22

Es wurde ein allzu vertrautes Muster. Das Aufwachen. Der Schock über etwas Neues und Fremdes da draußen. Das Herbeirufen der anderen, bis der Rest des Haushalts versammelt war.

Orla und Shaw standen in ihren Hausschuhen nebeneinander auf der Veranda und sahen aus wie ausdrucksgleiche Porträts von Was-zur-Hölle. Vielleicht hatten sie sich an die Temperaturen gewöhnt, oder vielleicht … war es wärmer, über dem Gefrierpunkt. Wasser tropfte von der Dachrinne, plätscherte auf das durchhängende Geländer der Veranda. Aber eine wärmere Nacht konnte das Abschmelzen nicht erklären. Und der Hof – war da wirklich etwas geschmolzen? Orla hätte das Wort wiederhergestellt verwendet. Wiederhergestellt, wie er vor dem Auftauchen der drei Meter Schnee gewesen war. Abzüglich der Überreste des Schneedrachen. Es war ein Wunder, und jetzt verstand sie, wie Shaw sich gefühlt hatte, als er das Polarlicht gesehen hatte. Es war alles so furchtbar falsch. So furchtbar unmöglich.

»Siehst du?«, flüsterte sie ihrem Mann zu. »Es wird alles wieder gut.«

Wenigstens konnten sie nun gefahrlos gehen.

Er war wie betäubt, als sie die Szenerie betrachteten: die gerade mal 40 Zentimeter Schnee, die im Hof verblieben waren, das Wasser, das aus den Dachrinnen tropfte. Tycho war sich wie üblich der Unwahrscheinlichkeit dessen, was sie sahen, nicht bewusst. Anders dagegen Eleanor Queen, die ihre Hand in die von Orla schob.

»Nichts ist überschwemmt.«

»Hm?« Orla blickte auf ihre ängstlich dreinblickende Tochter hinab.

»Wenn es so schnell geschmolzen wäre, hätte es Überschwemmungen gegeben. Das passiert doch dann.«

»Ja, normalerweise …«

»Wir haben den Schnee weggebetet!«, sagte Tycho. »Es hat geklappt, Mama, jetzt können wir draußen spielen!« Er hüpfte auf der Veranda herum, ohne sich um die Pfützen zu kümmern, die seine nur mit Socken bedeckten Füße durchnässten.

Die Versuchung, sich erneut ins Leugnen des Unerklärlichen zu flüchten, war groß. Aber sie hatte sich selbst und ihrer Familie versprochen, sich der Realität zu stellen, so wie sie nun einmal war. Sie hatte es so gewollt . Und jetzt war es da. Hatte etwas sie erhört? Dasselbe Ding, das versuchte … Sie wollte nicht an die Nacht zuvor denken oder an die Stimme, die Einlass in Shaws Kopf verlangte; nicht solange sie nicht weit weg waren. Orla war nicht mehr so hoffnungsvoll wie zu Beginn, selbst jetzt, da der Fluchtweg frei war. Irgendetwas – in der Luft? in ihrem Bauch? – fühlte sich nicht richtig an. Gift kam ihr in den Sinn. Eine geräuschlose und tödliche Waffe, die in einem unsichtbaren Nebel um sie herumschwebte. Was, wenn sie es alle die ganze Zeit einatmeten?

Aber gegenüber Eleanor Queen, die immer noch ihre Hand umklammert hielt, versuchte sie, fröhlich zu klingen. »Du brauchst keine Angst zu haben, wir können kommen und gehen, wie es uns gefällt.«

»Nein, Mama, du begreifst immer noch nicht … Du bist so blind. Das ist nicht passiert, damit du gehst, sondern damit du glücklich bist.«

Eleanor Queen klang nicht sehr glücklich. Die sich vertiefende Verbindung zwischen ihrer Tochter und dem, was um sie herum geschah, ließ ihre Knochen zu Eis erstarren und sie fröstelte trotz der milden Temperaturen.

