20

»Können wir morgen draußen spielen?«, fragte Tycho und ließ den schlackerbeinigen Elch auf seinem Bauch wippen, während er gut zugedeckt im Bett lag.

Orla seufzte, als sie sich neben ihm auf den Boden kniete. Sie wusste nicht, wie sie seine Frage beantworten sollte. Wie lange würde es dauern, bis so viel Schnee geschmolzen war? Würden ihnen die Vorräte ausgehen? Sie wollte die Kinder nicht noch mehr mit ihrer Angst anstecken, als sie es ohnehin schon getan hatte; sie trug eine gewisse Verantwortung für die Verschlimmerung ihrer Situation, für die subtile Art und Weise, wie sie die allgemeine Stimmung im Haushalt beeinflusst hatte, wenn nicht sogar für den Schnee selbst. Was wäre, wenn sie einfach mit Ja antwortete? Als Experiment in Sachen Optimismus, wenn schon nichts anderes. Oder was wäre, wenn sie – falls sie wirklich Tanzpartner des Wesens da draußen wären – sich an einer Choreografie versuchen würde? Es konnte nicht schaden, Dankbarkeit, Wertschätzung … oder sogar den Wunsch zu äußern, draußen zu spielen.

Als kleines Kind, nur ein oder zwei Jahre älter als Tycho, hatte sie ein Geheimnis vor ihren Eltern gehabt: Manchmal betete sie. Sie hatte gehört, wie Verwandte darüber flüsterten, als ihr kleiner Bruder krank wurde. Aber die junge Orla hatte für dumme Dinge gebetet: dass sie bei einem Test gut abschnitt; dass sie mit ihrem Fahrrad so schnell fahren konnte, dass sie vom Boden abheben und fliegen würde. Später begriff sie, dass Letzteres unmöglich war, während das Erstere keine Gottheit, sondern ein bisschen mehr eigene Anstrengung erfordert hatte. Seitdem hatte sie viel dazugelernt, vieles davon erst vor Kurzem, zumindest was das Aussenden von Gedanken in einen jenseitigen Raum anging.

»Willst du ein kleines Spiel mit mir spielen? Bevor du einschläfst?«, fragte sie ihren Sohn.

»Okay!« Er wollte sich aufsetzen, aber Orla hielt ihn mit einem sanften Druck ihrer Hand auf.

»Wir können es gleich hier spielen. Wir müssen nur unsere Augen schließen.« Sie schloss ihre, um ein Beispiel zu geben, und sah dann nach, ob Tycho seine auch geschlossen hatte. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie seinen erwartungsvollen Gesichtsausdruck sah, seine fest zusammengekniffenen Augen und sein hoffnungsvolles Grinsen. »Manchmal ist es gut, sich dessen bewusst zu sein, was man hat: die Menschen, die man liebt, sein Zuhause, die wichtigen Dinge. Vielleicht sollten wir das ein bisschen öfter tun.«

Sich auf das Positive zu konzentrieren könnte auch ein Balsam für ihre sehr realen Sorgen sein.

»Ich bin so dankbar, dass wir alle sicher und behaglich in unserem warmen Haus sind. Du bist in Sicherheit, deine Schwester, Papa und ich auch. Wir haben Strom und Essen und alles, was wir brauchen. Ich bin dankbar … Wir haben so viele schöne Dinge gesehen …«

»Wie den Schnee!«

Die Muskeln ihres Jungen unter der Hand, die sie auf seiner Brust hielt, verrieten seine Bereitschaft, erneut aufzuspringen. Und als Orla die Augen öffnete, sah sie, dass sie recht hatte; seine waren bereits wieder weit geöffnet.

»Wie der Schnee! Ist Spielen besser als Beten?«, fragte sie. Er nickte mit großer Begeisterung und sie lachte. »Nun, vielleicht müssen wir unserem Gebet noch eine Kleinigkeit hinzufügen, einen Wunsch, dass wir morgen nach draußen gehen und spielen können.«

»Das wünsche ich mir! Und Eiscreme!«

»Das ist eine gute Hoffnung. Aber ich kann dir nichts versprechen, Liebling.« Orla strich ihm das Haar glatt, klemmte ihm den Elch unter den Arm und zog die Bettdecke hoch.

