26
Orla legte eine ihrer Lieblings-CDs von Putumayo Playground auf. Sie erfüllte das Wohnzimmer mit den beschwingten Rhythmen von Steeldrums und Kuhglocken.
»Jeder Teppich kann eine Insel sein, und …«
»Der Stuhl kann Australien sein!«, schrie Tycho.
Orla, die nicht wusste, dass ihr kleiner Junge sich einiges über Australien gemerkt hatte, nickte ihm beeindruckt zu. »Gute Idee.«
»Das Bücherregal kann ein Berg sein …«
»Den niemand erklimmen kann.« Obwohl sie ihre Tochter unterbrochen hatte, richtete Orla die Worte an ihren Sohn. »Aber du kannst dir neue Tiere für die Ozeane ausdenken und freundliche Kreaturen, denen du an Land begegnen könntest.«
Sobald sie die beiden vertieft in ihre spielerische Neugestaltung des Wohnzimmers wusste, wollte Orla einige notwendige Aufgaben allein erledigen. Sie musste eine Bestandsaufnahme der Lebensmittel machen. Den Handyempfang überprüfen. Es fühlte sich später am Tag an, als es sein sollte. Die Zeit verging auf merkwürdige Weise. Orla wäre nicht überrascht gewesen, wenn sie den Vorhang zurückgezogen und festgestellt hätte, dass die Sonne bereits untergegangen war. Vielleicht hatte der Kummer etwas in ihr zerrissen, einen inneren Mechanismus, der sie mit der realen Welt, der Erdrotation und dem aufgehenden Mond verbunden hielt. Sie war wie ein kaputtes Spielzeug, ein Kreisel, der sich schief drehte. Dass das Haus ohne Shaw leer schien, machte es nicht leichter. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass er hinter seiner geschlossenen Tür arbeitete und nur einen Ruf oder ein Klopfen entfernt war. Seine Abwesenheit war überall spürbar. Auch die Kinder spürten sie.
»Was ist mit Papa?«, fragte Tycho, während er von einer Insel zur anderen sprang und seiner Schwester folgte.
Eleanor Queen ging in die Hocke, zog Tycho neben sich und sah ihre Mutter mit einem intensiven, zermürbenden Blick an. Orla spürte, dass dies ein Test war: Wie viel wusste sie über das Unmögliche, und was würde sie zugeben? Sie würde ihren Sohn nie anlügen, aber er war noch jung genug, um ihn vor den schlimmeren Aspekten der Wahrheit zu schützen.
Orla kniete vor ihnen nieder. »Dein Papa …« Sie presste die Lippen aufeinander, um das Zittern zu stoppen. »Es gab einen schrecklichen Unfall …«
»Ich weiß«, tönte Tycho ungeduldig. »Aber er wird da draußen erfrieren, er sollte reinkommen.«
Orla presste ihre Wangen zwischen ihre Hände. Vielleicht würde sie in einem Krankenhaus aufwachen und eine besorgte Krankenschwester würde sagen: Sie hatten eine schwere Kopfverletzung, wir hätten Sie fast verloren . Und Shaw würde da sein und lächeln. Und die Kinder hielten selbst gebastelte Karten hoch. Und sie würde ihnen erzählen, was für einen schrecklichen Traum ich hatte. Ich dachte, ich würde nie mehr aufwachen.
Sie hatte schon öfter solche Albträume gehabt. Einmal dachte sie, sie sei wach, aber als sie das Laken wegwarf, um aufzustehen und ins Bad zu gehen, sah sie eine menschliche Gestalt an der Decke über sich schweben. Ein Mann in Fötusstellung, als würde er schlafen. Ein Aufschrei durchfuhr sie und sie versuchte, sich an Shaw zu klammern, um ihn zu wecken, ihn zu warnen. Aber als sie sich nicht bewegen konnte, ihren Schrecken nicht aussprechen konnte, wurde ihr klar, dass sie schlief und das Laken nicht zurückgeschlagen hatte, um sich aus dem Bett zu erheben. Da wachte sie ein zweites Mal auf und schlurfte ins Bad, rieb sich die Augen und versuchte, das Bild des Mannes an der Decke zu vertreiben. Doch im dunklen Bad sprang sie fast von der Toilette, als sie in ihrer peripheren Sicht eine Gestalt wahrnahm, die sich in der Badewanne zusammengerollt hatte.
So könnte es auch jetzt sein, ein Albtraum im Albtraum. Und vielleicht lag sie irgendwo gelähmt, vielleicht im Koma, und niemand wartete wirklich darauf, dass sie ihren Kindern pragmatisch erklärte, dass es besser war, den Leichnam ihres Vaters draußen in der Kälte zu lassen.
Sie versuchte, Tychos Hand zu nehmen, aber er hielt stattdessen die seiner Schwester fest. Sie saßen mit erwartungsvollen Gesichtern da, eine vereinte Front. Orla konnte den konzentrierten Blick von Eleanor Queen immer noch nicht deuten und befürchtete, dass Tycho nicht einmal ein Grundverständnis für den Tod hatte. Sie wollte es ihm nicht erklären, nicht hier, nicht jetzt, nicht ohne Shaw. Und nicht mit einem Feind, der vor ihrer Tür lauerte.
