30

Sie gab den Kindern einen kleinen Schuss Milch in den Haferbrei – die letzte Milch. Es war wieder ein schöner Tag, und sie hatte ihnen bereits versprochen, dass sie nach dem Frühstück nach draußen gehen würden. Eleanor Queen sah ihr nicht in die Augen, sondern blickte stur in ihre Schüssel mit dem warmen Müsli, und Orla fragte sich, ob sie sich Sorgen wegen der Mission machte, die sie am Abend zuvor vereinbart hatten. Sie hatte ihre Tochter nie gefragt, wie es sich anfühlte, sich dieser Sache bewusst zu sein, die sie verfolgte und ihr Leben bedrohte. Es musste beängstigend sein; vielleicht verdrängte Eleanor Queen es bis in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins. Vielleicht würde ihre Sensibilität sie zu Fall bringen, sie an den Rand des Wahnsinns treiben (wie Shaw), wenn es ihr nicht gelang, Es zu verstehen.

Tycho trällerte ein Lied, während er aß. »Papa, Papa, schläft dort im Schnee. Papa, Papa, ich kann nirgendshin gehn.«

Ihre Kinder waren dabei, verrückt zu werden. Dieser Ort würde sie immer weiter aus dem Gleichgewicht bringen. Irgendwann würde Orla abwägen müssen zwischen der Notwendigkeit, sie körperlich zu schützen, und der Wahrscheinlichkeit, dass sie zu verrückten Fragmenten ihres früheren Ichs wurden. Verwirrter Geist. Verirrter Gletscher. Sie erwog, mit ihm, mit ihnen beiden über Otto zu sprechen und darüber, wie ihre Familie diesen verheerenden Verlust überlebt hatte. Aber was sollte sie sagen, was hatte sie damals gelernt? Man wacht auf und macht weiter. Das taten sie bereits.

»Geht es dir gut?«, fragte sie ihn. »Ich habe dich gestern Abend husten gehört.«

Statt zu antworten, summte er, während er weiterkaute. Orla legte ihren Handrücken auf seine Stirn; sie würde ihren Plan überdenken müssen, wenn er sich etwas eingefangen hatte. »Du siehst nicht aus, als hättest du Fieber.«

»Nö!«

»Hast du dich gestern Abend nur an etwas Wasser verschluckt?«

»Nö. Ich hab nicht gehustet, Mama.«

Vielleicht erinnerte er sich nicht daran. Oder vielleicht … Sie schüttelte den Kopf; wenn es doch so einfach wäre, unwahrscheinliche Dinge verschwinden zu lassen. Hörte sie jetzt auch Dinge? Das hatte sie davon, dass sie von dem Mädchen aus dem Buch besessen war.

Sie ließ das Geschirr in der Spüle einweichen, während Eleanor Queen Tycho zu einem Wettrennen herausforderte, wer als Erster seine gesamte Schneeausrüstung anziehen konnte. Orla ließ die beiden vor ihr aus dem Haus stürmen, während sie ihren Mantel zuzog und ihren Schal zurechtrückte.

Tycho stapfte wie Godzilla durch den Schnee, zerstörte erst ein Gebäude, dann ein weiteres und noch ein weiteres, und zur Sicherheit noch eine Brücke. Orla, die Hände in den Taschen, stand Wache, den Blick auf Eleanor Queen gerichtet, die sich umsah und hinhorchte, aber offenbar nichts fand, worauf sie sich konzentrieren konnte.

Sie sprang weiter in den Hof und formte einen Schneeball. Sie warf ihn nach Godzilla.

»Du machst den ganzen Schnee kaputt!«, tadelte Eleanor Queen ihn.

Godzilla brüllte und trampelte herum.

