16

Orlas erster Gedanke war, dass es wieder passierte, diese Sache, die ihn mitten in einem alltäglichen Moment aus der Realität zu reißen schien. Nicht alltäglich, sondern jedes Mal, wenn wir uns endlich das Herz ausschütten. Könnte es das sein? Eine bizarre Reaktion auf ihre Intimität? Es war im Wohnzimmer passiert, an dem Abend, nachdem er sich verlaufen hatte, und heute Abend wieder. Ein albtraumhafter Zauber, bei dem er für einen Moment weit weg war und sich vor etwas fürchtete, das in ihrem eigenen bewusst wahrgenommenen Umfeld nicht existierte. Sie krabbelte zu seiner Seite des Bettes hinüber, halb in der Erwartung, ihn auf dem Boden liegend und krampfend vorzufinden.

Aber nein.

Er hockte dort, eins der Bücher in der Hand, und sah überglücklich aus.

»Ich habe es richtig getroffen!« Er sprang auf und hüpfte zurück aufs Bett. »Krasser Scheiß! Ich habe es ganz genau getroffen!«

»Was hast du …«

Er zeigte ihr eine Seite aus dem Buch, ein schwarz-weißes Foto. »Das ist der Schornstein, sieh doch nur! Und die Hütte, die ich gemalt habe, sie sieht genauso aus!«

»Ist das dein Ernst?« Shaw wollte das Buch nicht aus der Hand geben, aber sie zerrte es lange genug in ihre Richtung, um die Seite zu sehen. Er hatte eine fast identische Version der Hütte gemalt in diesem … Was war das für ein Buch? Mit zusammengekniffenen Augen entzifferte Orla den verblassten Titel auf dem Buchrücken: Die Besiedlung des Dorfes Saranac Lake.

»Das ist der Schornstein, den ich entdeckt habe.«

»Das muss ein Zufall sein. Na klar, du hast recherchiert, wie es aussehen könnte, aber das kann nicht wirklich das Gebäude sein, das auf unserem Land stand.«

Shaw las murmelnd vor: »In den 1880er-Jahren … vor der Einrichtung des Sanatoriums …« Und dann, laut und triumphierend: »Man nannte sie Heilungshäuschen in den umliegenden – das ist es, Orlie, das ist genau das Gebäude, das ich gefunden habe. Das habe ich gemalt. Ich meine es todernst: Das ist unser Land!«

Schließlich drehte er das Buch ganz zu ihr um und tippte aufgeregt mit dem Finger auf das Bild. Jetzt sah sie ihn: den hoch aufragenden Baum, damals deutlich gesünder als heute, selbst in Schwarz-Weiß, aber allem Anschein nach der Baum hinter ihrem Haus. Im Vordergrund, viel näher an der Kamera, stand ein halbes Dutzend blasser, grimmiger Frauen in einer Reihe neben einem schnauzbärtigen Mann mittleren Alters. Ein paar der Frauen sahen recht jung aus, vielleicht Teenager, und sie trugen alle einfache viktorianische Gewänder, aber immer mit Korsett. Hinter ihnen befand sich ein blockhausähnliches Gebäude mit einem steinernen Schornstein – und es sah tatsächlich aus wie auf Shaws Gemälde.

»Das ist echt?« Trotz ihres Schocks begann sich das Bild in ihrem Kopf zusammenzufügen, und das fühlte sich richtig an.

»Es war ein Tuberkulose-Kurhaus. Ich glaube, sie hatten diese Häuschen in der Gegend, bevor sie das große Sanatorium gebaut haben.«

»Was steht da noch?« Sie knieten nun beide aufgeregt auf dem Bett.

Er überflog schnell die Seite mit dem Foto und die nächste Seite mit dem Text. »Nicht viel … Ich schätze, die Leute kamen aus New York City. Außer der Bildunterschrift steht da nicht viel über die Hütten selbst.« Er war einen Moment lang vertieft ins Lesen.

Es war ein bemerkenswertes Stück hyperlokaler Geschichte, und Orla begann Puzzleteile zusammenzufügen, aber war sie verrückt, weil sie sich das so zusammenreimte? »Kann ich es noch einmal sehen?«

Er reichte ihr das Buch. Die Bildunterschrift bezeichnete nur den Mann, einen Arzt, und nannte keinen bestimmten Ort. Aber mit diesem Baum …

»Das könnte es sein, Shaw.«

»Ich weiß!«

»Nein, ich meine, das könnte der Grund für alles sein.«

»Das ist es auch, was ich meine. Menschen kamen hierher und starben an Tuberkulose. Praktisch in unserem Hinterhof.«

Früher hätte sie so etwas vielleicht nicht geglaubt, aber jetzt schien es möglich: »Vielleicht wird unser Land von Menschen heimgesucht, die hier gestorben sind?«

Sie saßen einen Moment lang da und ließen diese Aussage sacken. Orla war sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Bei all den Dingen, die sie in Betracht gezogen hatte: Ein Spuk war nicht darunter gewesen. Vielleicht lag das aber auch an der Vielfalt und dem Ausmaß dessen, was sie bereits erlebt hatten; ein Spuk bedeutete nach ihrer begrenzten Erfahrung ein Wesen, nicht viele.