»Beten wir zu Gott?«

Orla dachte über seine Frage nach. In ihrer Familie hatten sie nicht viel über Religion gesprochen. Sie und Shaw hatten die Dinge vage gehalten: Die Menschen hatten unterschiedliche Überzeugungen, und vielleicht gab es eine höhere Macht, aber das Wichtigste war, wie die Menschen miteinander umgingen. Keiner von ihnen wollte, dass die Kinder glaubten, es gebe einen menschlich aussehenden, oder, Gott bewahre, einen weißen Mann, der in einem fiktiven Wunderland auf ihren Tod wartete. Ein Kerl, der sich in alles einmischte und auf alles reagierte, von ihrem Alltag über Katastrophen bis hin zu persönlichem und globalem Leid.

»Ich bin mir nicht sicher, was Gott ist«, antwortete Orla wahrheitsgemäß. »Aber ich glaube, dass es im Universum mächtige und geheimnisvolle Dinge gibt. Und ich glaube, es schadet nicht, Danke zu sagen und positiv zu denken.«

»Danke!«

Sie gab ihm Küsse auf die Wange, bis er kicherte und ihr seinen Elch hinhielt. »Danke, dass du mit mir gebetet hast«, sagte sie, nachdem sie auch dem Elch einen Kuss gegeben hatte. In der Tat fühlte sie sich etwas besser. Wenn sie die Dinge objektiv betrachtete, stellte sie fest, dass es ihnen doch gut ging. Bisher. »Ich liebe dich. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Schnee!«

Eleanor Queen, das Buch aufgeschlagen auf ihrer Brust, musterte ihre Mutter. Orla blieb neben dem Bett ihrer Tochter auf den Knien.

»Zu was beten wir?«, fragte das Mädchen mit einem intensiven, unverwandten Blick.

Orla hob die Hände und deutete mit einer Geste auf ein merkwürdiges Universum, das Alles, das Unbekannte. »Zu … was auch immer da draußen ist. Menschen finden Trost …«

»Kannst du es hören?«

»Was hören?«

»Das Ding, das da draußen ist? Um uns herum?« Ihr Kinn bebte, während ihre Wimpern die Tränen wegblinzelten. Das Mädchen sah hoffnungsvoll und erwartungsvoll aus. Und verängstigt.

»Du hörst etwas …« Es war keine Frage, sondern die leise Stimme von Orlas schlimmster Angst. Die Härchen auf ihren Schultern kribbelten. Es war keine Einbildung gewesen, das Verhalten ihrer Tochter. Ihres Mannes. Sie wusste nicht, was es bedeutete, außer dass ihre Tochter sie brauchte. Mehr denn je. »Ich war … Ich hatte so eine Ahnung, aber ich weiß nicht, was es ist, dass du und Papa …«

»Da draußen ist etwas, Mama.«

Die geflüsterten Worte ihrer Tochter sandten einen stechenden Schmerz durch Orlas Gehirn, wie das Pochen eines Stachels. Sie hatte ihr fantasievolles Kind bisher nicht zu wörtlich nehmen wollen, aber sie konnte nicht länger leugnen, dass Eleanor Queen versucht hatte, ihr etwas verständlich zu machen. Orla hätte es zu gern als ein Spiel oder eine Halluzination abgetan, auditiv oder anderweitig, aber das würde nicht ändern, was sie in dem erschöpften Gesicht ihrer Tochter sah. Und Shaw hatte Wörter aufgeschrieben! Vielleicht war ihr Kind krank? Ihr Mann ebenso? Das Fuchshasen-Delirium klopfte an die versperrte Tür in ihrem Kopf und wollte zurück in Orlas Bewusstsein. Vielleicht waren sie alle verrückt.

Vielleicht waren sie aber auch nicht verrückt.

Orla war vorsichtig, da sie sich nicht sicher war, welches Gebiet sie nun betraten. »Ich weiß, dass das Wetter ein wenig unheimlich war, aber …«

»Es ist mehr als das.«

Ja, Orla glaubte das, wenn sie ganz ehrlich war. Sie betrachtete ihre Tochter, klein und verängstigt in ihrem ersten eigenen Bett, ihrem ersten eigenen Zimmer. Orla konnte es nicht mehr beiseitewischen, es darauf schieben, dass Eleanor Queen Angst hatte, allein zu schlafen (selbst mit dem sicheren Schein des wiedergefundenen Nachtlichts), oder auf ihre eigenen Ängste vor einem so ungewohnten Ort.