»Ich glaube, es gibt genug Schnee für alle.« Orla trat gegen die oberste Schicht, während sie sich ein paar Meter von den Kindern wegbewegte. Sie fühlte sich wie eine Gefängniswärterin, die darauf achtete, dass die eingesperrten Insassen nicht plötzlich in die Freiheit rannten. Sie wünschte, sie könnte sie irgendwo hinbringen, mal kurz ins Auto steigen – auch wenn sie nur einen Lernführerschein hatte – und sie alle wegfahren. Wie hatte sie jemals Energie darauf verschwenden können, Angst vor dem Autofahren zu haben? Wie einfach das im Vergleich zu dem hier klang. Sie wollte ihre Eltern umarmen und weinen. Ein Kind sein, statt die einzige Erwachsene, die mit ihren Kindern in einem Albtraum gefangen war.

Eleanor Queen schlenderte in Richtung des ungestörten Schnees an der Rückseite des Hauses.

»Nicht zu weit, Liebes.« Ihre Tochter hörte sie entweder nicht oder es war ihr egal, was sie sagte. Orla trat näher an die Garage heran, wo sie beide im Auge behalten konnte. Sie blickte nach oben, wusste aber nicht, worauf sie sich konzentrieren sollte. Auf den physischen Himmel? Den religiös gedachten Himmel dahinter? Die Wälder? »Falls du zuhörst … Wir gehen nirgendwohin. Wir sind nur draußen und schnappen etwas frische Luft.«

»Mit wem sprichst du, Mama?«, fragte Tycho.

»Ich bin mir nicht sicher. Manchmal ist das, was hier passiert, verwirrend für uns. Und vielleicht sind wir verwirrend für … was auch immer hier ist.«

»Kann ich es versuchen?«

Orla wollte Nein sagen, fürchtete sich vor dem, was Tycho herausschreien könnte. Er pflügte durch den Schnee und stellte sich lächelnd und mit schwingenden Armen neben sie. »Ja, aber sei ganz freundlich.«

»Hallo, Welt!«, rief Tycho in den Himmel. »Hallo, Schnee!«

»Danke, dass du uns wieder einen schönen Tag gegeben hast.« Obwohl sie nicht so laut wie Tycho schrie, ließ sie ihre Stimme doch lauter klingen. »Wir werden nirgendwohin gehen. Siehst du? Wir vertreten uns nur die Beine und genießen den Tag. Wir wissen nicht immer, was du willst … Wir verstehen es nicht. Ich versuche nur, meine Kinder zu beschützen.«

»Wir haben keine Milch mehr«, brüllte Tycho. »Kannst du uns etwas Milch regnen lassen?«

»Das ist eine tolle Idee, aber ich weiß nicht, ob Es so etwas …«

»Mama?« Eleanor Queen stand mit dem Rücken zu ihnen.

Orla hatte nicht vorgehabt, die Augen von ihr zu lassen. »Eleanor Queen?«

Ihre Tochter zeigte auf etwas. Orla stapfte hinüber, und Tycho hüpfte in ihren Fußspuren hinterher.

»Was ist denn?« Aber es war leicht, die genaue Bahn der ausgestreckten Hand ihrer Tochter zu verfolgen. Der hoch aufragende Baum. Die uralte Kiefer.

»Er hört zu, Mama.« In ihre Angst mischte sich Ehrfurcht. »Er hört dir zu.«

»Der … Der Baum. Es ist der Baum?« Sie vibrierte vor Aufregung; ein Puzzleteil verschob sich, fand seinen Platz im Gesamtbild.

Eleanor Queen hatte einen glasigen Blick, teils konzentriert, teils … abwesend. »Es ist hier.«

»Bist du sicher?« Aber selbst für Orla ergab das einen Sinn. Nach ihrem ersten Besuch auf dem Grundstück waren es nicht die umliegenden Hügel oder das Haus, die in Shaws Bildern auftauchten, sondern der Baum.

»Ich glaube, schon. Ja. Ganz in der Nähe.« Sie rannte los, durch den tiefen Schnee in Richtung des Waldes und der riesigen Kiefer.