»Okay, es ist Zeit zu gehen, lasst uns gehen.« Orla scheuchte ihre Familie nach drinnen, genau wie Shaw es in der prächtigen Nacht der tanzenden Lichter getan hatte. Sie war sich sicher, dass sie und ihr Mann jetzt einer Meinung waren und einen definitiven, wenngleich unausgesprochenen Plan hatten, auch wenn er nach wie vor überwältigt und verwirrt war.

Drinnen half sie Tycho, seine durchnässten Socken auszuziehen. »Beeilt euch, geht in eure Zimmer. Packt eure Lieblingssachen, es ist Zeit zu gehen. Papa und ich kommen später noch mal zurück, um den Rest zu holen.« Oder vielleicht auch nicht.

Shaw stolperte von der Veranda herein, tausendmal lebendiger, als er es noch einen Moment zuvor gewesen war. Irgendetwas hatte ihn zurück ins Leben gerüttelt. »Nein, warte. Wir können nicht gehen. Jetzt noch nicht.«

Seine Worte ließen die Kinder innehalten. Sie blickten von einem Elternteil zum anderen, auf der Suche nach einer klaren Richtung.

»Wir müssen gehen.« Orla dosierte ihre Worte sorgfältig, um die Kinder nicht mit den vulkanischen Emotionen zu beunruhigen, die in ihr brodelten, oder mit der sengenden Erinnerung, die sie ihrem Mann entgegenschleudern wollte: Hast du letzte Nacht schon vergessen? »Wir werden die Einzelheiten später klären, mit dem Haus …«

Shaws Blick nahm ihr den Atem. Er widersprach ihr nicht, aber etwas anderes stimmte nicht. Und seine Augen weiteten sich, als ob er verzweifelt etwas sagen oder verschweigen wollte. Er neigte seinen Kopf in Richtung der Kinder.

Orla wollte am liebsten weinen. Massive Schneefälle lagen im Bereich des Möglichen; im nahe gelegenen Oswego County kam das manchmal vor, das hatte Shaw gesagt. Aber konnte so viel Schnee einfach … verschwinden? In ihr regte sich ein dringender und urtümlicher Wunsch zu fliehen. Jetzt, solange sie noch konnten. Warum konnten sie das nicht? Sie flehte ihren Mann ohne Worte an.

»Warum geht ihr nicht hoch und zieht euch an?«, schlug er den Kindern mit seiner gelassenen Vaterstimme vor. Zum Glück konnte er immer noch normal wirken, nicht wie der gebrochene Mann, der mit dem Rücken zur Wand saß, eine Schrotflinte …

Tycho stürmte davon, aber Eleanor Queen begutachtete sie beide ein letztes Mal, bevor sie ihm die Treppe hinauf folgte.

»Was ist los, warum können wir nicht gehen?«, flüsterte Orla Shaw drängend zu.

Er führte sie zurück zur Tür und sprach ebenso leise.

»Ist dir die Garage nicht aufgefallen?«

Orla schüttelte den Kopf. Wünschte, er würde nicht sagen, was er sagen wollte …

»Es sieht so aus, als ob eine Seite eingestürzt ist, ein Teil des Daches und der Wand.«

»Das habe ich nicht gesehen.«

»Die andere Seite. Und von dort, wo wir standen, sah es so aus, als ob das Auto unter Trümmern begraben wäre und …«

