18

Der Blick aus den Fenstern im Obergeschoss war schockierend und gleichzeitig faszinierend. Nur das spitze Dach der Garage war zu sehen, der Rest lag unter einer tiefen und endlosen Schneedecke verborgen. Der Schnee begrub die Baumstämme und hinterließ dunkle, kapitulierende Äste, die zu kaltgestellt aussahen, um nach Hilfe zu winken. Aber es war besser, als unten zu sein. Vom ersten Stock aus, wo sie wieder normal atmen konnte, war es Orla möglich, die Schönheit des Schnees anzuerkennen, und ebenso die Möglichkeit, dass es einfach nur Schnee war. Der Himmel war immer noch derselbe, und das half, die klaustrophobische Panik vom Wohnzimmer zu lindern; je mehr Orla darüber nachdachte, desto plausibler wurde diese Erklärung: Wer würde nicht durchdrehen, wenn er oder sie das Gefühl hätte, lebendig begraben zu sein?

Eleanor Queen glaubte genau wie Orla, dass sie bis auf den Grund hinabsinken würden, wenn sie versuchten, auf dem Schnee zu laufen. Aber Shaw beharrte, dass er sie tragen würde, dass er sich nur etwas setzen würde, so wie Schnee es eben tat, aber dass sie nicht darin ertrinken konnten.

»Wenn also der Strom ausfällt oder sonst etwas passiert, können wir unsere Schneeschuhe anschnallen und in den Ort wandern.« Er kaute auf seinem klebrigen Erdnussbuttertoast herum, während er mit den Kindern auf dem Bett saß.

Orla nahm an, dass Shaw das als beruhigenden Plan für den Ernstfall verstand. Aber sie hatte gar nicht an den Strom gedacht, der über schmale, anfällige Kabel zu ihrem Haus kam: fragile Kabel, die den Ofen am Laufen hielten, das Licht, die Wasserpumpe, den Kühlschrank und den Herd in Betrieb. Sicherlich würde eine solch zerbrechliche Lebensader nur allzu leicht unter dem drückenden Schnee nachgeben … obwohl die wenigen Leitungen, die sie von ihrem Schlafzimmerfenster aus sehen konnte, in Ordnung zu sein schienen, nicht erschlafft oder beschwert.

»Das wäre eine ziemlich lange Wanderung. Wir haben den Generator und den Holzofen«, gab sie zu bedenken – das einzig Sinnvolle, was sie seit dem Aufwachen sagen konnte. Sie wusste nicht, ob der Generator funktionieren würde, während sie unter so viel Schnee begraben waren, aber sie konnten den Holzofen für Wärme und Schmelzwasser sowie für ein wenig Licht benutzen.

»Stimmt. Stimmt. Dann können wir es wahrscheinlich aussitzen.« Er klang enttäuscht. Orla fragte sich, ob ein Teil von ihm einen Grund suchte, um zu gehen, das Schiff zu verlassen. Hatte er gehofft, dass sie genau das vorschlagen würde? Musste der Gedanke von ihr kommen, da der Norden seine Idee gewesen war? Vielleicht würde sie Shaw später vorschlagen, dass sie das Haus als Sommerhaus behalten sollten, damit er den Fehler, den sie gemacht hatten, nicht als völliges Versagen empfand. Aber jetzt würde sie erst einmal abwarten; es wäre grausam, ihnen die Möglichkeit vor die Nase zu halten, von hier zu verschwinden, solange sie noch nicht einmal zur Tür hinausgehen konnten.

Für alle Fälle probierte sie noch einmal ihr Mobiltelefon. Aber es gab keinen Empfang. Ihr Bett würde ein Sauhaufen werden, wenn sie es weiterhin als Picknickplatz benutzten; es war bereits mit Krümeln und Tropfen von Tychos Milch übersät.

»Wir sollten den Tisch nach oben holen, wenn wir hier weiter essen wollen«, sagte sie.

»Weißt du, ich habe darüber nachgedacht … Es sollte vollkommen sicher sein, unten zu sein.«

»Vollkommen?« Orla hob eine Augenbraue und biss ein kleines Stück von ihrem Toast ab.

»Es ist ja nicht so, dass der Schnee aus verschiedenen Winkeln auf das Haus drückt. Er drückt überhaupt nicht gegen das Haus, er fällt einfach gerade nach unten, also … sollte alles gut sein.«

»Sollte?«

»Willst du immer nur einzelne Wörter aus allem herausgreifen, was ich sage?«

Die Kinder sahen von ihren Plätzen am Ende des Bettes aus zu, wie sie sich zankten. Orla wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Bett ein klappriges Floß war, das auseinanderzubrechen drohte und sie alle in ein gefrorenes Meer stürzen lassen würde. Sie wollte ihren Mann nicht gegen sich aufbringen, aber alles, was er gesagt und getan hatte, seit sie ihre missliche Lage entdeckt hatten, stellte ihre Selbstbeherrschung auf die Probe. Irgendwie hatte sie sich in einen Oktopus verwandelt, und Shaw konnte nicht aufhören, auf ihren Tentakeln herumzutrampeln. Sie hatte nicht genug Geduld – oder Arme –, um ihre Kinder zu trösten, zu versorgen und zu unterhalten und von ihrem Mann bessere Überlebenstechniken, Lösungen und Entschuldigungen zu verlangen.

»Weißt du, dass es sicher ist?« Wie konnte er den Traum von Eleanor Queen vergessen haben? Sie hoffte, dass die unausgesprochene Frage in ihren verärgerten Gesichtszügen zu lesen war.

»Ich habe allen Grund zu der Annahme … Ich meine, ich verstehe, wenn du nicht willst … wenn dich der Blick aus den unteren Fenstern abschreckt. Aber es könnte tagelang so bleiben, und wir sollten nicht einfach aufhören, unser Leben zu leben. Nachdem ich mir das Dach angesehen habe, würde ich gern weitermalen …«

»Du gehst aufs Dach?«, fragte Tycho und schaukelte aufgeregt auf und ab. »Kann ich mitkommen?«

»Auf das Küchendach«, stellte Shaw klar. »Das ist unser einziger Schwachpunkt, weil es so gebaut wurde. Sie konnten kein steiles Dach auf den Anbau setzen« – er legte seine Hände so zusammen, dass sich die Mittelfinger berührten, um den Kindern die Dachform des Hauses zu zeigen – »ohne einige der Fenster im zweiten Stock zu blockieren. Das Küchendach fällt also nur ganz sachte ab, und der Schnee stapelt sich dort oben. Er rutscht nicht ab wie auf dem oberen Teil des Hauses und der Garage. Ich bin sicher nicht der Erste, der Schnee von diesem Dach schaufelt.«

Er klang so fröhlich, als wären solche Aufgaben alltäglich, und Eleanor Queen nickte bei seiner logischen Erklärung. Sie schien nicht beunruhigt zu sein, aber Orla erkannte, was für eine Katastrophe es wäre, wenn das Küchendach einstürzen würde: Abgesehen von den eisigen Temperaturen und dem Verlust von Lebensmitteln würden sie auch den Zugang zum Keller verlieren, wo viele ihrer wichtigen Geräte und Werkzeuge gelagert waren.

Orla stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, nicht ganz sicher, wann sie aufgehört hatte zu atmen. Endlich klang etwas vernünftig, wie ein Aktionsplan. »Ich werde es tun. Ich werde schaufeln.«

»Mama geht aufs Dach?«, fragte Tycho, immer noch in Vorfreude schaukelnd. »Darf ich mitkommen?«

»Halt die Klappe«, sagte Eleanor Queen zu ihm. »Du wirst da draußen draufgehen.«

»Nein, werde ich nicht.«

»Eleanor Queen, so sprechen wir nicht miteinander.« Orlas Ton war streng, aber es war eine Erleichterung, etwas so Gewöhnliches zu sagen.

»Niemand stirbt, und keiner von euch beiden wird aufs Dach gehen«, bestimmte Shaw.

»Er ist dumm. Das hier ist kein Spaß «, spie Eleanor Queen hervor und schlürfte den Rest ihrer Milch hinunter.

»Er ist nicht dumm, er fühlt sich bloß abenteuerlustiger als du.« Bevor jemand ein weiteres Wort sagen konnte, wandte sich Orla an Shaw. »Ich meine es ernst, ich werde Schnee schaufeln …«

»Das ist eine Menge Arbeit, der Schnee kann schwer sein …«

»Ich weiß, aber ich muss etwas tun. Bitte, ja? Ich hatte fast eine Panikattacke. Tut mir leid, das unten. Ich wusste nicht, was ich da rede. Rauszukommen könnte helfen.«

Sein schiefes Grinsen war versöhnlich, und wenn sie es nicht falsch interpretierte, sah er ein wenig erleichtert aus. Wann war er das letzte Mal nach draußen gegangen? Seine Ankündigungen, dass er zur Inspiration zwischen den Bäumen umherwandern müsse, waren verklungen. Shaw nahm ihre Hand und rieb ihren Daumenknöchel.

»Willst du das wirklich machen?«, fragte er. »Ich kann das auch, wenn du nicht …« Er klang wie Eleanor Queen, die sich darauf einstellte, ohne das Nachtlicht zu schlafen.

»Ich denke wirklich, wirklich, wirklich, dass das Schaufeln des Küchendachs hier der Hauptgewinn ist.«

»Nun, du hast ›bitte‹ gesagt, und wer bin ich, dass ich dir einen Hauptgewinn vorenthalte?« Er zwinkerte Tycho zu. »Mama wird das Dach freischaufeln, das war die ganze Zeit mein teuflischer Plan.«

Tycho und Shaw tauschten ein verschwörerisches Kichern aus. Eleanor Queen warf ihrem Vater einen prüfenden, misstrauischen Blick zu und kam zu einem Schluss, den Orla ihr nicht am Gesicht ablesen konnte.

Eleanor Queen hätte vielleicht beschlossen, dass es besser wäre, im Haus zu bleiben, als sich nach draußen zu wagen, selbst nach ihrem Albtraum. Aber Orla hatte sich noch nie in ihrem Leben so eingeengt gefühlt. Dass es im Umkreis nichts gab, wohin sie gehen konnte, war schon schwer genug gewesen, aber dass sie nun gar nicht nach draußen konnte, fühlte sich an wie ein Sargdeckel, der über ihr zuschlug. Sicherlich war das der Grund für ihre flache Atmung, für das Gefühl, dass ihr die Luft ausging und sie sie aufsparen musste. Und harte körperliche Arbeit, selbst in der surrealen, halb verschütteten Landschaft, würde das Gefühl ihrer Hilflosigkeit lindern.

»Und wir sollten die Schneeschuhe und das Zeug aus dem Keller holen«, sagte sie. »Und einen Teil des Essens ins Wohnzimmer bringen, nur …«

»Für den Fall«, beendete Shaw ihren Satz. »Ich werde ein paar Dinge an der Vordertür aufstapeln, nur für den Fall.«

»Für welchen Fall, Papa?« Aber sie vermieden es, Tychos Frage zu beantworten.

»Für den Fall, dass das Haus zusammenbricht.« Eleanor Queen, die den Untergang bereits kommen sah, sagte die Worte zu niemand Besonderem. Shaw und Orla wechselten einen Blick, aber bevor sie widersprechen oder sie beruhigen konnten, rutschte das Mädchen vom Bett. »Kann ich meine Schularbeiten machen?«

»Tut mir leid, Bean, die Satellitenschüssel ist unter dem Schnee begraben, wir können nicht online gehen.« Shaw sammelte all ihre schmutzigen Teller ein.

»Du kannst an deinen Mathe-Seiten arbeiten, das wird dich beschäftigen.«

Orla stapelte die Tassen mit einer Hand und fegte mit der anderen die Krümel vom Bett.

»Was ist mit mir?«, fragte Tycho.

Sie trippelten im Gänsemarsch aus dem Schlafzimmer, aber Eleanor Queen schlüpfte in ihr Zimmer, während die anderen die Treppe hinuntergingen.

»Wir können Mama von drinnen beim Schaufeln zusehen«, sagte Shaw. »Oder du kannst in meinem Atelier spielen, während ich arbeite.«

Orla konnte nicht umhin, an die Waffen zu denken. Sie waren jetzt unter Verschluss und lagerten außer Sichtweite im großen Schrank des Ateliers. Aber trotzdem. Die Vorstellung, dass Tycho mit den Waffen im Rücken auf dem Boden spielte, gefiel ihr nicht. Da war zu viel Gefahr. Drinnen. Draußen. Sie sehnte sich nach der Freiheit, die jetzt weg war, durch die Vordertür zu gehen, zu rennen, einfach irgendwohin zu gehen. Sie musste nach draußen, die erdrückenden Mauern abschütteln und dazu die Angst, dass der Umzug in die Adirondacks eine schreckliche Fehlentscheidung gewesen war. Hoffentlich würde das helfen. Es musste helfen.

Aber der Ghoul aus den Schatten griff nach ihr, gestikulierend, wollte sich verzweifelt verständlich machen.

Was konnte sie immer noch nicht sehen? War Orla etwas entgangen, weil sie nicht aufmerksam genug war? Nicht auf Eleanor Queen geachtet hatte? Oder auf Shaw? Jetzt drängte alles in ihr, von ihren aufgewühlten Eingeweiden bis zu ihrem rasenden Herzschlag, sie vorwärts. Die Teile finden. Das Rätsel lösen.

Bevor es zu spät war.