»Eleanor Queen, warte!« Orla ergriff Tychos Hand und rannte ihr hinterher. »Du kannst nicht einfach in den Wald rennen; du könntest dich verlaufen!«

Die Bäume standen so dicht. Orla konnte nicht vergessen, wie Shaw erwartet hatte, der Spur seiner eigenen Stiefelabdrücke folgen zu können, aber die waren an jenem Tag einfach verschwunden. Genauso wie der hoch aufragende Baum. Eleanor Queen wurde nicht langsamer. Der helle Himmel verblasste unter dem Baldachin aus dichten, kahlen Ästen und immergrünen Nadelbäumen. Die Temperatur sank. Der Vogelgesang verstummte.

Vielleicht war es aber auch nur ihre Einbildung. Keines der Kinder schien Angst zu haben.

Tycho sang kleine Reime, während Orla ihn halb mit sich zerrte, um das Rot der Schneehose von Eleanor Queen nicht aus den Augen zu verlieren.

Ihr Blick war so sehr auf ihre Tochter fixiert, die zehn Schritte vor ihr ging, dass Orla zunächst nicht bemerkte, wie sie die große Kiefer erreichte. Es waren die Versunkenheit von Eleanor Queen, ihre Stille und ihr ungläubiges Staunen, die Orla dazu brachten, stehen zu bleiben und wirklich hinzusehen.

Er sah nicht mehr genauso aus wie beim ersten Mal, als sie ihn gesehen hatten. Die graue Rinde war noch zerklüfteter … wie der Gletscher. Obwohl der Gletscher vielleicht lebendiger ausgesehen hatte, weil er aus Eis und lebendigem Wasser bestand und seine Risse wie Schlote oder wie Kiemen atmeten. Dem Baum jedoch ging es nicht so gut. Als Orla sich umblickte, sah sie abgeworfenen Ballast von den oberen Ästen, Zweige und holzige Rindenstücke, die über einen weiten Bereich auf dem Schnee verstreut waren. Sie versuchte, das Wort Sterben aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen. Doch ein Teil von ihr war sich sicher: Er wusste es. Er war sich seines bevorstehenden Todes bewusst.

Könnte dies die Ursache für all ihre Probleme sein?

Tycho löste sich von ihr und klatschte mit der behandschuhten Hand gegen die Rinde.

»Schöner Baum!«

»Fass ihn nicht an!«, zischte Orla und zog ihn zurück.

»Warum?«

»Eleanor Queen, ist es sicher, ihn zu berühren? Ist das … ist das Es?«

Das Mädchen starrte nur nach oben.

»Ich liebe diesen größten Baum!«, krähte Tycho. »Er ist eine Million Jahre alt, nicht wahr, Ele-Queen?«

»Er stirbt«, sagte das Mädchen leise und voller Bedauern.

»Ich glaube, du hast recht«, flüsterte Orla ihrer Tochter zu, in der Hoffnung, ihren Sohn nicht zu vergrämen. Nicht dass er den Baum so sehr geliebt hätte wie seinen Vater, aber trotzdem.

Mit Tychos Hand in ihrer führte Orla ihn sanft weiter, sodass sie in der Nähe seiner Schwester bleiben konnten, während sie um den Baum herumging, nach oben blickte und lauschte. Eine sanfte Brise regte sich und wirbelnde Muster tanzten auf der Schneeoberfläche. Orla dachte an Choreografien, an Vogelspuren, an Geisterschriften – an hundert unsichtbare Hände, die versuchten, ihre Wünsche zu formulieren. Je mehr sie die Piktogramme beobachtete, feine Linien, die sich über eine dünne Schneeschicht zogen, desto mehr fragte sie sich …

»Bean?« Die tiefe, fragende Tonlage ihrer Stimme brachte ihre Tochter dazu, sich wieder umzusehen. »Meinst du, das hat etwas zu bedeuten? Könnte es sein …«