»Du hast verstanden, dass dein Vater gestorben ist?«, fragte sie fast flehend. »Es gab einen Unfall mit … der Flinte.«
»Die hat einen lauten Knall gemacht.«
»Es war nicht deine Schuld, Mama«, sagte Eleanor Queen, deren Augen immer noch auf sie gerichtet waren.
»Papa ist also … Er ist jetzt Teil des Universums und zieht mit den Sternen über das Firmament.«
Trotz ihrer fehlgeleiteten spirituellen Bemühungen konnte sie das immer noch glauben – und auch glauben, dass Shaw einer solchen Erklärung nicht widersprechen würde. Um der fröhlicheren Du-wirst-uns-nicht-kriegen-Stimmung willen, die sie zu erzeugen hoffte, verweigerte Orla sich selbst das Weinen. Für Eleanor Queens stoische Vergebung. Für Tychos empfindsame Verwirrung. Sie würde es später tun und tausend namenlose Göttinnen für das Verständnis ihrer Tochter und die Unschuld ihres Sohnes preisen. Aber die Tränen fluteten die hohlen Stellen in ihrem Gesicht, drückten, drückten und drohten ihre zarten Knochen zu zerbrechen.
»Also, da Papa … Sein Geist ist frei, und wenn wir ihn, seinen Körper, draußen lassen, wird die Kälte ihn bewahren. Deshalb können wir ihn nicht hereinbringen.« Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Tycho das alles verstehen würde. Aber er brauchte Antworten, also gab sie ihm knappe, aber ehrliche Worte. »Verstehst du das?«, fragte sie Eleanor Queen.
»Ihm kann nichts mehr passieren. Der echte Papa ist nicht mehr da.« Sie stieß ihren Bruder mit dem Ellbogen an. »Das habe ich dir doch schon gesagt.«
»Später werden wir ihn …« Begraben können, ein Begräbnis abhalten? Ihre Hände suchten nach ihrem Sohn und ihrer Tochter, nach der Gewissheit, dass sie fassbar waren. Ihre Kinder waren keine Illusionen, und dies war kein Traum. Ihre Fingerspitzen berührten ihre Wärme, und sie hoffte, dass sie genug erklärt hatte. Es war ein unerträglicher Gedanke, dass sie ganz plötzlich alleinerziehend war und die volle Verantwortung für alles trug, was mit ihnen geschah, jetzt und für immer. In der Stadt wäre das schon schwer genug gewesen. Aber hier? Sie brauchte Überlebenstechniken, die praktischer waren als schiere Entschlossenheit oder Instinkte.
Die Musik bot schnelle Rhythmen und schaukelnde Melodien, tippa-tippa-tippa und gurrende Harmonien, als Orla die Treppe hinaufging. Sie hob ihr Handy hoch in die Luft, auf der Suche nach Empfang, und ging von Zimmer zu Zimmer. Die Beats von unten ließen ihre Schultern wippen; ihr Kopf nickte im Takt, ihre freie Hand schwebte mit den lauter werdenden Instrumenten in die Höhe. Tycho und Eleanor Queen klangen normal, als sie über die magischen geflügelten Tiere in ihrer neuen Welt sprachen. Funktionierte es? Da sie die Umgebung draußen vergessen hatten, wurde die Stimmung im Innern etwas fröhlicher.
Wieder im Erdgeschoss hielt sie das Telefon in Richtung der Fenster. Immer noch nichts. Sie schlüpfte in die Küche, um kurz im Kopf Inventur zu machen. Schachteln mit Müsli. Konserven: Suppe, Thunfisch, Obst. Eineinhalb Gläser Nudelsoße. Ein Laib Brot im Gefrierschrank und ein paar Tüten mit Gemüse. Trockene Lebensmittel: Reis, Capellini, Linsen. Ein paar Kartoffeln, Zwiebeln, Karotten, Äpfel. Für wie viele Mahlzeiten würde das alles reichen? Wenn der Strom und der Generator ausfielen, konnte sie auf dem Holzofen kochen. Unendlich viel Schnee zum Schmelzen für frisches Wasser, falls die Leitungen einfroren oder der Brunnen nicht mehr pumpte. Sie würden eine Woche lang gut essen, vielleicht sogar länger. Danach würden sie hungrig werden. Und was dann?
Es war Dezember. Wann würden Julie und Walker anfangen, sich Sorgen zu machen? Würden sie versuchen anzurufen, wenn sie aus dem Urlaub zurückkamen? Hatten andere Leute E-Mails geschrieben, SMS geschickt, angerufen, sich gewundert, warum sie keine Antwort erhielten? Vielleicht würden ihre eigenen Eltern es vermissen, sie alle über die Feiertage in Pittsburgh zu haben, und für einen Überraschungsbesuch in den Norden fahren. Das wäre das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten. Sie betete dafür, ohne sich bewusst zu sein, dass sie es tat: Kommt uns besuchen, kommt uns besuchen, bitte helft uns!
