21

Als sie einen Blick auf die Uhr warf, war es schon fast halb vier Uhr morgens. Irgendetwas hatte sie geweckt, ein Geräusch, das sie nicht zuordnen konnte. Nach ihrem unruhigen Schlaf beschloss sie, nach den Kindern zu sehen, weil sie sich Sorgen machte, wie sie den Schnee draußen und die Anspannung drinnen wohl verarbeiten würden. Shaw lag nicht neben ihr im Bett, also musste es das gewesen sein, was sie gehört hatte; wahrscheinlich hatte er selbst Albträume gehabt und war unten herumgelaufen, um vielleicht wieder nach dem Ofen zu sehen. Sie schlüpfte in ihre Hausschuhe und zog sich ein Sweatshirt über den Kopf.

In Tychos Zimmer fand sie ihn zusammengerollt auf der Seite liegend, ganz eingekuschelt, nichts fehlte, außer seinem Elch, der auf den Boden gefallen war. Orla legte ihn neben ihn, an die Wand, damit er nicht wieder hinausfiel.

Im Zimmer von Eleanor Queen fand sie weniger Anzeichen für einen erholsamen Schlaf. Ihre zerknitterte Bettdecke war halb auf den Boden gerutscht, und ihr Laken war so verdreht, dass es nur ihren Bauch und ein Bein bedeckte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, ordnete Orla das Laken neu und legte die Decke so behutsam wie möglich über sie.

»O Bean«, flüsterte sie. Orla wünschte, Eleanor Queen hätte nach ihr gerufen oder wäre ins Zimmer ihrer Eltern gekommen, um Trost zu suchen, aber vielleicht war sie nicht in der Lage gewesen, von selbst aufzuwachen. Dass ihre Tochter vielleicht genauso in einem schlechten Traum gefangen war wie sie selbst im Haus, machte es noch unerträglicher.

Sie ging nach unten, um Shaw zu finden. Sie mussten sich auf eine Vorgehensweise einigen.

»Shaw?« Im Wohnzimmer war es dunkel, aber unter seiner Ateliertür drang ein Lichtstreifen heraus. Die Vorhänge vor den Fenstern verbargen den weißen Vorboten ihres drohenden Erstickens. Sie schaltete auf dem Weg durch das Wohnzimmer eine Lampe ein; es machte keinen Sinn, im Dunkeln herumzustolpern, zumal sie beide wach waren. Was für eine Zielstrebigkeit er entwickelt hatte, zumindest was seine Kunst betraf. Orla wollte nicht ungnädig sein, aber es gefiel ihr nicht. Besessenheit war nicht dasselbe wie Disziplin, und wenn er ernsthaft vorhatte, seinen Plan durchzuziehen, am Morgen irgendwohin zu gehen und sich zu vergewissern, dass jemand über ihre Situation Bescheid wusste, wäre es besser, wenn er gut ausgeruht war.

Sie klopfte mit dem Fingerknöchel und drehte den Türknauf. In den letzten Tagen hatte sie sich von seinem Atelier und der geschlossenen Tür ferngehalten, in der Hoffnung, seine Arbeit würde sich über ihre dunkle Phase hinausentwickeln. Ein Schrei entwich ihr, auch wenn ihr Körper in der offenen Tür erstarrte, eine Hand immer noch auf dem Knauf. Ihr Herz hämmerte jeden dissonanten Akkord, der natürliche Rhythmus vergessen durch das Tableau, das sich ihr darbot. Ihr Gehirn konnte das, was sie sah, nicht verarbeiten, um ihr bei der Entscheidung zu helfen: zu ihm rennen oder sich ihm vorsichtig nähern.

In ihrem peripheren Blickfeld sah sie Rot. War sie zu spät gekommen? Aber es war nur Farbe. Verschmiert auf einer Leinwand.

Shaw saß auf dem Boden, an die Wand neben dem Kleiderschrank gelehnt. Die Schrotflinte auf seinen Mund gerichtet.

»Shaw? Baby?« Ihre Stimme zitterte. Sie ging auf Zehenspitzen auf ihn zu, so zögernd und unsicher, als würde sie über zerbrochenes Glas gehen.

Er sah sie nicht an, aber die Tränen strömten aus seinen Augen. Als sie näher kam, streckte er eine Hand aus, um sie aufzuhalten, hielt aber die andere fest auf dem Lauf.

»Es tut mir leid, es tut mir so leid, ich habe versucht … alles zu verstehen. Und es tut mir leid, wenn es mir nicht gelang. Bitte, wir brauchen dich, ich brauche dich, ich liebe dich.« Sie fiel auf die Knie, weinte, hatte Angst, näher zu kommen, ballte die Hände zu Fäusten und kämpfte gegen den Drang an, nach der Waffe zu greifen, sie ihm aus den Händen zu reißen.

Er schüttelte den Kopf, die Lippen immer noch gegen das Metall gepresst.