Geister? Als Eleanor Queen sich hinkniete, um die entstehenden Muster zu studieren, wurde Orla still. Schließlich schüttelte das Mädchen den Kopf. »Ich weiß nicht … es fühlt sich nach nichts an. Anders als …«

Sie stand auf und streckte die Hand aus, um den Baum zu berühren, und Orla packte instinktiv ihre Jacke und zog sie zurück. »Ich glaube nicht, dass du …«

»Ich muss es tun. Es ist hier – irgendwo hier drin.«

Orla wollte sie nicht so nahe heranlassen. Aber dafür waren sie ja hergekommen: für Antworten. Und je eher sie wussten, womit sie es zu tun hatten, desto eher konnten sie wieder gehen. Wie eine Blinde, die eine Nachricht in Blindenschrift liest, ließ Eleanor Queen ihre Hand über den Stamm des Baumes wandern. Neugierig, wie er sich anfühlte, machte Orla es ihr nach. Aber alles, was sie fühlte, war zerklüftete Rinde. Spröde. Uralt.

Zu ihren Füßen benutzte Tycho, der sich bereits langweilte, einen Stock, um mit den geheimnisvollen Mustern um die Wette zu kritzeln. Vielleicht war es nur der Wind, der kleine Schnee- und Spreuhäufchen umherwehte und dabei Spuren hinterließ.

»Oh.« Eleanor Queen nahm erschrocken die Hand von der Rinde.

»Was ist passiert? Hat er …«

Ihre Tochter drehte sich zu ihr um und sah sie mit großen Augen an. »Es – das Ding – ist nicht der Baum. Es ist das Ding in ihm

»Was soll das heißen?« Die Furcht ließ sie zusammenzucken. Orla hasste es, dass sie an irgendetwas von dem glaubte, was hier geschah. Und dass sie ihrer Tochter erlaubt, nein, sie ermutigt hatte, daran teilzuhaben. Der Drang zur Flucht überkam sie erneut. Wenn sie sie direkt durch die Bäume führte, würden sie vielleicht die Straße erreichen. Sie könnten das Haus und die Einfahrt umgehen und querfeldein zum nächsten Ausweg von ihrem Grundstück eilen. Aber stattdessen fragte sie: »Was ist das Ding dadrin?«

»Ich glaube, es lebt hier, bei dem Baum. Es ist nicht der Baum, es ist etwas anderes

»Das Ding lebt im Baum?« Wie die menschlichen Gestalten in Shaws Gemälden, eingebettet in seine Bäume. Was hatte er gespürt, gewusst, gesehen? Hatte er die Bilder, die zu ihm kamen, fälschlich zum Sujet seiner Kunstwerke gemacht, wenn er eigentlich etwas anderes darin hätte erkennen sollen?

Ihr Ich des 21. Jahrhunderts bekämpfte den Drang, nach ihrem nutzlosen Telefon zu greifen. Sie wollte Baumgeister googeln. Wesenheiten, die in alten Bäumen leben. Bösartige Walddämonen. Irgendetwas. Alles, was ihnen eine Antwort liefern könnte. Sie war bereit, jede übernatürliche Möglichkeit zu akzeptieren, wenn sie ihr helfen würde, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Ihnen helfen würde zu entkommen.

»Was will Es von uns? Wird es dir das sagen?« Sie wandte sich von ihrer Tochter ab und blickte nach oben. Die Äste, die sich über ihr auftürmten, sahen so skelettiert aus, so dem Untergang geweiht. Ihr kleines Frühstück rumorte heftig in ihrem Magen, wurde sauer von ihrer Nervosität. Sie war so verunsichert, dass sie versucht war zu lachen, ein »Huhu« auf das dicke Holz zu klopfen: Jemand zu Hause? Sie war sich bewusst, dass ihre Kinder sie beobachteten. Wie war das hier ihr Leben geworden? »Warum willst du nicht, dass wir gehen?«, fragte sie.