Die Worte waren zäh und glitschig in ihrem Mund, aber sie musste sie normal klingen lassen. »Was denkst du, was es ist?«

Eleanor Queen drehte ihren Kopf zum Fenster und kniff die Augen konzentriert zusammen. »Ich bin mir nicht sicher. Manchmal denke ich, ich höre es, etwas, das mich ruft. Manchmal ist es nur ein Gefühl, aber es ist … viele Dinge auf einmal. Aufgeregt. Verängstigt. Bedürftig. Ich dachte eine Zeit lang, dass Papa es hört, ich war mir sicher, dass er es hört. Aber Papa will es nicht hören. Ich dachte, du würdest dich auch dagegen wehren. Ich bin froh, dass du weißt … dass etwas hier ist.«

Orlas Rücken verkrampfte sich und ein Schauer überkam sie so stark, dass ihr die Galle in den Mund lief. Alles, was sie ihre Tochter sagen hörte, war: Du enttäuschst mich . Orla schwor sich, nicht länger gegen sich selbst anzukämpfen, sich nicht länger Dinge auszureden, egal wie unmöglich sie ihr erschienen. Auf die eine oder andere Weise musste sie ihre Tochter beschützen. Würde Eleanor Queen Erleichterung oder Schrecken in der Geschichte finden, die sie entdeckt hatten? Könnte das die Quelle ihrer Stimmen sein? Aber sie war noch nicht bereit, ein Gespräch über Geister zu führen, nicht bevor sie und Shaw eine Lösung gefunden hatten. Wir werden fortgehen, das wird die Dinge wieder ins Lot bringen.

»Es ist beängstigend, weil wir diesen Ort noch nicht verstehen«, sagte Orla. »Aber das heißt nicht, dass er böse ist.«

Eleanor Queen sog einen langen Atemzug durch ihre Nase ein. Sie drehte sich auf die Seite und krümmte sich zusammen, sodass ihr Gesicht näher an dem von Orla war, und sie betrachteten einander. Vielleicht sahen sie gleich aus, mit einem Blinzeln der Sorge, als versuchten sie, die Gedanken des anderen zu lesen.

»Ich weiß, dass du dich hier nicht immer wohlgefühlt hast, und es tut mir leid, dass ich nicht … Ich dachte, dass du, dass wir alle nur Zeit bräuchten«, sagte Orla. »Aber jetzt … Ich hatte selbst ein bisschen Angst, und ich glaube, ich war kein gutes Vorbild. Ich werde nicht mehr zulassen, dass ich mich vor dem Wetter fürchte, nicht wenn das, was mir wirklich Angst macht, ist, dass du Angst hast und ich nicht weiß, wie ich dir helfen kann. Bean, ich bin hier, ich bin immer für dich da, du kannst mit mir reden.« Das würde stets die Wahrheit sein, auch wenn es ihr schwerfiel, alles andere zu verstehen.

Ein kleines Grinsen erhellte das Gesicht ihrer Tochter.

Orla schlang ihre Arme fester um sich selbst, während sie weiter neben dem Bett kniete. Die nervöse Unruhe hatte sie übermannt, aber das bedeutete nicht, dass ihre Tochter und ihr Mann das nicht durchstehen konnten. Sie war sich immer noch nicht sicher, was sie vorschlagen oder wo sie nach Antworten suchen sollte, aber sie musste Eleanor Queen zu verstehen geben, dass sie nicht allein war und dass ihre Mutter versuchte, ihr zu helfen – dass sie ihr helfen würde.

»Wie würdest du es gern anders haben? Lass uns darüber nachdenken, was gut wäre, was dich glücklicher machen würde.« Orla schob zwei gegenläufige Sturmfronten beiseite, die sie zu erdrücken drohten: die eine die optimistische Möglichkeit, dass sie an diesem neuen Ort noch ihr Gleichgewicht finden könnten, die andere die lautere, beunruhigendere Wahrscheinlichkeit, dass sie einen schrecklichen, unergründlichen Fehler begangen hatten.

