25

Niemand sprach, als Orla wieder ins Haus kam. Sie wusste nicht, wie Eleanor Queen Tycho die Situation erklärt haben mochte, aber sein leicht benommener, traumatisierter Blick entsprach dem ihren. Orla war froh, dass sie keine Fragen stellten. Ein kleiner Segen. Sie zog sich trockene Kleidung an – Kleidung, die nicht mit Blut befleckt war – und bereitete die Kinder vor, so gut sie konnte. Schließlich versammelten sie sich an der Eingangstür und hielten einen stillen Moment inne, wie Chirurgen, die sich die Handschuhe für die schwierigste Operation ihres Lebens anzogen.

Sie ließen alles zurück. Orla machte sich nicht einmal die Mühe, die Tür abzuschließen. Sie nahm einen kleinen Rucksack mit Geld, offiziellen Papieren, Ausweisen, geladenen, aber nicht funktionierenden Handys und einer Flasche Wasser mit, die wahrscheinlich zu Eis erstarren würde, bevor sie St. Armand erreichten.

Tycho folgte Eleanor Queen, und Orla bildete das Schlusslicht, damit sie die beiden Kinder im Auge behalten konnte. Der Himmel war bleiern und der Schnee peitschte ihnen ins Gesicht. Sie hielten jeweils eine Hand an der Seilführung. Orla war dankbar, dass sie diese installiert hatten. Sie traute sich nicht einmal mehr zu, geradeaus zu gehen. Der Neuschnee war tief genug, um das Gehen zu erschweren, vor allem für Tycho, aber als sie das Haus verließen, hatte er zumindest das Blut begraben. Tychos kindliche Energie trieb ihn vorwärts, er streckte seine Beine aus, um in die Fußstapfen seiner Schwester zu treten. Und die unerschütterliche Eleanor Queen ließ sich nicht beirren, auch wenn Orla sich fragte, ob sie die Schneeschuhe hätten anziehen sollen. Ihre Tochter verstand die Ernsthaftigkeit der Mission und hatte ihrem Plan nicht widersprochen, und Orla rechnete damit, dass sie leichter laufen würden, wenn sie erst einmal die stärker befestigte Straße erreichten. Alles, so sagte sie sich, würde leichter werden, wenn sie die Grundstücksgrenze überquerten, weg von diesem furchtbaren Ort.

Der Wind neckte sie, und sie spürte, dass er ein grausames Spiel mit ihnen treiben wollte: sie stoßen, sie herumwirbeln, sie umdrehen, damit sie nicht fortgehen konnten. Es ist bloß Wetter. Sie wanderten weiter. Tycho fragte nie: Wo ist Papa? Sein Schweigen brach ihr das Herz.

Die Sicht verschlechterte sich, und eine Zeit lang befürchtete Orla, dass ein weiterer Schneesturm ihnen den Weg versperren würde. Doch während diese Wolkenbrüche plötzlich aufgetreten waren, wurde die Luft gerade schrittweise schwerer, und der Himmel schien sich allmählich zu senken. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick nach oben, und je tiefer die schweren Wolken sanken, desto klaustrophobischer wurde ihr zumute. Würden die Wolken sie auslöschen? Würden sie sie ersticken wie ein riesiges Kissen, das ihnen ins Gesicht gedrückt wurde? Sie wollte Eleanor Queen drängen, schneller zu gehen, ungeduldig, das Ende der kurvenreichen Zufahrt zu erreichen, aber ihre Tochter und ihr Sohn stießen bereits vor Anstrengung laut keuchend den Atem aus. Angetrieben von ihrer eigenen Angst, brauchten sie nicht weiter gedrängt zu werden.

Es schien, als würde sich die Einfahrt in die Länge ziehen und nie enden. »Wir sind fast da«, rief Orla in der Hoffnung, dass es stimmte, in dem verzweifelten Wunsch, ihnen etwas Positives zu schenken, eine Belohnung für das Elend ihres Tages: Ihre Mutter würde sie doch noch in Sicherheit bringen. Selbst wenn sie ihr nie verzeihen würden, was sie ihrem Vater angetan hatte.