Wenn sie verstand, was Es wollte, konnte sie eine Lösung finden. Oder vielleicht einen Handel abschließen? Mit Ihm verhandeln?

Vielleicht waren sie nahe dran.

Ein dunkler Gedanke vergiftete ihren momentanen Optimismus: Hätte Shaw akzeptiert, was Es wollte, wäre er offen geblieben für das, was Es von ihm verlangte, wäre dies alles wahrscheinlich nicht passiert. Er hatte fälschlicherweise geglaubt, dass sein Selbstmord seine Familie retten würde, ohne zu verstehen, dass der einzige Weg, seine Familie zu retten, darin bestand, sich dem Ding hinzugeben. Und vielleicht hatte das Ding ihn nach seinem Zusammenbruch für unwürdig befunden und seine ganze Aufmerksamkeit auf Eleanor Queen gerichtet. Shaw hatte sich gewehrt und verweigert. Und das war es, was ihn umbrachte; seine Verweigerung dafür verantwortlich zu machen war besser, als sich selbst die Schuld zu geben. Orla hasste ihn einen Moment lang. Alles war seine Schuld: der Umzug, die Schlinge, aus der sie nicht entkommen konnten. Was für ein Vater ließ sein kleines Mädchen die Kämpfe austragen, die er nicht bewältigen konnte?

Die Heftigkeit ihrer Gedanken erschreckte sie. Natürlich hasste sie ihn nicht, und er hatte nicht wissen können, wie ihr Leben aus den Fugen geraten würde. Es waren Kummer und Hysterie, die aus ihr sprachen. Hunger. Aber sie konnte sich nicht die Zeit nehmen, solche Ressentiments weiter zu untersuchen, nicht wenn sie glaubte, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Sie mussten verstehen, was dieser Baum ihnen zu sagen versuchte. Und sie hatte Eleanor Queen ihre Hilfe versprochen.

»Du machst das wirklich gut, Bean. Es ist doch nicht zu beängstigend, oder?«

»Ein bisschen.« Sie streckte ihre Hand erneut in Richtung Baumstamm aus. »Ich kann es besser hören. Es wird langsam klarer …«

Der Teil von Orla, der zu viele Horrorfilme gesehen hatte, erwartete, dass ihre Tochter die Augen aufreißen und starr werden würde, wenn eine teuflische Kraft ihre Energie in sie einströmen ließ; der Teil von ihr, der nicht schnell genug von diesem Ort wegkommen konnte, hoffte, dass sich ein Kanal für eine klare und verständliche Kommunikation öffnen würde: Folgt den Schritten A und B und ich werde euch freilassen .

Doch als Eleanor Queen ihre Hand wieder an den Baum legte, sah sie nur noch verwirrter aus.

»Was ist?«, fragte Orla.

»Immer im Kreis herum. Muster, Spiralen. Ich weiß nicht, was es bedeutet.«

Orla betrachtete erneut die Muster im Schnee, die nun durch Tychos Kritzeleien halb verwischt waren. War es das, was Eleanor Queen in ihrem Kopf sah? Eine federleichte Schrift? War es das, was der Baum – das Ding, das dort in dem Baum lebte – auf jede erdenkliche Weise zu erklären versuchte, in der Hoffnung, dass sie die Botschaft entziffern könnten? »Sind sie wie diese Zeichen? Ist es das, was du in deinem Kopf siehst?«

Wie als Antwort kam eine Windböe und wischte die Wirbel fort. Tycho schrie überrascht auf, als ihm sein Schreibstock aus der Hand geweht wurde.

»Nein. Hör auf, so abgelenkt zu sein.« Wie verärgert das Mädchen klang. Und für einen kurzen Moment fragte sich Orla, ob sie den Bemühungen ihrer Tochter nur im Weg stand. Doch dann sackten die kleinen Schultern von Eleanor Queen hinab, und eine Müdigkeit machte sich breit; die Konzentration machte ihr zu schaffen.