»Vielleicht zeigen sie uns irgendwie … einen Teil von sich, ihre Seelen oder wer sie waren«, überlegte sie und dachte an die seltsamen und schönen Dinge, die sie gesehen hatte.

»Sie haben mir das hier gezeigt.« Er zeigte wieder auf das Bild. »Jetzt verstehe ich es besser, dieses Verlangen, das ich gespürt habe: Sie wollten, dass wir wissen, dass sie hier sind. Sie wollten, dass ich mir ihrer bewusst bin, dass ich sie sehe

»Es scheint fast plausibel«, stimmte sie zu, nicht ganz sicher, wovon sie eigentlich sprach. »Und sie scheinen nicht wie … böse Geister zu sein. Es sind keine Poltergeister, die durch das Haus rasseln. Aber es ist trotzdem irgendwie furchtbar.«

Shaw legte das Buch diesmal sanfter auf den Boden und ließ sich dann mit der Erleichterung eines Mannes, dem man einen Dämon erfolgreich ausgetrieben hatte, auf das Bett fallen. »Es ist nicht das Haus, das diese Schwere trägt, es ist das Land. Und als sie die Leute damals wegen der Schönwetterkur hierherschickten – wie komisch ist das denn, saubere Luft, schätze ich mal –, hatten sie medizinisch nichts anderes zu bieten. Es ist so traurig. Und ich weiß, dass es schrecklich ist, aber … seit wir hier sind, war da dieses seltsame …«

»Ich weiß.«

»Gefühl . Diese Energie in der Luft. Aber das jetzt, damit können wir arbeiten. Vielleicht sind sie einsam, oder … wenn ihre Seelen umherspuken, suchen sie vielleicht nach einer Art Auflösung, einer Klärung.«

Orla sah, worauf er hinauswollte, aber sie war noch nicht ganz so weit, den nächsten Schritt in Erwägung zu ziehen, nämlich die Frage, wie sie die Geister in ihrem Wald besänftigen könnten. Aber es fühlte sich an, als wären sie ein Stück weitergekommen. Mit dieser neuen Möglichkeit im Kopf wollte sie an alles, was geschehen war, zurückdenken, egal in welche Kategorie es gehörte – gruselig, fantastisch, verwirrend, vielleicht sogar zufällig –, und es durch diese neue Brille betrachten. »Ich muss darüber weiter nachdenken, alles noch mal …«

»Morgen gehe ich online und schaue, ob ich noch mehr über …«

Der Schrei von Eleanor Queen unterbrach ihn. »Mama!«

Orla rutschte auf den Knien an den Rand des Bettes und blickte in den Flur, von wo der Schrei gekommen war. »Hier drinnen, Liebes!«

»Papa.«

Eleanor Queen schlüpfte mit einem gequälten Ausdruck herein. Sie trug einen flauschigen, mit Kaninchen bedruckten Fleece-Pyjama.

»Was ist denn los?« Orla legte sich zurück und hob die Decke an, damit ihre Tochter neben sie kriechen konnte.

»Schlecht geträumt, Bean?«, fragte Shaw.

»Mh-hm.« Orla drückte sie fest an sich, und Shaw stützte sich auf seinen Ellbogen und rieb seiner Tochter über den Rücken. »Es war sehr, sehr, sehr schrecklich.«

»Schhh.« Orla wiegte Eleanor Queen in ihrem Arm, während sie sich ausweinte.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie zu Albträumen neigte, zu erschreckend realen Szenarien, in denen sie häufig von einem Taxi überfahren wurde. Eleanor Queen behauptete, sie habe gespürt, wie es ihre Knochen zermalmte. Sie schrie dann um Hilfe. Es war Orla und Shaw schwergefallen, ihr zu versprechen, dass so etwas im wirklichen Leben nie passieren würde, zumal sie im Laufe der Jahre schon mehrere Male mit aggressiven Fahrern zu tun gehabt hatten und solchen Unfällen knapp entgangen waren. Selbst als versierte, schnell gehende Stadtbewohner konnten sie nichts gegen ein Auto ausrichten, das extra schnell abbog, um dem Schwarm von Fußgängern zuvorzukommen.

»Hier draußen gibt es keine hektischen Straßen, du bist also sicher«, sagte Orla tröstend.

»Es ging nicht um New York, es ging um hier.« Sie schniefte ein wenig, und ihre Tränen versiegten.

Orla und Shaw wechselten einen Blick. »Was ist denn passiert, Bean?«, fragte er.