Sie bogen um die letzte Kurve, und Orla erwartete, einen ansteigenden Hang zu sehen, mit streng wirkenden Zuckerahornbäumen und Buchen, schwarzen Stämmen und einem verschlungenen Baldachin aus kahlen Ästen, die mit Schneegirlanden geschmückt waren. Die Straße, die zu ihrem Haus führte, verlief durch ein Waldstück, aber das war es nicht, was sie vor sich sah. Stattdessen lag dort ein dicker Nebel. Und eine weite, formlose Fläche, die fast außerirdisch aussah.

Eleanor Queen blieb abrupt stehen, und Orla musste Tycho am Rücken seiner Jacke festhalten, um zu verhindern, dass er in seine Schwester hineinrannte. Er hatte seinen Blick die ganze Zeit nach unten gerichtet, fixiert auf die Fußspuren seiner Schwester.

»Nein, nein, nein, das ist nicht möglich.«

»Mama?« In der zitternden Stimme von Eleanor Queen verbarg sich eine schreckliche, unausgesprochene Frage. Sie hatte das Ende des Seils erreicht: den Briefkasten. Aber die Welt, die sie einst dahinter gekannt hatten, war verwischt und durch ein Plateau aus zerklüftetem Eis ersetzt worden. Es verlief in entgegengesetzter Richtung zu dem, was die Straße hätte sein sollen: Der Eisboden stieg zu ihrer Rechten an, wo der Weg zuvor zu einer größeren Durchgangsstraße hin abgefallen war. Das Plateau war zu breit, um es überblicken zu können, als läge es zwischen den Gipfeln einer hoch aufragenden, wolkenverhangenen Bergkette.

»Lass das Seil nicht los. Tritt zurück und nimm Tychos Hand.«

Eleanor Queen nahm Tychos linke Hand und Orla seine rechte, nachdem sie das Führungsseil losgelassen hatte, dann gingen sie bis zur Grenze. Sie standen in einer Reihe und blickten auf das, was ihr Weg hätte sein sollen. Der Weg nach draußen.

Aber ich habe es getötet.

»Was ist das, Mama?«, fragte Tycho in demselben Tonfall, mit dem er einst die Nordlichter betrachtet hatte, weder ängstlich noch ehrfürchtig. Einfach nur verwirrt.

Orla dachte zuerst an den Mount Everest – sie und Shaw hatten eine gemeinsame Vorliebe für atemberaubende Bergsteigerfilme. Manchmal mussten die Bergsteiger riesige Eisfelder überqueren, die von gefährlichen Gletscherspalten durchzogen waren. Sie legten Leitern über die Spalten und schritten über die schwachen, gekrümmten Brücken wie seltsame, gebückte Tiere mit Steigeisen voller bösartiger Spitzen anstelle von Hinterklauen. Dem Schnee war nicht immer zu trauen; manchmal war er da, wo er fest aussah, nur eine dünne Schicht, und darauf zu gehen bedeutete in einen Abgrund zu stürzen. Ein Sturz in eine tiefe Gletscherspalte bedeutete fast sicher den Tod.

»Mama?«, fragte Eleanor Queen erneut.

»Es ist ein Gletscher«, sagte Orla ihnen. Eine fast lachhaft sachliche Erklärung für das Unmögliche.

Sie wollte zusammenbrechen. Weinen. Shaw war umsonst gestorben. Was auch immer an diesem Ort geschah, es war noch lange nicht vorbei. Ein Grund mehr, die Kinder wegzubringen. Vielleicht waren sie in der Zeit zurückgereist – wofür sie gebetet hatte, aber viel zu weit zurück –, als ein Großteil Nordamerikas von Gletschern bedeckt gewesen war. Shaw hatte eines Abends im Bett, als er über seine Gemälde sprach, erwähnt, dass er gern einen Gletscher sehen würde, bevor die globale Erwärmung all die sich zurückziehenden Eisbänder vollständig verschwinden ließ. Aber sie hatten so viel Geld in diesen Umzug gesteckt, dass es eine Illusion war. Etwas für seine Bucket-List.