»Es tut mir leid, ich versuche nur, Anhaltspunkte zu finden. Zeichen. Wir können es ein anderes Mal aufs Neue versuchen.« Orla zog Eleanor Queen behutsam weg und wollte nicht enttäuscht sein. »Du hast Fortschritte gemacht, meinst du nicht?«

Sie drängte sich an ihre Mutter. Und nickte. Orla hielt sie fest. Die Haut ihrer Tochter sah so papierdünn aus, so blass, so wenig geeignet, sie vor etwas so Furchtbarem zu schützen.

»Alles in Ordnung? Hätten wir es besser nicht versuchen sollen?«, fragte Orla und wollte ein besserer Schutzschild sein, eine Beschützerin. Was für eine Mutter, die von der Mission ihrer Tochter wusste, gab ihr nicht den nötigen Schutz?

»Nein … wir müssen es versuchen.«

»Es tut mir leid.« Orla küsste ihren Scheitel. »Ich wünschte, ich könnte es so spüren wie du, dann müsstest du das gar nicht tun.«

»Ich weiß, Mama.«

Orla klammerte sich an Eleanor Queen, als sie sich auf den Rückweg durch den Wald machten. Ihre Stiefelabdrücke waren diesmal leicht zu verfolgen. Das Mädchen wurde zunehmend schlaffer an ihrer Seite und konnte kaum mehr die Füße heben. Tycho versuchte, wegzuspringen und mit anderen Bäumen zu sprechen, aber Orla hielt ihn mit einer Hand an der Jacke fest, damit er nicht mehr als einen oder zwei Schritte von ihr weg machen konnte.

»Du kannst im Hof herumlaufen, wenn wir zurückkommen, okay? Aber nicht hier.« Sie wandte sich an ihre Tochter. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, ich denke nur nach.«

»Du versuchst immer noch, Es zu hören, nicht wahr?«

»Es ist wichtig.«

»Ich möchte nicht, dass du dich überanstrengst oder dass du dich verrückt machst wegen …«

»Es ist nicht nur für uns wichtig. Es ist wichtig für es

Orla hatte geglaubt, dass sie mit dem sterbenden Mädchen und dessen Pentagramm auf etwas gestoßen war. Aber ein Ding, das in einem Baum lebte? Und Eleanor Queen nannte es immer noch es; sie spürte eindeutig nichts, was auch nur im Geringsten mädchenhaft war. »Ein Grund mehr, sich nicht verrückt zu machen. Eleanor Queen, wir wissen nicht, womit wir es zu tun haben …«

»Aber je eher ich es verstehe – ich will nach Hause!«

»Gehen wir nach Hause?«, fragte Tycho voller Elan.

»Wir gehen zurück zu unserem Haus, nicht zum Apartment. Vergiss nicht, dass wir nicht dorthin zurückgehen können. Aber während ihr draußen spielt, werde ich sehen, was ich wegen der Garage tun kann. Wir können sie nicht so lassen, das ist zu gefährlich.« Sie versuchte, ihre Gedanken wie ein Kartenspiel zu halten, legte die Karten mit den Bildern nach unten ab, sodass nur das unverfängliche Muster auf der Rückseite zu sehen war. Sie verbarg das Bild von sich selbst, wie sie das Auto freischaufelte. Sie verdrängte die Vorstellung, ihre Kinder nach Pittsburgh zu ihrer Lola und ihrem Lolo zu fahren. Wenn sie doch nur zu Weihnachten dorthin gelangen könnten. Ihre Eltern wären so überrascht, aber sie würden ihre Enkelkinder mit Liebe überschütten und ihnen helfen, das Trauma von allem, was sie erlebt hatten, zu mildern. Aber sie sprach es nicht aus, aus Angst, sie zu enttäuschen.

