27
Als Orla ins Wohnzimmer kam, stand Eleanor Queen in der offenen Tür von Shaws Atelier, eine Hand auf dem Türknauf. Orla huschte an ihr vorbei, nahm die rot beschmierte Leinwand von der Staffelei und stellte sie mit der Vorderseite zur Wand auf den Boden. In der Gewissheit, dass die anderen ausgestellten Gemälde nicht allzu verstörend waren, stellte sie sich hinter ihre Tochter, die Hände auf deren schmalen Schultern, und wartete, während Eleanor Queen sich im Raum umsah.
»Suchst du etwas? Ich bin sicher, Papa hätte nichts dagegen: Vielleicht willst du seine Gitarren ausprobieren? Wenn sie nicht eingestöpselt sind, sind sie sehr leise.« Sie versuchte, so beruhigend wie möglich zu sprechen; Eleanor Queen wusste zu viel, eine Last, die kein Kind tragen sollte. Vor ein paar Tagen hätte ihr ein leises Instrument vielleicht noch gefallen, aber nun schüttelte sie den Kopf. »Was dann?«
»Ich versuche, etwas herauszufinden.«
Hatte Shaw nicht etwas Ähnliches gesagt? In den Tagen, bevor ihn die Angst übermannte?
In diesem Moment beschloss Orla: Sie konnte ihre Tochter das nicht allein tun lassen. Es war an der Zeit, ganz offen und ehrlich zu sein und aufzuhören, so zu tun, als ob die Regeln, die einst ihre Realität bestimmt hatten, noch existierten. »Können wir es gemeinsam herausfinden? Können wir darüber reden?«
Eleanor Queen machte einen halben Schritt rückwärts aus dem Zimmer, dann zögerte sie. Schließlich blickte sie zu ihrer Mutter auf und nickte. Sie ließen sich auf dem Sofa nieder, einander zugewandt, die Füße unter den Beinen gekreuzt, Buchstützen von ungleicher Größe. Orlas Herz krampfte sich zusammen, und Schmerz machte sich in ihrem Brustkorb breit; so hatten sie und Shaw immer bei intimen Gesprächen und Entschuldigungen gesessen. Ihre Augen brannten, und sie wischte sich schnell darüber, damit keine Tränen fielen. Eleanor Queen beobachtete sie, ihre Stimmung war tiefernst und nachdenklich. Sie war schon immer ein nachdenkliches Kind gewesen, aber sie hatte sich in einer Weise verändert, die Orla noch immer nicht verstehen konnte. Vielleicht war ein Teil davon der Trauer über den Verlust ihres Vaters geschuldet, aber die Veränderungen waren schon vor seinem Tod eingetreten. Orla war sich nicht sicher, wie sie die Fragen stellen sollte, wie sie überhaupt Worte finden sollte, die einen Sinn ergaben. Aber sie musste es versuchen; die Furcht klebte an ihrer Tochter wie eine zweite Haut.
»Eleanor Queen … Bean …« Sie nahm die schlaffen Finger des Mädchens und rieb sie mit dem Daumen. »Ich weiß, es war alles so schwierig, und ich habe einige Fehler gemacht, mit deinem Papa und mit dir. Ich habe nicht verstanden, was ihr beide durchmacht … Bitte, du sollst wissen, dass ich versuche, es zu verstehen.«
»Ich glaube dir.«
»Ich dachte zuerst … Alles war so fremd für mich, und vielleicht verstand ich nicht, wie diese Art von Landschaft, dieses Klima … Ich dachte, es läge an mir, unvorbereitet …«
Eleanor Queen schüttelte den Kopf. »Es liegt nicht an dir. Es ist etwas hier.«
»Du hast recht. Das weiß ich jetzt.« Orla hielt den Atem an. Sie schlang ihre Finger um die ihrer Tochter, und Eleanor Queen reagierte, erwiderte den Griff. Sie hielten einander fest, als ob etwas sie auseinanderreißen könnte und sie bereit waren, sich zu wehren. Vielleicht hätte das Verhalten ihrer Tochter sie schon früher beunruhigen sollen; das Mädchen hatte nie die Ausrede einer Muse oder einer Arbeit gehabt, die zu erledigen war, wenn sie abgelenkt oder distanziert war. Aber auch Orla war in einem stillen Tauziehen mit ihren Gedanken beschäftigt gewesen, hatte sich auf das schlammige Unmögliche zubewegt, dann wieder auf die Vernunft zurückgegriffen und verzweifelt versucht zu verstehen, warum sich nichts richtig anfühlte.