Eleanor Queen drehte sich auf den Rücken und ein entspannter, verträumter Gesichtsausdruck ließ ihre Wangen rosig strahlen. »Ich glaube, ich würde gern … Es ist seltsam, dass wir die ganze Zeit nur im Haus sind, alle zusammen. Ich dachte, das würde mir gefallen, aber … Ich denke, du hast recht, wenn das Wetter nicht so schlecht wäre und wir rauskönnten. Meinst du, es gibt in der Nähe einen Ort, wo ich Geigenunterricht nehmen könnte?«

Orla lehnte sich ein wenig zurück und bemühte sich, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Woher war dieser Wunsch gekommen? In der Stadt hatte man ihr jede Art von Unterricht angeboten: Tanz, Kunst, Musik. Eleanor Queen war nie daran interessiert gewesen. In der Schule hatte sie die musischen Fächer genossen, aber die Angebote, ihre Fähigkeiten durch gezieltere Studien zu erweitern, abgelehnt. Was für ein unglaublich schlechtes Timing.

»Bean …«

»Ich weiß, ich weiß, was du denkst.« Eleanor Queen schob ihre Arme unter die Decke und zog diese frustriert bis zum Kinn hoch. »In der Stadt hab ich nicht noch mehr Dinge gebraucht, die ich tun sollte. Aber hier brauche ich mehr Dinge, die ich hier tun kann. Ich vermisse die Schule nicht, aber ich vermisse … Ich habe immer gedacht, dass ich vielleicht eines Tages ein Instrument ausprobieren möchte, aber zu Hause war kein Platz dafür. Ich wollte nicht, dass mich alle beim Üben hören, wenn ich wirklich schlecht wäre. Aber hier könnte ich meine Tür zumachen. Ich würde wirklich gern ein leises Instrument spielen, etwas, das niemand sonst hören kann, aber ich weiß nicht, was das für eins wäre.«

»O Liebes.« Eleanor Queen dachte in die richtige Richtung, nämlich das Beste aus ihrer neuen Situation zu machen und hier das zu tun, was sie in ihrem Apartment in Chelsea nicht gebraucht hatte oder womit sie sich dort nicht wohlgefühlt hätte. Aber Orla spürte, wie sich die dünnen Membranen ihrer Scham dehnten und zu zerreißen drohten; sie hätte wissen müssen, wie verlegen und gehemmt ihre Tochter war und dass sie vielleicht etwas persönlichen Freiraum brauchte, um ihre innersten Träume zu erkunden. »Ich bin sicher, wir können jemanden in der Nähe finden. Papa weiß von einer Schule, die verschiedene Arten Kunstkurse anbietet, dort können wir anfangen. Und wir werden etwas finden. Und du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass wir dich beurteilen. Jeder braucht seine Zeit, um eine neue Fähigkeit zu erlernen. Okay?«

»Du bist nicht böse?«

»Warum sollte ich böse sein?«

Eleanor Queen zuckte mit den Schultern. »Ich habe das Gefühl … Vielleicht bin ich hier nicht ganz dieselbe Person wie in der Stadt.«

»Es gibt keinen Grund, warum ich dich weniger lieben sollte.«

»Ich war mir nicht sicher, weil … Egal.«

Orla beugte sich vor und küsste sie auf Stirn und Wange. »Das war Teil der Idee hierherzukommen, dass wir alle ein bisschen anders sein dürfen und uns vielleicht noch mehr lieben. Wir kommen an einen neuen Ort und lernen neue Dinge über uns selbst. Niemand ist genau der, der er war. Jeden Tag sind wir ein bisschen anders, oder? Wir lernen etwas Neues und wir sind nicht mehr ganz dieselben. Das wünschen Papa und ich uns auch, für dich, für uns. Dass wir alle weiterwachsen und Entdeckungen machen. Wenn du also jetzt Musikunterricht ausprobieren willst, dann machen wir das möglich. Papa und ich werden es möglich machen.«

»Mir gefällt es hier, manches jedenfalls. Aber ich wünschte …« Sie unterdrückte ihren Wunsch und kaute auf ihrer Lippe.

»Sag mir, was du dir wünschst.«

»Ich wünschte … wir hätten ein Haus mit Nachbarn. Im Ort. Und eine Straße, wie man sie im Fernsehen sieht. Mit Kindern, die Fahrrad fahren und zu den Häusern der anderen zum Spielen gehen.«

Die Tränen stiegen Orla schnell in die Kehle. Ihre Tochter hätte Squirrel Hill beschreiben können, das Viertel, in dem sie in Pittsburgh aufgewachsen war. Es war klarer denn je, dass es ein Fehler gewesen war, so lange in Manhattan zu bleiben. Andere Familien machten daraus das Richtige, aber Eleanor Queen brauchte etwas, sehnte sich nach etwas anderem. Etwas, das sie sich nie getraut hatte auszusprechen. Vielleicht war das, was Eleanor Queen an jenem ersten Tag, als sie eingezogen waren, im Garten gesehen hatte, nicht etwas, das ihr Angst machte, sondern etwas, das ihr das Herz brach: keine Nachbarn; keine Menschen. Von einem Extrem zum anderen.

