17
Zuerst dachte sie, es sei ein Teekessel. Da sie noch schlief, registrierte ihr Verstand nur ein schrilles und anhaltendes Jaulen. Doch als sie richtig zu sich kam, wurde Orla der leeren Stelle neben sich gewahr, wo Eleanor Queen die Nacht verbracht hatte. Und Shaw lag immer noch auf ihrer anderen Seite, ein warmer Klumpen. Niemand kochte Tee; es war ihre Tochter, die Alarm schlug.
Sie und Shaw stürzten beide aus dem Bett. Auf halbem Weg die Treppe hinunter in Richtung Schrei hörten sie Tycho aus seinem Zimmer rufen: »Wir haben drei Meter Schnee!« Genau wie beim letzten Mal sah er darin einen Grund zur Aufregung. Und galoppierte hinter ihnen her.
Sie fanden Eleanor Queen im abgedunkelten Wohnzimmer.
Das Mädchen stand mit dem Gesicht zur Vorderseite des Hauses. Shaw ging neben ihr in die Knie und vergewisserte sich kurz, dass es ihr körperlich gut ging. Orla konnte sich die Dunkelheit im Zimmer nicht erklären. Oben war Tageslicht durch die Jalousien in ihr Schlafzimmer gedrungen. Sie dachten selten daran, die Vorhänge zu schließen, die sie unten angebracht hatten, warum also war es hier drin wie in der Nacht? Und in der Küche war es genauso dunkel. Die Befremdlichkeit war bedrückend und machte den schattigen Raum so unheimlich, dass auch Orla schreien wollte.
Tycho hüpfte auf und ab und zeigte auf das vordere Fenster. »Drei Meter Schnee!«
Und dann begriff Orla. Das Erdgeschoss war so dunkel, weil … »Er hat recht. O mein Gott, wir können nicht aus dem Haus!«
Als Orla in Panik geriet, stieß Eleanor Queen ein letztes Quietschen aus, verstummte dann und lehnte sich kraftlos an ihren Vater. Orla öffnete die Eingangstür und sah nur eine weiße Wand.
»Mach wieder zu!«, rief Shaw.
Sie schloss die Tür, ohne seine Dringlichkeit zu verstehen. Die Falschheit von allem – die Vorahnung ihrer Tochter, der Schnee, das Eingesperrtsein – verursachte ihr eine Gänsehaut, und sie wollte diese Haut nur noch abstreifen, sie beiseitelegen wie ein verschwitztes Trikot und in einer anderen Realität aufwachen.
»Schlafen wir noch?« Die Worte entschlüpften ihrem Mund, aber Orla war erleichtert, dass niemand sie gehört zu haben schien. Wenn es nur so einfach wäre.
Eleanor Queen klammerte sich an ihre Mutter, als Shaw sie losließ. Er ging von einem Fenster zum nächsten. In dem unbeleuchteten Raum sah jedes aus, als wäre es von außen mit gräulichem Beton besprüht worden.
»Sie sollten halten. Die halten das aus. Wir werden den Tag oben verbringen. Und niemand öffnet die Türen!«
»Warum, Papa?«, wollte Tycho wissen.
»Wenn der Schnee hereinsackt, können wir sie vielleicht nicht mehr schließen. Komm schon, geh nach oben, geh schon vor in unser Zimmer.«
»Wir bringen dir gleich Frühstück«, sagte Orla und versuchte, ihre elterliche Gefasstheit wiederzuerlangen. »Ist schon gut.« Sie streichelte Eleanor Queen mit einer Hand über den Rücken und versuchte, sie mit der anderen von sich wegzuziehen.
»Mein Traum wird wahr«, jammerte diese und umklammerte das T-Shirt ihrer Mutter.
»Nein, tut er nicht. Es ist nur Schnee. Aber wir haben alles drinnen, was wir brauchen.« Sogar ihre neue Schaufel war im Keller, Gott sei Dank. Orla gefiel es nicht, dass Shaw wie ein aufgescheuchtes Tier im Zimmer herumlief. Das machte es für sie noch dringlicher, die Kinder nach oben zu bringen, damit Shaws Unruhe ihre Bemühungen, sie zu beruhigen, nicht zunichtemachte. »Und das Haus ist stabil, und wir machen alle gemeinsam eine Pyjamaparty in unserem Zimmer oben …«
» Können wir draußen spielen?«, fragte Tycho und sprang auf der Stelle auf und ab.
