28
Orla lag im Bett, halb schlafend. Der halb wache Teil von ihr war auf eine friedliche Schwingung eingestimmt, die sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Das Haus war ruhig. Als würde sie träumen. Ein paar Vögel trillerten und Krähen krächzten vor dem Fenster. Sie spannte die Füße an und streckte sie dann langsam vor. Sie atmete durch die Nase ein und ließ ihren Atem in ihren Körper strömen. Sie konzentrierte sich auf den Atem, verfolgte seine Reise durch ihre Gliedmaßen. Sie ließ ihren Geist leer werden. Als sie ausatmete, verschmolzen ihre Muskeln mit den Laken. Die Sonne spielte an den Rändern ihrer geschlossenen Augen, an den Rändern der geschlossenen Jalousien. Der Drang zu tanzen ließ sie ganz still liegen, während ihr Geist arbeitete. Tanzen war eine Meditation gewesen, eine vollständige Transformation von Körper und Geist in eine andere Art des Seins. In ihrem Kopf spielte eine Symphonie, und sie sah sich selbst in Bewegung, die Geschichte ihres erwachsenen Lebens erzählend.
Am Anfang war es beschwingt, die Aufregung eines Neuankömmlings. Kleine Sprünge, ein jugendliches Tier, das einen unbekannten Ort erkundet. Übertriebene Kopfbewegungen, als sie nach außen blickte, weiter, auf der Suche nach einem vertrauten Horizont, und nur eine seltsame und wilde Landschaft fand. Und dann wurde die Musik immer chaotischer. Andere Tänzer betraten die Bühne. Sie streckte die Hand nach ihnen aus, aber sie drehten sich weg, als wären sie an Seilen befestigt, die eingeholt wurden und sie von den Füßen rissen. Orla sollte ihre Hände nehmen, eine geordnete Kette bilden, und nach langem Hin und Her konnten sie endlich in einer Reihe tanzen, im Einklang. Doch schon bald begannen sie sich zu trennen, drifteten in die Dunkelheit an den Seiten der Bühne und ein neues Wesen stand im Scheinwerferlicht.
Es folgten sanftere Momente, ein Pas de deux zweier Verliebter, die sich aneinanderkuscheln. Ein Paar Rehkitze auf wackeligen Beinen wagte sich herein, hüpfte überall herum und erkundete alles. Das Spiel der Familie wurde von einem Blitz aus rasender Musik unterbrochen – die Tänzer sprangen in die Höhe und fielen zu Boden, erhoben sich und flehten und rannten. Sie streckten sich und fielen in sich zusammen und streckten ein Bein vor, dann das andere. Und schließlich wurde die Musik elegisch, als die übrigen Tänzer einer nach dem anderen von den sich ausbreitenden Schatten aufgesogen wurden und Orla allein in einem grellen Lichtkreis zurückließen. Sie schlug sich mit choreografierter Anmut gegen die Brust.
Orla bewegte sich im Bett, eine ruckartige Reaktion, als ihr Körper versuchte, den Traum zu korrigieren, die Tänzer herbeizurufen, die in der Dunkelheit verschwunden waren. Plötzlich war sie wieder bei Bewusstsein, zuckte zusammen. Ihre Muskeln schmerzten; alles war wieder da. Der Albtraum ihrer Existenz. Zu lange hatte sie am Vortag im Schnee gekauert, auf den Knien mit Shaws Kopf auf ihrem Schoß. Sie öffnete die Augen.
Im wirklichen Leben hätte das Empire City Contemporary Ballet ihr niemals die Hauptrolle als Überlebende gegeben. Aber das war sie nun, und es war schlimmer als damals, als ihr kleiner Bruder gestorben war; damals war sie auf andere Weise verwirrt gewesen, aber wenigstens ihre Eltern waren da. Jetzt stand sie völlig ohne Partner da, hatte die Aufgabe, ihre Kinder zu retten, und kannte keinen Schritt, der ihren Tanz zu einem triumphalen Ende führen konnte.