Ein Schauer kroch über Orlas Schulterblätter. »Weißt du, was Es ist? Was Es will?«
Das Gesicht von Eleanor Queen wurde wieder leer und ausdruckslos. Sie drehte ihren Kopf und horchte. Sie seufzte mit der gleichen Frustration, die Orla an ihr kannte, wenn sie eine Matheaufgabe nicht lösen konnte.
»Es ist etwas … Ich weiß nicht, ich versuche es immer wieder … Es ist da, aber ich kann nicht … Es versucht zu kommunizieren, und ich fühle es – nur manchmal, am Anfang. Aber jetzt mehr und mehr; und ich weiß nicht, was es ist.«
Orla wollte die Eindrücke von Eleanor Queen nicht beeinflussen, aber vielleicht würde es ihr helfen, wenn sie etwas über die lokale Geschichte und die Überschneidung mit ihrem Land wüsste. »Spürst du … Hier waren früher Menschen. Frauen, hier ganz in der Nähe, vor langer Zeit. Und sie kamen, um sich von einer Krankheit zu erholen, für die es damals noch keine Heilung gab. Tuberkulose. Sie befiel die Lungen. Dein Papa hat … Wir dachten, es könnte mit dem zu tun haben, was jetzt passiert. Die ruhelosen Seelen, die hier gestorben sind. Spürst du etwas in dieser Richtung?«
Eleanor Queen nahm ihre Worte sehr ernst und konzentrierte sich noch stärker, kniff die Augen zusammen und schloss sie sogar. Aber dann schüttelte sie den Kopf. »Ich versuche, ihm Fragen zu stellen. Ich gebe mir solche Mühe!«
Orla rückte näher an sie heran, aber Eleanor Queen wollte nicht festgehalten werden.
»Mama, du verstehst es nicht!« Sie stand auf und zog wütend die Vorhänge zurück, machte alle Wohnzimmerfenster zu Glasquadraten, die in die unheilvolle Nacht hinausblickten, in das unheilvolle Land, das Orla so verzweifelt hatte verschwinden lassen wollen. »Es ist da draußen.«
»Was ist …«
»Ich weiß nicht, was es ist! Es ist nicht … Es ist nicht das Wetter. Es ist nicht Schnee, es ist nicht … Es ist mehr als das. Aber es zeigt uns, was wir wissen, oder was es weiß, oder … Aber es ist nicht geformt wie eine Person oder ein Ding.« Sie schrie fast vor Frustration. »Es versucht, uns zu verstehen, mich, damit wir …« Sie stellte sich ans Fenster, das dem Holzofen am nächsten war, und verweilte dort, den Blick auf etwas jenseits der Scheibe gerichtet.
»Ist es etwas Böses? Eleanor Queen, will es uns etwas antun?« Orla stellte sich wieder hinter ihre Tochter, versuchte aber diesmal nicht, sie mit körperlicher Zuneigung abzulenken. Sie versuchte zu erkennen, was ihre Tochter dort draußen in der gegensätzlichen Welt aus weißem Schnee und schwarzen Bäumen spürte.
»Ich glaube nicht, dass es … Es denkt nicht an böse oder gut. Es denkt an … Leben.«
Orla konnte das nachempfinden. Auch wenn sie bis vor Kurzem vielleicht noch nicht so konkret oder ganz praktisch darüber nachgedacht hatte, über das Gebot, die Notwendigkeit, am Leben zu bleiben, wenn diese Aufgabe sich zunehmend gefahrvoll anfühlte.
»Sind wir also nur im Weg? Von … etwas? Würde das alles trotzdem passieren, auch wenn wir nicht hier wären?« Aber Shaw war hergerufen worden . Sie dachte laut nach, immer noch auf der Suche nach einer greifbaren Sache, die einen Sinn ergab, wie eine Bergsteigerin, die nach einem Halt oder einer Stelle sucht, an der sie ihren Fuß absetzen kann, ohne dass sie wegbröckelt.
Der nicht religiöse Teil von ihr kämpfte immer noch mit dem Konzept einer bewussten höheren Macht, einer höheren Macht mit eindeutigen Absichten. Ein Gott, der wöchentliches Erscheinen oder tägliches Aussprechen seines Namens verlangte, kam ihr wie ein Betrüger vor. Sicherlich besaß etwas von unendlicher Macht ein Bewusstsein, das größer war als ein Augenblick im Leben eines sterblichen Wesens. Sie wollte auf keinen Fall, dass das, was geschah, etwas Persönliches war, etwas, das ihnen angetan wurde. Denn das könnte bedeuten, dass Es den Tod von Shaw wollte – und auch wollte, dass Orla ihn tötete –, und sie würde sich nie damit abfinden können, eine Spielfigur in dem Brettspiel eines allwissenden Monsters zu sein.