»Heute nicht, Tigger.« Orla nahm ihn an der Hand und zerrte seine Schwester halb zur Treppe. »Geht nach oben, wir kommen gleich nach. Bitte, Eleanor Queen, es ist alles in Ordnung. Passt du auf deinen Bruder auf?«
»Komm und sieh es dir von meinem Zimmer aus an!«, drängte Tycho und ergriff die Hand seiner Schwester. Eleanor Queen ließ sich von ihm ziehen, obwohl sie ihre Eltern mit einem Blick des puren Elends bedachte.
»Wir kommen gleich hoch, versprochen«, sagte Orla.
Sie und Shaw blickten an die Decke, als über ihnen kleine Schritte über den Boden trabten, und einen Moment später begann Tycho, für seine Schwester alles aufzuzählen, was er von seinem Fenster aus sehen konnte – und was nicht.
»Was passiert hier?« Orla bemühte sich nicht mehr, die Ruhe in ihrer Stimme zu bewahren. »Hätten wir so viel Schnee bekommen sollen? Ist es überhaupt möglich, dass es so viel schneit?«
Shaw knipste eine Lampe an und ließ sich auf die Couch fallen. Er riss immer wieder die Augen auf, als wollte er besser fokussieren oder wacher blicken. »Es war nicht im Wetterbericht. Ich verstehe nicht, was mit diesen beschissenen Prognosen los ist. Aber es ist möglich. Oswego hat 2007 drei Meter abbekommen, allerdings dauerte der Sturm auch mehrere Tage. In einer anderen Stadt waren es fast vier Meter. Und keine Sorge, denen ist nichts passiert. Sie wurden mit Schneepflügen …«
»Wird uns jemand ausgraben?«
Shaw rieb sich mit dem Handballen über ein Auge. Er nickte, als wollte er sich selbst von einem inneren Argument überzeugen. »Ich kann raus. Durch eines der Fenster im Obergeschoss. Ich kann mich vergewissern, dass das Dach in Ordnung ist, und zu schaufeln anfangen …«
»Können wir nicht jemanden anrufen, der uns hilft?« Orla wartete nicht auf eine Antwort von ihm. Sie stürmte in die Küche und nahm den Telefonhörer in die Hand. Sie drückte auf die Tasten. Kein Freizeichen. Keine beruhigenden Pieptöne. »Es funktioniert nicht.«
»Der Schnee hat wahrscheinlich die Schüssel begraben. Oder hat sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Wir versuchen es von oben mit unseren Handys …«
»Das ist nicht normal.« Sie marschierte zurück ins Zimmer, um ihm ins Auge zu blicken. In ihr herrschte eine Leere, als wäre sie am Verhungern, aber das, was fehlte, war nicht das Essen. Nichts fühlte sich real an. Ihr wurde ein wenig schwindlig, und der Raum begann sich zu drehen und zu wackeln, und plötzlich war es allzu leicht, sich vorzustellen, dass der Traum von Eleanor Queen wahr wurde und die Wände einstürzten. »Können Geister so was …«
Sie streckte die Arme aus, während sie schwankte und ihr Gleichgewicht zu halten versuchte. Shaw sprang auf und packte sie.
»Das ist definitiv nicht normal, aber es kann hier passieren. Es kommt nicht oft vor, aber vor ein paar Jahren gab es in Buffalo an einem einzigen Nachmittag über einen Meter Schnee. Das war allerdings im Westen des Staates.« Er war sich so sicher, dass es eine logische, realistische Erklärung gab, aber Orlas Ängste drifteten in eine andere Richtung. »Sie haben schweres Gerät und Schneepflüge und Schneeräumung …«
»Wir sitzen also einfach hier? Und warten?«, fragte sie und hielt sich an seinem Ellbogen fest, immer noch etwas unsicher auf den Beinen.