»Ich frage mich, was Papa dazu gesagt hätte«, flüsterte Orla, ohne nachzudenken. Und bedauerte es sofort.

Tycho brach in Tränen aus. »Wir können nicht weg! Das Monster wird uns erwischen.«

Wann hatte er angefangen zu glauben, dass es ein Monster gab? War es das, wovon er dachte, dass das mit seinem Vater geschehen war? Wie schnell hatte Orlas eigene Angst Metastasen gebildet und sogar ihren kleinen Jungen angesteckt: Etwas hatte es auf sie abgesehen .

Orla war versucht, über das Ende der Einfahrt hinaus auf das zuzustapfen, was eigentlich die Straße sein sollte. Vielleicht war der Weg wirklich da und alles nur eine Fata Morgana. Der Bär war nicht real . Es war eine trostlose, aber ausgesprochen furchterregende Möglichkeit, dass die Macht, um die es ging, keine vorgegebenen Grenzen hatte. Keine Beschränkungen. Hatten sie es mit einer allmächtigen Kraft zu tun, die sie zu spät zu ergründen versucht hatte? Oder waren ihre Kräfte auf blumige Illusionen beschränkt? Ich bin hier die Todbringende .

Der Teil von ihr, der den Kindern zeigen wollte, dass es da draußen nichts gab, wovor man sich fürchten musste, trat auf den Gletscher.

»Mama, nein!« Eleanor Queen stürzte nach vorn und zerrte sie zurück in die relative Sicherheit der schneebedeckten Einfahrt.

»Vielleicht ist es nicht real«, sagte Orla. Ihre Stimme klang hohl, verschluckt von der Fläche voller Risse und Spalten. Nichts bewegte sich, keine Vögel am Himmel, kein Wind, der Schnee über das Eis streute.

»Ich glaube nicht, dass man dem trauen kann«, flüsterte Eleanor Queen.

Tycho ließ den Kopf hängen und wimmerte.

Orla zögerte; sie wollte nicht aufgeben. Sie konnte die Hoffnung nicht fahren lassen, dass das, was eigentlich die Straße hätte sein sollen, sie in Sicherheit bringen würde, wenn sie einfach weitergingen und nach rechts abbogen, als wäre alles, wie es sein sollte. Das Monster würde sehen, dass sie sich von vorgetäuschten Winterwundern nicht einschüchtern ließen. Wenn sie alle weitergingen, würde sich der Gletscher vielleicht unter ihren Füßen auflösen und sie würden sich in vertrauter Umgebung wiederfinden, zwischen den von Bäumen gesäumten Hügeln entlang ihrer Straße.

»Bist du sicher, Eleanor Queen? Es könnte nur für eine kurze Strecke so aussehen.« Orla hasste die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwang. Und sie hasste es, dass Eleanor Queen durch ihre Fragen denken könnte, ihre Mutter würde ihr immer noch nicht glauben. Orla war sich nur allzu bewusst, dass sie mehr auf die kryptischen Worte und Ratschläge ihrer Tochter hören musste. Wenn Orla dem folgte, was sie selbst für wahr hielt, nur weil sie es wollte, könnten sie auf dem Gletscher stranden. Oder Schlimmeres. Aber sie konnte nicht umkehren, ohne Eleanor Queens Zustimmung zu erhalten.

»Wir müssen nach Hause«, bestätigte diese, als hätte sie die Gedanken ihrer Mutter gelesen.

»Ich will nach Hause«, rief Tycho und hob seine Arme, damit Orla ihn tragen konnte. Sie wusste, dass er nicht den Ort meinte, der hinter ihnen auf sie wartete, aber es gab keinen anderen Ort, an den sie ihn bringen konnte.