Sie stieß die Haustür auf und eilte wieder hinaus, trat sogar in ihren Hausschuhen in den verschneiten Hof. Sie war vorhin so abgelenkt gewesen, dass sie nicht daran gedacht hatte, nach der Garage zu sehen, aber Shaw hatte recht. Und da war noch etwas, das sie nicht bemerkt hatte. Ein kleiner purpurroter Fleck an der Seite, nur ein paar Meter entfernt, durchnässt, auf dem Schnee. Der leblose Körper ihres kleinen Freundes, des Kardinals. War er begraben worden, als der Schnee fiel? Eingeschlossen, erstickt durch den plötzlichen, übernatürlichen Schneefall? An einem anderen Tag hätte Orla vielleicht über den Verlust geweint, den sentimentalen oder symbolischen Verlust, aber jetzt war sie zu aufgewühlt. Shaw gesellte sich zu ihr in den Hof, bemerkte den gefiederten roten Leichnam aber nicht. Stattdessen blickte er an ihr vorbei, hinauf zum Dach. Sie folgte seinem Blick mit ihrem.

Ihre Satellitenschüssel baumelte schief.

»Scheiße. Scheiße «, murmelte sie. »Dieser verdammte Ort. Hast du nachgesehen, ob dein Handy geht?«

»Als Erstes. Ich gucke jeden Tag 50-mal nach. Nur keine Panik.«

»Ich schiebe keine …«

»Es tut mir wirklich leid wegen gestern Abend.«

»Ich weiß.«

»Danke – für alles, für dein Verständnis. Ich will nur, dass es uns allen gut geht, dass wir in Sicherheit sind.«

»Das weiß ich. Wir werden das alles hinkriegen. Im Moment sollten wir uns konzentrieren; wir können immer noch unseren ursprünglichen Plan durchziehen.« Wenigstens konnten sie draußen ihre Stimme erheben, ohne die Kinder zu erschrecken. Und es war ihr egal, dass ihre Füße zu Eis wurden oder der Schnee durch den abgetragenen Stoff ihrer Jogginghose sickerte. Konzentration. »Wir gehen in den Ort; wenn es sein muss, den ganzen Weg zu Fuß. Und rufen Walker an – warte. Sind sie schon unterwegs?« Der andere Bennett-Clan verbrachte Weihnachten abwechselnd bei Julies Familie in North Carolina.

»Alles gut, sie sind noch nicht weg.«

Sie plante alles durch. »Wir müssten wahrscheinlich nur eine Nacht bleiben. Meine Eltern werden kommen und uns abholen …«

»Vielleicht müssen wir das gar nicht tun.« Er musste den bevorstehenden Ausbruch in ihrem Gesicht gelesen haben, als sie den Mund zum Protest öffnete. »Sie hierherfahren lassen, meine ich. Vielleicht …« Er blickte zurück zum Auto. »Ich kann versuchen, es freizuschaufeln. Es sieht nicht allzu beschädigt aus, ein paar Beulen. Wenn ich etwas von dem Schnee, der es blockiert, aus dem Weg räumen kann, könnte ich es vielleicht einfach rückwärts unter dem eingesackten Dach hervorlenken. Inzwischen ist es egal, ob der Rest der Garage einstürzt.«

Orla nickte. Ein kluger Plan. Was auch immer Shaw infiziert hatte, hatte ihm nicht sein gesamtes rationales Denken geraubt. Es wäre eine lange Wanderung für die Kinder geworden, und die Vorstellung, dass sie auf der schneebedeckten Straße ohne Bürgersteige und mit schneebedeckten Böschungen unterwegs waren, hatte ihr nie gefallen. Und sie hätten die Wahl, wohin sie als Nächstes fahren wollten, obwohl die Fahrt direkt nach Pittsburgh bei Weitem die beste Option zu sein schien. Sie würde nicht zulassen, dass ihre Familie denselben Fehler noch einmal machte; wo immer sie auch leben würden, sie mussten unter Menschen sein. Über den finanziellen Verlust all ihrer Investitionen konnten sie sich später Gedanken machen. Oder sie könnten das Haus verkaufen – vielleicht wäre es ja für den nächsten Besitzer nicht mehr so ungastlich. Das Haus würde ihnen zum Verhängnis werden, und Orla interessierte sich nicht für das Warum oder Wie. 16 Tage waren lang genug gewesen. Es war Zeit zu gehen.