Eine Träne glitt aus Orlas Auge; sie konnte ihrer Tochter nicht die Nachbarschaft versprechen, die sie sich wünschte. Vielleicht hatten sie und Shaw nur so getan, als ob sie ihre Kinder in ihre Entscheidungen einbeziehen wollten. Als sie gefragt hatten: »Wollt ihr umziehen in ein eigenes Haus mit einem großen Garten und vielen Bäumen?«, welche Antworten hätten sie dann tatsächlich gehört und akzeptiert?

»Es tut mir leid. Ich weiß, dass es nicht genau das ist, was du wolltest, aber wenn das Wetter besser ist, werden wir dafür sorgen, dass du den Unterricht bekommst, den du haben willst, und wir werden ein paar Orte finden, an denen du Freunde finden kannst. Es dauert immer eine Weile, bis man sich nach einem Umzug eingewöhnt hat.« Vielleicht ziehen wir ja auch wieder um .

»Ich weiß.«

Orla küsste sie mit Nachdruck. »Ich habe dich so sehr lieb.«

»Ich weiß. Ich liebe dich auch.«

Auf dem Weg nach draußen knipste Orla das Nachtlicht an.

»Schon gut, ich brauche es nicht mehr«, sagte Eleanor Queen.

»Bist du sicher?«

»Ja. Die Dunkelheit hilft mir beim Denken.«

Orla schaltete das Licht aus und hauchte ihr einen Kuss zu. Da sie ihre Tochter dennoch nicht völlig der Dunkelheit überlassen wollte, ließ sie die Tür einen Spalt offen, überwältigt von einer Last neuer Sorgen. Sie waren als Eltern nicht die guten Zuhörer, für die sie sich selbst gehalten hatten. Sie nahm sich vor, das zu ändern. Sie würde ihre Tochter genauer beobachten und mehr Fragen stellen. Aber in der Zwischenzeit beunruhigte es sie, was Eleanor Queen dort draußen, um sie herum gehört hatte. Wenn sie auch nur einen Tag länger bleiben wollten, mussten sie sich einig werden, was sie ihr sagen sollten. Würde die Konkretheit der toten Tuberkulosepatienten weniger beängstigend wirken als die vagen Dinge, die sie wahrnahm? Es war fast lächerlich, dass Orla in Erwägung zog, die Ängste ihrer Tochter mit der Erklärung »Es sind nur Geister« zu beschwichtigen. Und sie konnte die Befürchtung nicht abschütteln, dass die höhere Macht ihrer Tochter präsenter war als ihre eigene. Was, wenn das Mädchen seine Gebete zu etwas ganz anderem flüsterte als zu den gesichtslosen Göttinnen, die Orla nur zu kennen vorgab?

Und wie würde dieses Etwas die Sehnsucht eines Mädchens nach mehr Nachbarn, mehr Häusern, mehr Kindern interpretieren?

Bei zugezogenen Vorhängen konnten sie so tun, als wäre es eine ganz normale Nacht. Die bedrohlichen Scheiben aus dichtem Schnee hinter den Fenstern, die es so wirken ließen, als wäre die Welt ausradiert worden, waren nicht zu sehen. Das war es, woran Orla dachte, als sie im Wohnzimmer auf und ab ging. Die Dinge hatten sich zu sehr verändert; sie mussten eine Umkehr erzwingen, um ein gewisses Maß an Normalität zurückzugewinnen.