»Wir werden das in Ordnung bringen … Ich werde dir helfen, das wieder hinzukriegen«, flehte Orla, die sich auf ihren Knien auf ihn zubewegte. »Es ist nicht deine Schuld, nichts von alledem. Ich weiß, wie sehr du dich bemüht hast, aber das, was hier passiert, konntest du nicht wissen …«

Schließlich brach Shaw zusammen. Als er in Schluchzen ausbrach, ließ er die Waffe sinken, und Orla stürzte vor und nahm sie ihm ab. Sie hielt ihren Körper zwischen ihm und der Waffe, während sie ihn in die Arme nahm und ihn heulen ließ.

»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie wieder und wieder. »Wir alle lieben dich so sehr … Wir werden das schon hinkriegen, du und ich, wir sind ein Team, wir waren schon immer ein Team …«

Sie spürte das Gewicht seiner Niederlage, als er sich von ihr festhalten ließ.

»Mach, dass es weggeht«, wimmerte er und wandte sein Gesicht von ihr ab.

Orla, die dachte, dass er das Gewehr meinte, und gern zustimmte, stand auf und versuchte, den Lauf nach unten gerichtet, die Waffe aufzuklappen, wie sie es in Walkers Haus bei ihm gesehen hatte. Tränen verschleierten ihr die Sicht, als sie die unbenutzten Patronen herauszog. Sie hatte gehofft, dass er in seiner Verzweiflung vielleicht vergessen hatte, sie zu laden, und es ihm unmöglich gelungen wäre, sein Leben zu beenden. Aber nein.

Wenn sie nicht aufgewacht wäre. Wenn sie nicht nach unten gekommen wäre.

Ihre Hände zitterten so sehr, dass sie die Waffe nur mit Mühe in ihrem Schließfach verstauen konnte. Sie schloss die Schranktür und drückte sich mit dem Rücken dagegen. Sie war sich nicht sicher, was wahrscheinlicher war: dass ihr Mann seine Meinung ändern und sich an ihr vorbeidrängen würde, um zu beenden, was er begonnen hatte, oder dass die Waffe eine unnatürliche Fähigkeit besaß, wieder herauszukriechen und ihrer beider Leben zu zerstören.

»So.« Die Angelegenheit war noch nicht ausgestanden, konnte unmöglich ausgestanden sein, bis sie ihre Familie von diesem Ort weggebracht hatte. Aber sie waren alle am Leben. Er hatte seinen schlimmsten Moment überlebt. Dort befanden sie sich jetzt, und sie würden einen Moment, eine Sekunde nach der anderen angehen.

Shaw, der immer noch zusammengesunken auf dem Boden hockte, wischte sich das Gesicht am Ärmel seines Hemdes ab und sah sie an, als wäre er vorher nicht ganz anwesend gewesen. »Was tust du da?«

»Ich habe es weggeräumt.«

»O Orlie, so einfach ist das nicht.« Sein Kopf fiel mit einem dumpfen Schlag zurück an die Wand. »Du verstehst das nicht.«

»Das stimmt. Ich verstehe es nicht.« Sie setzte sich vor ihm auf den Boden, die Beine im Schneidersitz gekreuzt, und drückte eine seiner Hände. »Bitte hilf mir, es zu verstehen.«

Es sprudelte aus ihm heraus, all das, was er seit ihrer Ankunft in sich aufgestaut hatte. »Zuerst dachte ich … Ich dachte, es würde mir beim Malen helfen. Ich weiß, es klingt dumm, aber ich dachte, ich hätte meine Muse gefunden. Aber es – sie, irgendjemand – schlich sich zu jeder Zeit in meinen Kopf, ob ich wach war oder schlief. Dieses Ding, ich weiß nicht, was dieses verdammte Ding ist, Orlie, aber es fing an, mir wirklich Angst zu machen.« So wie seine Worte ihr Angst machten. Stählerne Spinnen kitzelten ihre Haut. »Es wollte etwas. Ich weiß, dass ich mich nicht geirrt habe: Es geht um diesen Ort. Um die Menschen, die gestorben sind. Aber ich wollte es nicht mehr verstehen, ich wollte nur noch, dass es aufhört. Ich brauchte eine Tür, um sie zu schließen, einen Weg, um es auszuschließen.«

»Das war es, was du versucht hast? Es auszuschließen?«, fragte sie behutsam. Vielleicht hatte er sich nicht wirklich umbringen, sondern die Dinge, die er gehört hatte, zum Schweigen bringen wollen.