»Wir sind … Wir sind Teil des Geschehens«, sagte Eleanor Queen. »Es wollte uns hier haben; ich spüre, dass etwas uns will . Aber ich verstehe nicht …«
Das war nicht das, was Orla hören wollte.
»Will es …« Sie drehte Eleanor Queen vom Fenster weg, widerstand aber dem Impuls, den Vorhang wieder zuzuziehen. »Es hatte eine Verbindung zu Papa, und zu dir …«
»Es mag, dass wir uns seiner bewusst waren, dass wir es spüren konnten. Aber … Ich spürte auch, wie es mit Papa unzufriedener wurde.« Eleanor Queen streckte ihre Hand nach dem Herd aus, aber nichts brannte darin. Sie fuhr mit einem Finger über die gusseiserne Oberfläche. Orla sah es in ihrem Gesicht, die Suche ihrer Tochter nach den richtigen Worten, ihr Verlangen, eine Erklärung zu finden. »Ich glaube, Mama … Ich spüre ein Gefühl des Wollens … des Hoffens, dass ich es verstehen werde. Besser als Papa es tat. Und ich versuche es, ich versuche es so sehr. Aber dann habe ich das, was es über Papa sagte, falsch verstanden …« Sie brach in Tränen aus und umklammerte ihre Mutter um die Taille.
»Nein, nein, Liebes, weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Du bist unschuldig an der Sache. Nichts davon ist deine Schuld.«
»Aber ich fühle, wie sehr es versucht und will, und wenn ich es richtig verstanden hätte …«
»Nein.« Sie drückte den Kopf ihrer Tochter an ihre Brust und küsste ihr Haar. »Es war meine Schuld, weil ich die Waffe herausgeholt habe. Und Papas Schuld, weil er das Gewehr hatte. Und niemand ist schuld, weil keiner von uns wusste … Wir wussten nicht, dass das passieren würde.«
Dennoch.
Es wäre niemals Eleanor Queens Schuld, aber vielleicht war sie der Schlüssel zum Verstehen. So gern Orla sie auch vor dem Schlamassel, in dem sie steckten, beschützen wollte, vielleicht brauchte sie Eleanor Queens Einsicht, um sie alle da herauszuholen. »Ich werde dir helfen, okay?« Sie löste sich aus der engen Umarmung und trocknete die Tränen ihrer Tochter.
»Wie?«
»Wenn du etwas spürst, hab keine Angst – sag es mir. Sag es mir und versuche es zu beschreiben, damit ich dir helfen kann, es zu verstehen. Es ist wie eine Sprache, aber ihr sprecht sie nicht auf dieselbe Weise. Aber genau das müssen wir lernen. Du bist nicht allein. Ich bin hier, und ich glaube dir. Und wir werden eine Lösung finden. Es will nicht, dass wir gehen, richtig?« Eleanor Queen nickte. »Also werden wir es gemeinsam herausfinden. Okay?«
Zum ersten Mal an diesem Tag blühte die Hoffnung im Gesicht des Mädchens auf. Sie schlang ihre Arme wieder um Orla.
»Ich liebe dich, Mama.«
»Ich liebe dich mehr als alles andere. Und es wird jetzt alles gut werden.«
Später, als ihre schlafenden Kinder neben ihr lagen, warme Bündel und kehlige Atemzüge mit offenem Mund, flüsterte Orla laut zu dem einzigen Geist, den sie benennen konnte.
»Shaw?« Es war egal, wie andere Menschen ihren Gott nannten. Jesus oder Buddha oder Allah. Gaia oder Maria oder Isis. Es gab nur einen Geist da draußen im Universum, der für sie wirklich von Bedeutung war. »Wirst du auf uns achtgeben? Wenn du kannst?«
Es war ein Trost, sich vorzustellen, dass er hier war, überall, und sie beobachtete. Und einen Moment lang verstand sie den Glauben auf eine Weise, wie sie es nie getan hatte. Die Hoffnung lebte auf einer unsichtbaren Ebene, die von der Person, die sie brauchte, ausging. Vielleicht war es am Ende gar nicht so seltsam, ihr einen Namen zu geben.
Die Müdigkeit zog sie hinab in eine Dunkelheit, die voller blinkender Sterne war.