»Wir müssen es nicht ganz aufgeben, wir könnten es als Sommerferienhaus behalten …«

»Hörst du dir selbst zu?«

Die Kälte in seiner Stimme war wie ein Felsbrocken auf der Straße, der ihr den Weg versperrte und sie zwang, stehen zu bleiben und ihn anzusehen. Er war während ihrer ganzen Schimpftirade in der offenen Tür seines Ateliers stehen geblieben und hatte damit deutlich gemacht, dass er nicht gewillt war, sich in irgendeiner Weise zu bewegen oder nachzugeben. Sie war sicher gewesen, dass er zumindest die Vorzüge einer positiveren Sichtweise erkennen und ihren Wunsch verstehen würde, mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse ihrer Kinder zu nehmen. Aber Shaw sah verhärtet aus, sein Gesicht unnachgiebig wie eine Maske. Orla wurde ein wenig kleiner, schrak vor ihm zurück und begann, an sich selbst zu zweifeln.

»Was?«

»Du hörst dich an wie eine Verrückte. Heute Morgen wolltest du unbedingt schaufeln, und jetzt redest du davon, dass unsere Tochter Dinge hört, aber irgendwie ist es meine Schuld, weil ich nicht zuhöre?«

»Das habe ich nicht gesagt! Deine Tuberkulose-Theorie negiert doch nicht, wie sehr sie leidet …«

»Wir haben Zehntausende ausgegeben …«

»Ich weiß, was wir ausgegeben haben!«

»Dann kannst du nicht ernsthaft daran denken, das Leben schon wieder aufzugeben, das wir hier gerade begonnen haben. Selbst wenn wir das Haus irgendwann verkaufen könnten, würden wir Verlust machen. Denk nur an all die Verbesserungen, die wir …«

»Dann nehmen wir den Verlust eben in Kauf.«

Shaw schüttelte den zerzausten Kopf, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, die an Abscheu grenzte. »Du willst einfach nicht, dass ich Erfolg habe.«

»Wovon redest du denn nun …?«

»Wir waren uns einig, dass ich jetzt an der Reihe bin, und wenn es uns in den Ruin treibt, bin ich schuld!«

»Sieh hin!« Sie zog einen der Vorhänge des Wohnzimmers zurück. Das Lampenlicht spielte auf dem Glas und warf einen gelblichen Schein auf die weiße Wand aus Schnee. »So können wir doch nicht leben.«

»Es ist ein ungewöhnlich starker Schneefall. So etwas passiert nicht jeden Tag, nicht einmal jedes Jahr. Es ist nichts, es hat nichts zu bedeuten!« Ihr blieb der Mund offen stehen angesichts seines manischen Leugnens. Er schloss die Augen und atmete tief durch.

»Wir können nicht so tun, als ob nichts wäre«, sagte sie sanft und spürte das dringende Bedürfnis ihres Mannes nach Stabilität, nach Erfolg, trotz ihrer komplizierten Zwangslage. »All das. Seit wir hier sind. Und jetzt sitzen wir in der Falle, können niemanden kontaktieren …«

»Ich werde morgen zu Fuß in den Ort gehen, das habe ich dir schon gesagt. Es ist nicht so schlimm, wie du es darstellst. Wir kriegen das hin. Ich kriege das hin. Ich werde es in Ordnung bringen.«

Der Schmerz strahlte von ihm aus und erreichte sie wie die Wellen eines Tsunamis. Furcht, Leidenschaft, Scham. Die Last von allem, was er gewollt hatte. Schuldgefühle, Hoffnung, Verzweiflung. Wenn sie ihn ansah, erwartete sie fast, dass seine empfindliche Haut zerspringen würde; es war zu viel in ihm los.

Sie fühlte sich völlig verdreht, die Augen verbunden, während jemand sie herumwirbelte. Wo war vorwärts? Wohin ging es weiter? Es reichte nicht aus, dass Shaw die Verantwortung übernehmen wollte, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen und zu beweisen, dass nicht alles ein schrecklicher Fehler gewesen war; sein Ego durfte jetzt nicht ihre Hauptsorge sein. Die Bedürfnisse von Eleanor Queen waren dringlicher – auch wenn Orla diese Bedürfnisse nutzte, um ihren eigenen Willen durchzusetzen.

