht aus ihrem neuen Zuhause vertrieben werden, nur weil sie mit einer so fremden Umgebung nicht zurechtkamen. Reiß dich zusammen. Sie könnten sich doch daran gewöhnen, oder? Wären da nicht die wiederkehrenden Momente, in denen sie (und sogar ihre Tochter) auf unterschiedliche Weise Dinge benannten, die sich nicht erklären ließen.
»Wird das Gefühl weggehen?«, fragte Orla, die nicht wusste, wie sie ihre Gedanken in Worte fassen sollte. »Vielleicht gewöhnen wir uns daran und …«
»Ich hatte nicht erwartet, dass sich das wie eine außerkörperliche Erfahrung anfühlt. Aber manchmal … Bitte versteh das nicht falsch …«
»Das werde ich nicht.« Aber alles in ihr hielt inne, aus Angst vor dem, was er sagen würde.
»Manchmal denke ich … vielleicht würde das Gefühl der Verrücktheit verschwinden, wenn ich einfach etwas aus unserem alten Leben sehen, tun, fühlen könnte, etwas Vertrautes. Ich wüsste wieder, wer ich bin und wo ich hingehöre.«
Endlich eine handfeste Wahrheit, greifbarer als alles andere, worüber sie gesprochen hatten. »So geht es mir auch.«
»Wirklich?« Er klang so überrascht.
»Genau so. Dieser Verlust der Bodenhaftung. Es ist mehr als nur das Fehlen einer Routine; es ist das Gefühl … das Fehlen von allem, was Teil unseres täglichen Lebens war. Aber vielleicht würde ich mich überall so fühlen, egal wo wir sind. Das einzig Regelmäßige, das ich bisher habe, ist, dass ich jeden Tag runtergehe, um die Post zu holen.« Es war eine Erleichterung, dass sie, obwohl sich so viel verändert hatte, immer noch im Einklang waren: Sie fühlten die gleichen Verluste, brauchten die gleichen Annehmlichkeiten.
Er legte seinen Arm um sie und zog sie noch enger an sich. »Alles wird sich einpendeln. Mit der Zeit wird das zur neuen Normalität werden, und dann wird sich nichts mehr seltsam anfühlen.« Sie hörte, wie er versuchte, sich selbst zu überzeugen, aber etwas Hoffnungsvolles, Optimistisches hatte gerade fruchtbaren Boden gefunden.
Sie küsste ihn auf die Nasenspitze, auf seine Lippen. »Wir werden neue Routinen entwickeln, bei denen du nicht 24 Stunden am Tag malen musst. Und wir, oder zumindest ich, müssen aufhören, es immer zu vergleichen …«
»Das tun wir beide. Autsch.« Er rückte ein wenig von ihr ab; zwischen ihnen lagen Orlas gerettete Bücher. Mit einer Hand hob er sie auf, dann drehte er sich um und ließ sie neben das Bett fallen.
Sie klatschten auf den Boden und Orla zuckte zusammen, besorgt um die zerbrechlichen Buchrücken und vergilbten Seiten. Sie erwartete, dass er sich ihr wieder zuwandte, sie küsste und mit dem dringend benötigten Vorspiel begann, das sie in den letzten Monaten so selten hatten. Schon jetzt spürte sie ein Kribbeln zwischen ihren Beinen. Doch das Kribbeln verwandelte sich in ein Kribbeln der Angst, als Shaw neben ihr plötzlich erstarrte, dann nach Luft schnappte und aus dem Bett stürzte.