Verdammte Weihnachten. Shaw hatte die Geschenke im Keller versteckt, in etwas, das aussah wie unausgepackte Umzugskartons. Sie hatten geplant, die Kinder einen kleinen lebendigen Baum aussuchen zu lassen, den sie versuchen würden auszugraben und ins Haus zu bringen. Sie konnte sich nicht vorstellen, das bevorstehende Fest (oder irgendein anderes) ohne Shaw zu feiern. Aber vielleicht war es zumindest gutes Timing; würden ihre Freunde es seltsam finden, wenn sie nicht ihre übliche Weihnachtskarte von den Moreau-Bennetts bekämen? Wäre das schon genug, um sie zu beunruhigen? Wären sie so besorgt, dass sie handeln würden? Oder würden sie es mit einem Achselzucken abtun: Die Moreau-Bennetts sind von der Bildfläche verschwunden, ins Hinterland gezogen .
Irgendwann würde sie wieder versuchen müssen zu fliehen. Vielleicht würde sie allein gehen und die Kinder in der Sicherheit des Hauses zurücklassen. Könnte es das sein, was Es wollte? Ihre Gesellschaft? Hatte Orla das bisher alles falsch gesehen? War Es nur einsam? Aber was, wenn ihr dort draußen etwas zustoßen würde und sie nicht mehr zurückkommen könnte? Sie konnte die Kinder nicht allein und dem Verhungern überlassen.
Sie machte das Abendessen aus den Zutaten, die zuerst verderben würden: den Dingen aus dem Kühlschrank. Sie erhitzte das übrig gebliebene Hähnchen in einer Pfanne mit einem halben Glas Nudelsoße und servierte es auf einem mageren Bett aus Capellini. Es war eine kleine Mahlzeit, aber die Kinder beschwerten sich nicht. Die Notwendigkeit, das Essen zu rationieren, erinnerte Orla an ihre Anfänge in New York City, als sie kaum genug Geld zum Leben hatte, Kurse belegte, vorsprach und herauszufinden versuchte, wo sie hingehörte. Aber damals konnte sie ihre Eltern anrufen, wenn ein finanzieller oder emotionaler Notfall eintrat. Und sie konnte immer rausgehen und irgendwo eine billige Nudelsuppe essen.
Wir werden so tun, als wäre alles normal . Sie würden ihre Tage so sorglos wie möglich verbringen.
Orla würde sich genau überlegen müssen, was sie sagte und was nicht (was sie dachte und was nicht), und sich nicht über das Wetter aufregen. Wir können es überdauern . Es war ein optimistischer Plan, auch wenn es sich nicht anfühlte, als wäre … Sie drängte den Zweifel zurück. Es musste funktionieren. Ihre linke Faust ballte sich und zermalmte einen unsichtbaren Stein. Sie sah zu, wie ihre Kinder schweigend die letzten Bissen ihres Abendessens verspeisten.
Tycho wollte in ihrem Bett schlafen, also las sie ihm eine Geschichte vor, während er den Elch auf der noppigen Decke herumzappeln ließ. Sie und Eleanor Queen würden später zu ihm stoßen, und es würde fast wie zu Hause sein – wie in ihrem richtigen Zuhause, ohne all die Zimmer und Türen –, obwohl Orla bezweifelte, dass sie schlafen konnte. Wie sollte sie auch, wenn Shaw auf ihrem Gewissen, ihrer Brust lastete, einer Gruft voller Schuldgefühle; wenn die Angst vor dem, was der nächste Morgen bringen würde, sie umtrieb?
Eleanor Queen stand wartend im Türrahmen. Seit sie ins Haus zurückgekehrt waren, schien sie in einem ständigen Zustand der Wachsamkeit zu sein, immer auf etwas lauschend, ihre Aufmerksamkeit woanders. Orlas Herz setzte einen Schlag aus, dann beschleunigte es sich, als sie Tychos Geschichte mit einem glücklichen Ende beschloss; es war fast an der Zeit, sich hinzusetzen und mit Eleanor Queen zu sprechen, sie direkt zu fragen, ob sie mehr wusste, als sie bisher preisgegeben hatte.
Sie fürchtete sich davor, was ihre Tochter sagen mochte, aber sie musste sie fragen.
»Wir werden bald wieder aufstehen. Schlaf gut.« Sie küsste Tycho und schaltete die Lampe aus, ließ aber die Tür weit offen und das Licht im Flur an. Beide Hände umklammerten besorgt imaginäre Steine, während sie ihrer Tochter die Treppe hinunter folgte. Als sie dieses Gespräch mit Shaw führen musste, war da wenigstens der American Honey gewesen, der ihr bei den schwierigen Stellen geholfen hatte. Es war in vielerlei Hinsicht falsch, dass sie sich Alkohol wünschte, um das Gespräch mit einer Neunjährigen leichter zu machen. Aber es hatte schon zu viele erschütternde Gespräche in diesem Haus gegeben, und Orla fürchtete, dass das Schlimmste noch bevorstand.