Die Kinder lagen nicht neben ihr im Bett. Wo waren sie? Sie stieß die Decke zurück und richtete ihren schmerzenden Körper auf. Sie stöhnte, als sie ihre Beine über den Rand der Matratze schwang. Wenn Shaw da wäre, könnte sie ihn bitten, ihr den unteren Rücken zu massieren. Wenn Shaw da wäre, würde sie ein heißes Bad in der Klauenfußwanne nehmen und ihn das Frühstück für die Kinder machen lassen. Wenn Shaw da wäre …
Aber er war nicht da. Das Haus fühlte sich leer an. Wo waren die Kinder? Sie stürzte aus dem Bett, immer noch in der Kleidung von gestern, und schlüpfte in ihre Hausschuhe.
»Bean? Tigger?« Sie waren nicht in ihren Zimmern. Einen Moment später wusste sie, dass sie auch nicht im Wohnzimmer waren. Ihr Körper fühlte sich verkatert und missbraucht an. Sie waren nicht in der Küche. Sie steckte ihren Kopf in Shaws Atelier und hoffte, Eleanor Queen mit einer Gitarre auf den Knien und Tycho auf dem Boden mit Papier und Buntstiften zu sehen. »Eleanor Queen?«
Ein Streichholz entzündete sich flackernd in ihrem Bauch und entflammte ihr Inneres. Sie hatte gehofft, sie würden in ihrer neuen Fantasiewelt spielen. Aber sie waren nicht dort. Oder hier.
»Tycho? Eleanor Queen?«, rief sie so laut, dass ihre Stimme im ganzen Haus zu hören war. Als die beiden nicht antworteten, hatte sie noch eine Idee: Sie sprintete in die Küche und riss die Kellertür auf. Vielleicht ahnten sie schon, wo ihre Weihnachtsgeschenke versteckt waren. »Seid ihr da unten?«
Die Stille verhöhnte sie. Wenn sie die Treppe hinunterstürzte, würde sie in Seinem Maul landen und Es würde sie verschlingen.
Es hatte die Kinder geholt. Es hatte ihre Kinder in der Nacht geholt, und nun war sie allein und würde für immer allein sein. War das eine Strafe? Was hatte sie getan?
Ihr Blick fiel auf die Schuhablage neben der Eingangstür. Ein Paar alte Schuhe und ein Paar Stiefel. Ihr eigenes. Das bedeutete …
»Scheiße!« Sie zog ihre Pantoffeln aus und steckte die Füße in ihre Stiefel. Shaw war mit seinen Stiefeln an den Füßen gestorben. Aber die der Kinder hätten da sein müssen. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum Eleanor Queen zugelassen hatte, dass ihr Bruder nach draußen ging – nicht nachdem sie besprochen hatten, sich zu verstecken und drinnenzubleiben, um zu sehen, ob Es ihrer überdrüssig wurde oder seine Absichten deutlicher machte.
Orla zog ihren Mantel an und eilte nach draußen, seelisch schlecht gerüstet für einen weiteren schrecklichen, von Panik geprägten Morgen. »Eleanor Queen! Tycho!«
Frischer Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie von der Veranda trat und zwei Paar kleinen Abdrücken folgte. Es musste kurzzeitig gefroren haben, denn der Neuschnee war mit einer dünnen Schicht glitzernden Eises überzogen. Es war wunderschön, wie die Sonne ihre Strahlen über die gesamte Fläche sandte und sie an die Regenbogenprismen erinnerte, die sie durch das Badezimmerfenster gesehen hatte. Sie bahnte sich ihren eigenen Weg und war seltsam befriedigt bei jedem Schritt ihres Stiefels, der durch die schimmernde Schale krachte. Wenn sie doch nur alles so einfach mit ihren Füßen zerquetschen könnte, so wie sie einst den zweiköpfigen Mutanten im Schnee zertreten hatte. Einen Weg zurück zum Apartment in Chelsea trampeln, die neuen Besitzer hinterrücks überfallen: »Überraschung!«, und sie dann rausschmeißen. Wie sehr sie sich danach sehnte, ihre Kinder in die Sicherheit ihres alten, beengten Zuhauses rennen zu sehen.