»Das Haus …« Ihre Augen weiteten sich, als sie sie ansah, und dann verzog sich ihr Gesicht erneut.

»Im Haus bist du sicher«, sagte Shaw. Er klang zuversichtlich dank der neuen Gewissheit, dass ihre Probleme quasi nur die unglückliche Folge davon waren, dass ihr Haus zu nahe an einem Heilungshäuschen lag, das keine Heilung geboten hatte.

Eleanor Queen schüttelte den Kopf. »Da war Eis, wie ein Fluss, der das Haus umgab. Und das Haus brach auseinander und fiel ins Wasser. Und wir waren drinnen, alle zusammengepfercht, und wir wurden … Das Eis wollte uns erdrücken, oder wir wären in das kalte Wasser gefallen und erfroren. Tycho hat geweint. Und dann fiel Papa durch den Boden!«

Sie konnte nicht weitersprechen und Orla hielt sie fest.

Die feinen Härchen auf Orlas Armen und im Nacken stellten sich auf. Eleanor Queen hatte als Kind immer so realistische Albträume gehabt, aber was war das mit ihrem Haus? Und Eis?

»Ist schon gut«, sagte Shaw mit beruhigender Stimme. »Es war nur ein Traum.«

»Es war echt«, jammerte Eleanor Queen.

»Es fühlte sich bloß ganz echt an – so sind Träume nun mal.« Aber Orla war sich jetzt nicht mehr so sicher wie früher. Vielleicht zapfte ihre Tochter die verbleibenden Energien von Menschen aus längst vergangenen Zeiten an, aber wenn sie ihr immer noch Albträume bereiten konnten, war das ein sehr reales und unmittelbares Problem.

»Weißt du was? Ich hatte vor ein paar Nächten einen Traum, der so ähnlich war.« Stimmte das? »Aber in meiner Version tauchte ein großes Boot auf, und ich half euch allen hineinzuklettern …«

»Ich will nicht, dass wir sterben.« Obwohl die Stimme von Eleanor Queen durch die Decken gedämpft wurde, war die klagende Verzweiflung deutlich herauszuhören.

»Uns geht es gut, du …«

»Es gibt ein britisches Sprichwort«, warf Shaw ein und fiel Orla ins Wort. »Safe as houses. So ein Haus ist ganz sicher.«

Orla war sich ziemlich sicher, dass der Ausdruck etwas mit Geldanlagen zu tun hatte, nicht mit der physischen Sicherheit tatsächlicher Häuser. Aber das hier war noch schlimmer, als wenn sie versucht hatten, ihre Tochter wegen der Taxis zu beruhigen, weil ihre Worte so furchterregend waren. Die Bedrohung durch die Taxis zwang sie zu besonderer Wachsamkeit, und sie machten Eleanor Queen immer auf ihre achtsame Vorsicht aufmerksam. »Siehst du, ich gucke dem Taxifahrer in die Augen und er lässt uns durch.« Was aber könnten sie ihr sagen, um ihr die Angst zu nehmen, in ihrem neuen Haus zu Tode gequetscht zu werden? Orla war nicht sicher, ob Shaw die Wahrheit über seinen eigenen Traum erzählte oder einfach nur versuchte, im Moment das Richtige zu tun und seine Tochter zu trösten. Aber sie zog seine Version vor, die zumindest die Möglichkeit einer Rettung beinhaltete, dass sie alle es lebend hinaus schaffen würden.

Schließlich sank Eleanor Queen in den Schlaf.

»Sie spürt es auch«, flüsterte Orla. »Wie sollen wir das erklären? Das ist nicht fair …«

»Ich weiß, aber wir können das jetzt angehen, jetzt, wo wir besser verstehen, was hier los ist. Ich fühle mich wirklich hoffnungsvoller. Morgen früh werde ich als Erstes online gehen. Wir kriegen das schon hin, Orlie.« Er küsste ihre Wange und dann die von Eleanor Queen, bevor er sich streckte, um seine Lampe auszuschalten.

Es wäre zu viel gesagt, dass sie sich ermutigt fühlte, aber es würde sicherlich helfen, dass Shaw wieder ganz bei ihr und ein echter Partner war. Sie schloss die Augen, als er sich an sie schmiegte, verlässlich und warm in der Dunkelheit. Bis seine Wärme sie an seinen Albtraum denken ließ, an eine hereinsickernde Kälte, an ein Herz, das stehen blieb, und an Eleanor Queens Angst, dass sie alle an diesem Ort sterben würden. Sie lag lange Zeit wach, hielt ihr Kind im Arm und zählte Eleanor Queens Atemzüge. Es beunruhigte sie mehr, als sie sich jemals erlauben würde auszusprechen.

Was, wenn sie das Problem nicht lösen konnten?

Was, wenn sie sie nicht beschützen konnten?