Orla fand sich mit der Niederlage ab und hob Tycho hoch, der in seiner schneenassen Winterkleidung glitschig war. Das Wetter wurde besser, als sie zurückgingen. Die Wolken lichteten sich und gaben einen Streifen hellen Himmels frei. Das war es, was Es wollte . Sie hasste selbst die Vorstellung, dass sie Befehle befolgte, aber wenn Es sie hörte, ihre Gedanken anzapfte, konnte sie dann einen Weg finden, Es zu überlisten?

In gewisser Weise hatte sie mit allem recht gehabt, aber es waren keine spirituellen Träumereien mehr; etwas war da draußen, mächtiger als sie begreifen konnte. Und es hatte sie betrogen. Sie hatte an die Schönheit glauben wollen, an die Natur, an die Verheißung des Unbekannten. Aber es war eine List und eine Falle.

Sie gingen auf dem zertrampelten Weg entlang und die Zufahrt brachte sie schneller als erwartet zu ihrem Haus. Konnten sie es morgen noch einmal versuchen, vielleicht nur mit der Absicht, bis zum Briefkasten zu gehen, um eine Nachricht für den Postboten zu hinterlassen? Würde Es sie gewähren lassen, oder würde Es den Versuch, mit der Außenwelt zu kommunizieren, erkennen? Obwohl die Blutlache begraben lag, drehte Orla Tycho auf ihre rechte Hüfte, sodass er von der Garage wegschaute – weg von der grellen Plane, die unter dem Schneestaub immer noch leuchtend blau war und Shaw verbarg.

Ein Wort hämmerte ihr durch den Kopf.

Warum?

Warum?

Warum?

Warum wollte Es, dass sie alle blieben? Wollte Es sie einen nach dem anderen ausrotten?

Es machte sie wütend, die Kleinlichkeit dieser Macht, die sie nicht verstand. Es stichelte, protzte, drohte, sorgte dafür, dass sie sich unwillkommen fühlten, und ließ sie dann nicht gehen. Warum? Hatte nur Shaw Es verärgert? Oder hatte sie Es auch verärgert? Konnte sie etwas tun, etwas, das die Dinge wieder in Ordnung brachte? Oder würde Es unberechenbar und rachsüchtig bleiben?

Sie öffnete die Haustür und die Kinder schlurften hinein, mürrisch, geschlagen. Erschöpft. Orla schloss die Tür hinter ihnen ab. Zog die Vorhänge vor die Fenster. Sie war bereit, einen neuen Plan auszuprobieren, so albern er auch klingen mochte: so zu tun, als ob sie woanders wären. Während Eleanor Queen und Tycho sich aus ihren Mänteln und Stiefeln schälten, ging Orla schnurstracks die Treppe hinauf, ohne sich um den schmelzenden Schnee zu scheren, den ihre Stiefel zurückließen. Sie ließ alle Jalousien herunter und war froh über ihre Voraussicht, an allen Fenstern Abdeckungen angebracht zu haben.

Sie wollte Es ausschließen.

Es verschwinden lassen.

Sie würde die Kinder davon überzeugen, dass das Draußen keine Rolle mehr spielte, dass es nicht existierte. Sie würde Eleanor Queen und Tycho, ihre fantasievollen, künstlerischen Kinder, dazu anleiten, eine neue Realität zu erschaffen. Vielleicht konnten sie das Ding, das vor ihrer Tür lauerte und ihre Gedanken belauschte, verwirren. Das Ding sollte ihre Gedanken lesen und keine Spur von der Welt finden, die es kannte oder wollte. Wenn sie das Ding vergessen könnten, würde ihr Peiniger vielleicht auch sie vergessen.

Wie lange mochte das wohl dauern?

Und hatten sie genug Nahrung und Ressourcen, um Es zu überdauern?