»Seht!«, keuchte Tycho, als sie aus dem Wald auf die Lichtung rund um ihr Haus traten.

Orla schirmte ihre Augen ab, als sie den Schatten der Bäume verließen. Im Hof hatte sich eine Ansammlung von Schneewalzen gebildet. Einige waren klein, nur 30 Zentimeter hoch. Aber die größeren waren so hoch wie die Heuballen, denen sie so ähnlich sahen. Tycho riss sich aus ihrem Griff und lief voraus, um sie zu erkunden, weit interessierter als beim ersten Mal.

»So viele, Mama!«

In der Tat. Dieses Mal kam ihr das Phänomen unnatürlich vor. Sie hatten sich gebildet, indem sie in dieselbe Richtung rollten. Weg vom Haus. In Richtung des Weges, den sie benutzt hatten, um in den Wald zu gelangen. Ein beunruhigendes Willkommensfest.

Der Wind bäumte sich auf und alle Schneewalzen krochen auf sie zu.

Tycho schrie und galoppierte zurück zu seiner Mutter.

Sie blieben einen Moment lang stehen und sahen zu. Dann kam ein weiterer Windstoß, und die Rollen krochen ein Stückchen weiter auf sie zu.

»Sie werden uns kriegen!« Er kletterte an ihrer Seite hoch.

Orla hob einen hysterischen Tycho in ihre Arme. Das Polarlicht hatte ihn nicht erschreckt. Auch nicht der viel gefährlichere Gletscher. Aber jedes Mal wenn der Wind eine der Rollen in Bewegung setzte, schrie er auf.

»Tycho, mein Lieber, es ist alles in Ordnung, es ist nur der Wind.«

Nur der Wind und ein wenig Hilfe von dem wetterfühligen Wesen, das in ihrem riesigen Baum lebte.

»Ich glaube …« Eleanor Queen schritt durch das verschneite Feld voller Schneewalzen. »Es versucht nicht, dir Angst zu machen, es … Ich glaube, es denkt, es spielt. Es will nur spielen …«

Die Windböen wurden heftiger und häuften sich, was die Bewegung des gerollten Schnees verstärkte.

»Mama, Hilfe!«

Orla blieb nichts anderes übrig, als mit ihrem verängstigten Sohn auf dem Arm in Richtung Haus zu fliehen, wobei sie den Schneehügeln, die ihr im Weg waren, auswich. Hinter ihr schrie Eleanor Queen alarmiert auf.

»Eleanor Queen?«

Orla hielt auf der Veranda inne, Tycho immer noch auf ihrer Hüfte. Hinter ihr stürmte Eleanor Queen durch den Hindernisparcours und den chaotischen Wind. Die Schneewalzen wirbelten herum und wurden immer schneller, während sie sie verfolgten. Orla setzte Tycho ab, bereit, sich in das Minenfeld zu stürzen, um ihrer Tochter zu helfen. Aber Eleanor Queen war schnell. Sie sprang auf die Veranda und griff nach der Hand ihrer Mutter. Orla öffnete die Tür und die Kinder stürzten eilends ins Haus.

Jenseits der Stufen lagen die Schneebündel auf der Lauer. Ein Trick der eisigen Partikel, die ihre gewölbten Formen umnebelten, erweckte den Anschein, als würden sie atmen. Hecheln. Ein Rudel wilder Hunde, verschiedene Größen, wachsam und hungrig.

Sie würden sie nicht gehen lassen.

Sie wünschte, sie wüsste, wie Es diese Dinge machte, und sie war sich immer noch nicht sicher, ob Es die Landschaft, den Schnee, den Himmel … oder ihre Gedanken veränderte. Es fühlte sich real an. Es sah real aus – so real, dass sie ihren Mann mit einem Eisbären verwechselt hatte. Aber wie war das möglich? Kein bloßer Geist konnte so viel Macht über Land und Leute haben, oder? Und was wollte Es ihnen sagen oder tun? