19

Eleanor Queen kauerte mit den Knien an ihrem Kinn, die Bettdecke bis zu den Ohren gezogen, und starrte sie böse an.

»Tut mir leid, Bean. Es ist nur das Fenster, durch das Mama am leichtesten rausklettern kann.«

Shaw hielt die Schaufel, während Orla mit den Beinen nach draußen auf der Fensterbank saß und versuchte, die Schneeschuhe anzuschnallen, ohne sich den Kopf am Fensterflügel zu stoßen.

»Ihr macht es eiskalt hier drin!«, schmollte Eleanor Queen.

»Ich bin dir gleich aus dem Weg.« Orla rutschte von der Kante auf den Schnee. Einen Moment lang stand sie erwartungsvoll da, immer noch in dem Glauben, dass sie in die Tiefe sinken und ersticken könnte. Sie sank ein wenig ein, aber es waren Zentimeter, nicht Meter. Shaw reichte ihr die Schaufel.

»Erinnere mich daran, Julie das nächste Mal zu danken, wenn wir uns unterhalten.« Sie hatte unter den gespendeten Wintersachen Gamaschen gefunden, und obwohl ihre Stiefel hoch waren, reichten die wasserdichten Gamaschen mit Klettverschluss über ihre Hose bis zu den Knien. Und diesmal war sie auf die Helligkeit vorbereitet, auch wenn Wolkenbänke im Begriff waren, die Sonne zu verdrängen; mit ihrer Sonnenbrille wurde sie nicht geblendet, als sie in die weiße Welt hinaustrat.

Das Fenster schloss sich hinter ihr mit dem hydraulischen Geräusch der neuen, leichtgängigen Rahmen. Damit war die letzte Klage von Eleanor Queen verstummt, und Orla war auf sich allein gestellt.

Es war seltsam, die Baumkronen aus diesem Blickwinkel zu sehen, fast Auge in Auge und so nahe, als wären es riesige tote Büsche und nicht die Baumkronen jenseits des Seitenfensters ihrer Tochter. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl zu schweben und fürchtete erneut einen rasanten Sturz durch den tiefen Schnee. Doch als sie einen Haken nach rechts in Richtung der Rückseite des Hauses und der Küche schlug und mit vorsichtigen, übertriebenen Schritten ging, um sich an die Schneeschuhe zu gewöhnen, spürte sie die Befreiung von der Klaustrophobie. Das Atmen fiel ihr leichter, und die gefrorenen Atemstöße, die aus ihrem Mund kamen, erinnerten sie an ihre Kindheit, als der Anblick ihres eigenen Atems eine Quelle der Verwunderung und Freude gewesen war. Vor ihr lag der Wald aus Bäumen begraben, nur der Stamm der großen Kiefer ragte aus dem tiefen Schnee.

Der Plan, den sie mit Shaw besprochen hatte, sah vor, dass sie auf einer Seite des Küchendachs am untersten Teil des Gefälles (der sich fast auf ihrer Fußhöhe befand) beginnen und sehen sollte, wie viel Schnee sie durch Schaufeln oder Schieben bewegen konnte, je nachdem, was sie besser schaffen konnte. Das Ziel war nicht, das Dach bis zu den Schindeln abzuräumen, sondern das Gewicht so weit wie möglich zu verringern. Das war schwieriger, als sie erwartet hatte, denn der Schnee, den sie entfernen musste, ragte über sie hinaus. Sie musste ihre Arme ganz über den Kopf strecken, um überhaupt anfangen zu können, aber sie war erleichtert, als sie feststellte, dass es ein federleichter Schnee war, leicht und luftig. Wäre er dicht und nass gewesen, hätte das zu einer doppelten Katastrophe führen können, weil er zu schwer wäre, um ihn zu bewegen, und eine zu schwere Last für den schrägen Anbau im Erdgeschoss.

Also schlug sie ungelenk den Schnee zur Seite. Zunächst hatte sie keine andere Wahl, als die unteren Bereiche anzugreifen, was unweigerlich zum Nachrutschen des darüberliegenden Schnees führte; der Schnee bestäubte ihr Gesicht, als er losgeschüttelt wurde. Als dann eine Ecke besser zu bewältigen war, kletterte sie auf das Dach und erledigte den Rest der Arbeit von dort aus, wo sie ihre volle Körpergröße und ihre ausgestreckten Arme nutzen konnte, um von oben nach unten zu arbeiten.

Es war ein seltsames Gefühl, oberhalb ihrer Küche zu stehen. Sie fragte sich, ob Shaw, der unten Vorräte einsammelte, sie hören konnte, während sie herumschlurfte. Als das grelle Licht etwas nachließ, setzte sie ihre Sonnenbrille auf ihre Wollmütze und befürchtete, dass der sich verdunkelnde Himmel noch mehr Schnee bringen würde. Graue Wolkenfalten hatten sich ausgebreitet, verdeckten den größten Teil der Sonne und verbargen die Horizontlinie; alles, was sie sah, waren endlose Schwaden von silbrigem Weiß. Einen Moment lang stellte sie sich vor, dass etwas anderes geschehen war: Vielleicht hatte es gar nicht geschneit, sondern die Wolken hatten sich auf dem Land um ihr geheimnisvolles Haus festgesetzt.

Die Bäume in der Ferne, weit oben auf einem sanften Hügel über der Straße, sahen nackter aus, weniger von Baiserhauben bedeckt als die Bäume in der Nähe. Wie ausgedehnt oder punktuell war der nächtliche Sturm gewesen? Was, wenn er, wie das Polarlicht, nur hier stattgefunden hatte?

Denk nach, denk nach, denk nach … Sie war vor allem hier herausgekommen, um ihre Gedanken zu ordnen. Wie um ihr entgegenzukommen, war die Umgebung völlig still. Nichts bewegte sich. Nichts gab einen Laut von sich.

Sie hörte genauer hin.

Nicht ein einziger Vogel. Nicht ein einziges Auto in der Ferne. Nicht einmal ein Hauch von Wind.

»Hallo?«, fragte sie in die Stille hinein, halb in der Erwartung, ihre eigene Stimme nicht zu hören. Vielleicht war es ein Effekt des tiefen Schnees, der die Nuancen des Geländes verwischte, aber es sah so aus, als stünden die Bäume näher beieinander als zuvor und etwas näher am Haus.

Ein Teil von ihr fühlte sich wie eine Kriegerin, die mit der Waffe in der Hand gegen eine feindliche Macht kämpft. Nach kurzer Zeit waren ihre Muskeln über den schmerzenden Punkt hinausgewachsen, erhitzt durch die ständige Bewegung und voller Energie; ihr Körper wurde zu einer gut geölten Maschine. Es war ein angenehmer, vertrauter Zustand für sie, der sie an die Proben erinnerte, wenn sie und ihre Partner die gleichen Bewegungen immer und immer wieder übten, um sie zu perfektionieren. Irgendwann war die Choreografie so tief in ihnen verwurzelt, dass sie kein bewusstes Denken mehr erforderte, sondern … sich in etwas anderes verwandelte. Eine Reaktion, ein Impuls, eine Notwendigkeit, die durch die Musik hervorgerufen wurde. Und wenn sie danach ein bestimmtes Musikstück hörte, waren ihre Muskeln immer darauf vorbereitet. Auf ewig. Sie zuckten in Erwartung jedes Crescendos, und ihre Hand führte ihren Arm in die vorgesehene Position; ihr Brustkorb hob sich für das Relevé, die Bewegung war in ihr, selbst wenn sie gerade in der Kassenschlange bei TK Maxx stand.

Bewegung, die nur durch Musik hervorgerufen wurde.

Für andere Menschen mochte das ein seltsames Konzept sein, für sie war es die natürliche Ordnung der Dinge. Vielleicht musste sie andere Konzepte auf den Kopf stellen, um der Forderung des Gespenstes nachzukommen und den Schlüsselstein zu finden, der ihr eine Antwort geben würde. Müde, aber in einen Rhythmus vertieft, dachte Orla über die unerklärlichen Dinge nach, die seit ihrer Ankunft geschehen waren. Sie hatte sich abgemüht, logische Erklärungen zu finden: die globale Erwärmung oder andere meteorologische Veränderungen; allgemeine Angst oder Unbehagen oder ein Gefühl der Verdrängung; eine gemeinsame Wahnvorstellung, ausgelöst durch giftige Stoffe in ihrer Umgebung. Aber Logik brachte sie nicht weiter. Und obwohl das Kurhaus ein verlockendes Detail war, wurde es immer schwieriger zu glauben, dass es die Quelle ihres Rätsels sein könnte. Überall starben Menschen; gab es einen Grund, warum es an diesem Ort mehr spuken sollte als an anderen? In New York City müsste es von Geistern nur so wimmeln, wenn dafür nur eine sterbliche Bevölkerung nötig wäre.

Die meditative Arbeit erlaubte es ihrem Geist, von der Vernunft weg und hin zum Unvernünftigen zu wandern, wo sie sich freier fühlte, die als absolut gesetzten Dinge, die sie immer akzeptiert hatte, zu hinterfragen. Das war der Ort, wo der tintenschwarze Ghoul sie hinführen wollte.

Mit einer Starrheit, die sie jetzt als engstirnig empfand, hatte sie Astrologie und Feng-Shui, das Leben nach dem Tod und jeglichen Aberglauben abgetan. (Obwohl sie, wie viele Tänzerinnen und Tänzer, an den Aufführungstagen eine Routine hatte, die unantastbar war: das Essen, das sie zu sich nahm, die Zeit, zu der sie im Theater ankam, ihre Vorbereitungen in der Garderobe). Ihr innerer Treibstoff, die Umsetzung von Emotionen in Bewegung, würde vielen Leuten wie ausschweifender Luxus erscheinen; viele Nichtkünstler hielten die Arbeit von Künstlern für prätentiös, ja sogar für reine Zeitverschwendung. Aber sie hatte immer den inhärenten, sogar spirituellen Wert dieser Arbeit gespürt. Und sie wusste aus Beobachtung und Erfahrung, wie quälend empfindsam ein Mensch sein konnte, im Einklang mit seiner Umgebung und von ihr beeinflusst. Ihr Mann und ihre Tochter waren lebende Beispiele für Menschen, die die Welt auf eine tiefe, instinktive Weise erlebten und empfanden, ebenso wie viele ihrer kreativen Freunde. Sie hatte nie an der komplexen Realität der hochsensiblen Menschen in ihrem Umfeld gezweifelt und ebenso wenig an dem tiefen persönlichen und zwischenmenschlichen Wert der Arbeit eines Künstlers. Sie fragte sich nun, ob sie immer schon offener für die anderen Möglichkeiten hätte sein sollen, die das menschliche Bewusstsein zu erschließen fähig sein mochte.

Was gab es noch da draußen?

Vielleicht dachte sie aber auch ganz falsch über Ursache und Wirkung nach. In einem hysterischen Moment an diesem Morgen war sie auf eine andere Idee als einen Geist gekommen, etwas Größeres, das auf ihre Gedanken, Wünsche und Ängste reagierte. Es ging etwas Interaktives vor sich, Aktion und Reaktion, aber was war der Ursprung davon? Waren sie die Musik oder die Tänzer?

Machen wir das zusammen? Sind wir Tanzpartner?

Orla wusste aus Erfahrung, dass nicht alle Partnerschaften funktionierten. Manchmal wurden bei einem Pas de deux die Bewegungen niemals harmonisch, die Verbindung war gestört. Das könnte jetzt der Fall sein. Sie kannten diesen Tanz nicht, und vielleicht hätte der Choreograf andere Tänzer auswählen sollen.

Oder, um sich selbst den Advocatus Diaboli zu liefern, vielleicht war die Botschaft gar nicht verschlüsselt; vielleicht hatte ihre Familie zu viel gefühlt und sie zu viel gedacht, und die ganze Zeit über hatte das verdammte Gespenst ein Plakat in der Hand gehalten.

Falscher Ort. Versucht es doch anderswo .

Shaw konnte auch anderswo Maler sein. Er könnte in einem anderen Haus, mit anderen Bäumen seine Chance bekommen. Das war das Gespräch, das sie schon lange hätten führen sollen, aber es war noch nicht zu spät.

Orla klopfte an das nun wieder zugängliche Treppenhausfenster am oberen Ende der Treppe. Sie klopfte und klopfte, bis jemand sie hörte. Leider war es Eleanor Queen, die ihr zu Hilfe kam und sie anfunkelte, als sie das Fenster öffnete.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht stören. Kannst du Papa bitten, unser Schlafzimmerfenster zu öffnen? Ich gehe außen herum und komme so rein.«

»Ich mach das.« Eleanor Queen schloss das Flurfenster und marschierte in das Zimmer ihrer Eltern.

Als Orla zur Vorderseite des Hauses stapfte, sprach sie ein stilles Gebet. »Ich danke dir. Das war wirklich beeindruckend. Ich hätte nie gedacht, dass ich so was erleben würde, aber wir sind jetzt bereit, zur Normalität zurückzukehren.«

Sie warf einen letzten Blick über den baumbestandenen Horizont. Es war unvergleichlich still, als ob der Rest der Welt und jedes Geräusch, das sie machte, nicht mehr existierten. Sie erlaubte sich nicht, sich mit der Schönheit der Landschaft aufzuhalten, mit den kleinen Überhängen auf den Wellenkämmen der Verwehungen, wie eine Landschaft, die über Millionen von Jahren erodiert war und sich entwickelt hatte, und nicht wie bloße Partikel, die in den wenigen Stunden entstanden waren, während sie schliefen. Eine zu große Ehrfurcht vor alldem, eine zu große Wertschätzung könnte weitere wundersame und schreckliche Ereignisse hervorrufen.

Eleanor Queen öffnete das Fenster ihrer Eltern so weit, wie es ging. Orla schlängelte sich rücklings hinein, setzte sich auf die Fensterbank und zog ihre Schneeschuhe aus.

»Jetzt ist es viel sicherer«, sagte sie zu ihrer Tochter. Sie drehte sich um und duckte sich ganz nach drinnen, verschwitzt unter ihren Schichten von Kleidung, aber erfrischt und gestärkt von der Zeit, die sie im Freien verbracht hatte, bei der schwierigen Arbeit. »Safe as houses.«

Eleanor Queen sah nicht erleichtert aus. Sie gab nicht nach und grinste auch nicht. Nach einem letzten finsteren Blick drehte sie sich um und floh zurück in ihr Zimmer.