Ihre Stimmung verdüsterte sich weiter, als sie sich der Garage näherte; es war nur allzu offensichtlich, wohin die kleinen Fußspuren führten. Sie fürchtete sich vor dem, was sie sehen würde, wenn sie die hintere Seite erreichte: ihre kluge Tochter und ihren zerbrechlichen Jungen, deren Münder blutverschmiert waren, weil sie die Überreste ihres Vaters verschlangen.
Als sie zu ihnen kam, sahen sie nur erschrocken und schuldbewusst aus. Sie knieten neben Shaw im Schnee, Pyjamas unter den Jacken, eine Ecke der Plane zurückgezogen. Orla kämpfte einen schrecklichen Lachanfall nieder. Er sah aus wie eine Flagge: rot, weiß und blau. Weiße Haut, blau verfärbt. Selbst aus der Ferne sah sein Fleisch hart und kalt aus, fest wie Eis. Grässlich. Und das rote Blut war gefroren wie Zuckerguss auf einem verpfuschten, blutigen Kuchen.
Eleanor Queen hatte den verletzten Blick eines Kindes, das eine Strafe erwartet. Aber Orla konnte sie unmöglich anschreien. Stattdessen war ihre eigene Schuld ein brennender Schmerz, der durch die Kälte noch verschlimmert wurde. Ihre Kinder starrten auf das hinab, was sie getan hatte; und was, wenn sie sie für unverzeihlich hielten?
»Was macht ihr hier?« Orla ging um sie herum und kniete sich hin, um die Plane erneut zu sichern.
»Er wollte es wissen. Er fragte immer wieder: Wo ist Papa? «
»Du hättest ihm das nicht zeigen dürfen.« Sie deckte Shaw zu und versuchte, ihr Gesicht hinter ihrer eigenen Schulter zu verstecken, damit die Kinder es nicht sehen konnten. Sie spürte, wie deren Augen sie beobachteten. Mörderin. Ein Monster. »Es war ein schrecklicher Unfall.«
»Das habe ich ihm gesagt, Mama.«
Tycho stemmte sich aus dem Schnee hoch und stellte sich auf die Füße. Er streckte seine Arme aus, damit Orla ihn tragen konnte. »Wir haben ein kleines Gebet gesprochen, damit Papa weiß, dass wir ihn lieb haben, und er vielleicht manchmal noch mit uns spielen wird.«
Orla richtete sich auf und hob ihn auf ihre Hüfte. Sosehr sie auch nicht wollte, dass ihre Kinder sie für das, was sie ihrem Vater angetan hatte, verurteilten, so schnürte Tychos schlichte Akzeptanz ihr doch die Kehle zu. Eines Tages würde sie vor einer weniger liebevollen Autorität eine formellere Erklärung abgeben müssen. Der Gedanke, ihre Kinder auf jeden Fall zu verlieren, brachte sie dazu, Tycho fest zu umarmen. »Ich bin froh. Ich bin froh, dass du dich verabschiedet hast. Aber ich will nicht, dass du ihn so in Erinnerung behältst. Erinnere dich an ihn voller Leben, okay? Kommt jetzt.«
Eine Träne rann Eleanor Queen über die Wange, als sie aufstand und die ausgestreckte Hand ihrer Mutter ergriff. »Du bist nicht böse?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht. Ich dachte, wir hätten beschlossen, ein paar Tage im Haus zu bleiben.«
»Es war so schön draußen«, sagte Eleanor Queen.
Sie gingen zurück zum Haus. Orla warf verstohlene Blicke auf den blauen Himmel, den glitzernden, unberührten Schnee, das Krähenpaar, das sich wie gesprächige alte Freunde auf einem überhängenden Ast niederließ. Sie traute alldem nicht. Und … waren die Bäume noch näher als zuvor? Streckten sie ihre Äste wie knorrige Koboldarme aus und griffen nach den stabilen Mauern ihres Hauses? Sie brachte die Kinder ins Haus und warf einen letzten, finsteren Blick auf die Schönheit da draußen, bevor sie sich nach drinnen verzog.
»Du wirst uns nicht bekommen.«