»Vorerst ja.«
Sie sah, wie er mit seiner Angst vor etwas sehr, sehr Realem kämpfte. Diese Schneemenge war katastrophal. Lebensbedrohlich. Er begann wieder auf und ab zu gehen.
Die dunkle Gestalt, die am Rande ihres Blickfelds gelauert hatte, trat in ein Scheinwerferlicht: Vielleicht waren die Dinge, die geschahen, nicht völlig zufällig. Angst schoss aus ihrem Herzen und ließ die Kälte in ihre Glieder strömen. Die Theorie von gestern Abend erschien ihr jetzt lächerlich, wie Kinderkram, denn das, was geschah, fühlte sich noch viel mächtiger an, noch … absichtlicher.
»Du wolltest heute online gehen.« Sie dachte laut nach.
»Das wird offensichtlich nicht passieren.«
»Es hat dich aufgehalten. Und Tycho – wie oft hat er, seit wir hier sind, nach drei Metern Schnee gefragt?« Plötzlich schien es möglich, ebenso möglich wie alles andere, dass sie letzte Nacht das Deckelbild für die falsche Schachtel mit Puzzleteilen gefunden hatten. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes, aber sie konnte es nicht klar …
»Was soll das heißen? Du glaubst doch wohl nicht, dass Tycho daran schuld ist?«
»Nein, natürlich nicht, ich bin nur … Es passieren immer wieder Dinge!« Sie wusste, dass sie nicht so sehr von ihrer Umgebung beeinflusst wurde wie ihr Mann und ihre Tochter, aber auch sie hatte etwas gespürt – etwas Größeres – und hatte auf ihre Weise versucht, Gründe dafür zu finden. Das Vorhandensein eines Tuberkulose-Kurhäuschens in ihrem Hinterhof war sicherlich interessant, aber was, wenn …?
Sie hatte ein Winterwunderland mit den fantastischen Bildern erwartet, die sie aus Filmen kannte, und sie hatte befürchtet, ihr altes Leben zu vermissen und sich in ihrem neuen Leben nicht zurechtzufinden. Und hier waren sie nun, umgeben von Winter und Furcht.
»Vielleicht haben wir … das heraufbeschworen. Irgendwie. Aus Versehen.«
»Wovon redest du denn? Du klingst wahnsinnig. Wir haben den Kindern Frühstück versprochen.« Er schritt in die Küche und schaltete das Deckenlicht ein.
Vielleicht klang sie wirklich irre; so fühlte sie sich auch. Aber dies war nun auch eine ganz neue Stufe der Krise. Sie folgte ihm in die Küche, wo er bereits dabei war, Brotscheiben in den Toaster zu schieben.
»Erinnerst du dich an das Buch, das wir gelesen haben? The Secret – Das Geheimnis? Damals, als alle es gelesen haben? Darüber, wie deine Gedanken, wenn du dich auf die richtigen Dinge konzentrierst, deine tiefsten Sehnsüchte herbeizaubern können?« Die Menschen knieten jeden Tag nieder und beteten zu einem Gott, von dem sie glaubten, er könne sie erhören und ihre Wünsche erfüllen. Vielleicht hatte sie nicht absichtlich gebetet, ganz im Gegenteil, aber vielleicht gab es sie trotzdem, die unbekannten göttlichen Kräfte, die sie nie ernsthaft in Betracht gezogen hatte (nicht solange ihr Leben und ihre Ambitionen mehr oder weniger nach Plan verliefen). »Was, wenn Beten nichts anderes ist, als wenn man zu viel nachdenkt? Ich habe seit Wochen Angst und denke andauernd an Schnee …«
»Dieses Buch war lächerlich – hast du es damals nicht als Beleidigung für alle hart arbeitenden Menschen abgetan?«
Weil sie wusste, dass man eine Ballettkarriere nicht durch konzentrierte Vorstellungskraft herbeiführen konnte, nicht ohne endlose Stunden des Übens, Glück und andere Voraussetzungen. Wie auch immer, die natürliche Welt hielt sich offensichtlich nicht mehr so starr an die einst akzeptierten Regeln. »Ich versuche nur, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen. Auch dumme«, murmelte sie.