»Nein, es war mehr als das«, protestierte er. »Jemand, etwas … brauchte mich. Ich konnte es nicht hereinlassen. Es wollte in mir sein. Es drängte sich in mein Bewusstsein – hinein, hinein, hinein, sagte es. Wie konnte ich es hereinlassen? Es machte mir Angst, Orlie, solche Angst. Was, wenn ich es nicht aufhalten konnte? Ich wusste nicht, wer oder was ich sein würde, wenn es in mich eindrang. Ich sagte ihm immer wieder in meinem Kopf: Nein, geh weg, lass mich in Ruhe! Es ist größer als ich, stärker. Was will es von mir? Und wenn ich verliere, wenn es mich erwischt … Ich glaube, genau das wollte es mit dem Schnee. Also bin ich hier, gefangen. Und es erwischt mich. Und ich bin nicht mehr ich selbst . Und was ist, wenn ich dich oder die Kinder verletze? Ich kann nicht riskieren, dass ich mich verliere und dir oder Tigger oder Bean etwas antue …«

Orla saß fassungslos da. Es waren einfache Worte, aber sie konnte nicht begreifen, was sie da hörte. Ihr Mann dachte, etwas wolle von ihm Besitz ergreifen? Etwas, das einem von ihnen schaden könnte? Für ihn war dieser Selbstmordversuch ein Opfer, um sie vor dem zu bewahren, was er fürchtete zu werden? Dieser verdammte Ort .

»Wir werden von hier verschwinden.« Sie schmiegte sich an ihn, ihr Arm umschloss seine Schultern. »Morgen früh. Wir werden alle Schneeschuhe anziehen. Wir gehen zumindest bis runter zur Straße und sehen, ob sie geräumt ist.«

Shaw nickte. »Ich wollte dich nicht enttäuschen …«

»Das hast du nicht. So darfst du nicht einmal denken. Sieh nur, was du zu tun bereit warst, um uns zu retten …« Es war egal, dass sie es nicht ganz begreifen konnte, die düsteren Stimmen, die in seinem Kopf widerhallten. Wichtiger war, dass sie ihm glaubte: Irgendetwas geschah hier. Es entfachte den Wahnsinn in ihren Köpfen. Und er hatte auf die einzige Weise, die er kannte, versucht, sie alle zu beschützen.

»Na komm.« Sie stand auf und zog ihn auf die Beine.

»Es tut mir so leid. Dass ich unser Leben so durcheinandergebracht habe. Ich wollte nur ein Abenteuer, eine Chance, etwas Eigenes zu machen. Ich dachte wirklich …«

»Das wollte ich auch. Und du wirst es immer noch bekommen, ein Abenteuer, und all die Dinge, die du tun willst.« Sie stützte ihn um die Taille, als er neben ihr herstapfte, steif und schwer, als wäre sein Körper versteinert und er wüsste nicht recht, wie er ihn bewegen sollte.

Sie machte sich nicht die Mühe, das Licht auszuschalten, bevor sie die Treppe hinaufgingen; was machte das schon aus? Die Stromrechnung würde nichts sein im Vergleich zu dem Verlust, den sie mit dem Haus machen würden. Sie würden nach Pittsburgh fahren, sobald sie konnten. Im Haus ihrer Eltern war mehr Platz, als sie bei Walker und Julie gehabt hatten. Die Kinder konnten ihr altes Zimmer haben, und sie und Shaw würden das Gästezimmer nehmen. Es war schon so lange her, dass sie unter dem Dach ihrer Eltern gelebt hatte, aber das war die Zuflucht, die sie jetzt brauchten.

Sie hielt Shaws Hand und führte ihn die Treppe hinauf. Das Holz knarrte unter ihren Füßen, und als sie oben ankamen, stand Eleanor Queen im Türrahmen ihres Zimmers.

»Was ist denn los?«, flüsterte sie.

»Papa fühlt sich nicht wohl.« Das Gesicht ihrer Tochter lag im Schatten, aber Orla sah, wie sie den Kopf drehte und ihren Vater musterte, als er vorbeischlurfte. »Es ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst. Geh wieder ins Bett. Wir werden morgen früh losziehen.«

»Losziehen? Wohin?«

»Fort von hier.« Sie drehte noch einmal um und küsste Eleanor Queen auf die Stirn, bevor sie sie sanft in Richtung ihres Bettes schob. Doch als Orla an ihrer eigenen Zimmertür ankam, lehnte ihre Tochter im Flur und beobachtete sie. »Geh schlafen«, sagte Orla noch einmal zu ihr.

»So einfach ist das nicht«, sagte Eleanor Queen.

»Mach einfach die Augen zu. Stell dir vor, du schreibst das Alphabet, einen langsamen Buchstaben nach dem anderen.«

»Nein. Du verstehst das nicht. Es wollte uns hier haben. Und wir sind noch nicht fertig.« Das Mädchen zog sich in sein Zimmer zurück und schloss die Tür.

In Orlas Mund kribbelte es vor Übelkeit. Alles entglitt ihr. Nur Tycho hatte noch keine Anzeichen von diesem Delirium gezeigt. Einst hatte sie ihren Sinn in ihrer Tätigkeit als Tänzerin gesehen, und als Ernährerin der Familie. Jetzt brauchte die Familie sie, um etwas anderes zu tun.

Sie musste sie retten.