»Ich weiß, dass du nicht wusstest, dass es so sein würde«, sagte sie und zwang sich, ruhig zu wirken, um ihn zu beschwichtigen. »Vielleicht gehen wir … für ein paar Monate zu meinen Eltern und kommen im Frühjahr wieder. Dann können wir es noch einmal versuchen. Wenn das Wetter besser ist, fühlen wir uns nicht so isoliert.«

Shaws Kopf machte kleine, abwehrende Hin-und-her-Bewegungen, während er sie mit seinen Augen anflehte, bitte, bitte zu verstehen. »Ich kann nicht. Ich kann nicht gehen …«

Seine Stimme brach, und er trat zurück in die Grenzen seines persönlichen Refugiums und schloss die Tür. Orla stützte den Kopf in die Hände und ging auf und ab, wobei sie diesmal den Weg zwischen der Vordertür und der Hintertür ausdehnte. Vielleicht war es der ganze Schnee, der sie verrückt machte. Er brachte sie dazu, ihre eigene Mitte zu verlieren und an allem zu zweifeln, was sie als Paar vereinbart hatten: Hatten sie je die Kinder an die erste Stelle gesetzt? Jemals, ernsthaft? Hatten sie immer erwartet, dass Eleanor Queen und Tycho einfach im Schatten des künstlerischen Anspruchs ihrer Eltern aufblühen würden? Aber warum verhielt sich Shaw, der bisher ein liebevoller und aufmerksamer Vater gewesen war, als wäre das nicht seine oberste Priorität? Hatte er auch nur ein Wort von dem gehört, was sie über Eleanor Queen gesagt hatte? Dieser Ort verzehrte ihn, und vielleicht hatte er auf eine andere Weise auch ihre Tochter angesteckt. Orla war es egal, ob das verrückt und unmöglich war; irgendetwas geschah, und sie konnte sich nicht einfach zurücklehnen und zusehen, wie es enden würde.

Die Böden gaben unter ihren Füßen Laut, stöhnten ihr Mitleid, knackten ihre eigenen müden Zweifel hinaus. Orla murmelte vor sich hin, während sie von einem versperrten Ausgang zum anderen schritt.

»Bitte. Bitte, Gott oder Göttin von was auch immer du bist, beschütze meine Kinder. Sei freundlich zu uns, wir sind noch nicht bereit dafür. Wir müssen die Freiheit haben zu gehen … und vielleicht werden wir dann auch bleiben. Ich weiß nicht mehr, was das Beste für uns ist. Bitte sei freundlich zu uns.«

Und so betete sie weiter. Und ging dann allein ins Bett.

Sie träumte eine wirre Montage aus Tychos Wunsch nach Eiscreme, Eleanor Queens Sehnsucht nach Freunden und Nachbarn und ihrem eigenen Wunsch, sich nicht gefangen zu fühlen. Manchmal waren die Traumkinder aus Eiscreme und schmolzen, als ihre Tochter versuchte, sich mit ihnen anzufreunden. Manchmal erschien das Haus wie eine Gefängniszelle, durch deren offene Gitterstäbe Schnee wehte. Einen Albtraum, in dem ihre Kinder im Haus eingesperrt waren und sie, die draußen stand, die Türen nicht öffnen und die Fenster nicht aufbrechen konnte, drängte sie zurück, indem sie sich zwang, die Bilder in einem positiveren Licht zu sehen: Das Haus war stark; weder Tycho noch Eleanor Queen war etwas zugestoßen. Im Traum sagte sie ihnen, sie sollten sich von den Fenstern wegdrehen, damit sie nicht zusehen konnten, wie sie vor Kälte zum Skelett wurde.

Es war ein trostloser Kompromiss, und selbst ihr schlafendes Ich bezweifelte, dass ein solcher aufopfernder Mutterinstinkt seinen Zweck erfüllen würde. Und wo war Shaw in ihren Albträumen vom Überleben? Eingeschlossen in seinem Atelier, ins Malen vertieft? Wenn ihr etwas zustieß, wer würde Tycho und Eleanor Queen beschützen? Und selbst wenn sie körperlich überlebten, würde ein Teil ihrer sanften Seelen immer unter dem Verlust leiden.

Sie verstand nicht, was ihr Unterbewusstsein von ihr wollte: Was sollte sie in Betracht ziehen? Steuerten sie auf ein Szenario zu, in dem sie ihr Leben lassen musste? Sie würde es tun, wenn die Situation es erforderte. Aber sollte sie, als verantwortungsbewusste Erwachsene, nicht dafür sorgen, dass die Dinge erst gar nicht so ausufern konnten? Orla wälzte sich im Schlaf und stieß gegen etwas, das sie fälschlicherweise für einen Eisberg hielt. Es war nur Shaw. Aber etwas in ihrem Verstand brach auf, und das kalte Wasser strömte herein.

Sie waren am Versinken.