»Es gibt nicht für alles eine Erklärung. Es ist Schnee . Wir werden herausfinden, wie verbreitet er ist. Sie werden die Straßen räumen. Wir werden schaufeln.« Er schnappte sich die Kaffeebohnen und knallte die Schranktür zu. »Hätte ich gewusst, dass du komplett auf Akte X machst, hätte ich nie ernsthaft mit dir darüber gesprochen …« Er schluckte den Rest des Satzes hinunter.
»Darüber, dass es auf unserem Land spukt? Ich glaube, du könntest recht haben! Und gleichzeitig unrecht, denn das ist etwas Größeres.«
»Was soll das überhaupt bedeuten? Wir haben ein ernsthaftes Problem, nämlich einen Haufen Schnee, und du verschreckst nur die Kinder und benimmst dich wie eine Irre.«
Die Kinder hatten sie nicht gehört; es war ihr Mann, den sie erschreckte. Seine Spuk-Theorie war eine Quelle des Trostes gewesen, denn sie war vertraut, etwas, an dem man sich festhalten konnte, das in den Überlieferungen über Jahrtausende hinweg existierte, und angesichts der lokalen Geschichte eine plausible Erklärung (auch wenn sie ihnen bereits einiges abforderte). Auch ohne es genau zu benennen, deutete sie nun etwas an, das noch unerklärlicher war. War es der unbekannte Aspekt, der ihn am meisten ängstigte?
Wie als Antwort darauf gab er die Bohnen in die Mühle und zerfledderte Ruhe und Frieden mit dem scharfen Hauch von frischem Kaffee.
»Aber es ist größer, auch wenn das Problem nur Wetter ist! Wirbelstürme, Tornados, Erdbeben!« Sie sprach in die schwirrende Kakofonie hinein, und entweder hörte er sie nicht oder antwortete einfach nicht. »Na schön. Du tust so, als hätten wir uns nicht besser vorbereitet, wenn wir in ein Gebiet mit Wirbelstürmen gezogen wären.«
Sie ging zum Vorderfenster und kehrte ihm in jeder Hinsicht den Rücken zu, während sie den Schnee betrachtete. Vielleicht würde er so schnell verschwinden, wie er gekommen war. Das wäre eine Sache, für die man auf die Knie gehen und um die man beten konnte. »O Gott!« Sie keuchte und schlug sich eine Hand vor den Mund.
Dieser Ort machte sie alle verrückt.
Shaw hatte recht; sie hatte sich über The Secret und die Unsinnigkeit, für irgendwelche Dinge zu beten, lustig gemacht. Und wenn er nicht so von seiner angeblichen Muse abgelenkt gewesen wäre, hätte er vielleicht daran gedacht, eine Schneefräse auf die Liste der Notwendigkeiten zu setzen. Wären sie in einer Gegend, in der es häufig Wirbelstürme gab, mit nichts als einem zerschlissenen Regenschirm aufgetaucht? Und ihre geliebte Tochter versuchte, die Sprache der Bäume zu verstehen, weil ihr unvorsichtiger Vater eine Geschichte dazu erfunden hatte. Jetzt, da Orla versuchte, den Moment zu erkennen, in dem sie begonnen hatten, den Bezug zur Realität zu verlieren, konnte sie es nicht. War die Idee umzuziehen von Anfang an leichtsinnig gewesen?
Oder vielleicht war sie einfach nur wütend. Auf ihn. Auf das hier. Der Schnee war nicht seine Schuld, aber der Rest irgendwie schon?
Orla kauerte sich in eine Ecke, wo Shaw, der in der Küche war, sie hoffentlich nicht sehen konnte. Sie zog an ihren Haaren, schluckte einen Schrei hinunter. Das waren keine hilfreichen Gedanken; sie war dabei, den Verstand zu verlieren. Er hatte sie gewarnt, die Türen nicht zu öffnen. Aber das Bedürfnis, es zu tun, jetzt, da sie es nicht konnte, tickte in ihr wie eine Bombe. Sie würde explodieren, wenn sie nicht rauskam. Sie rannte die Treppe hinauf ins Badezimmer und riss das Fenster auf. Sog die Luft ein. Sie kam erst wieder heraus, als die frische Luft ihr Herz verlangsamte und ihr verwirrtes Hirn kühlte.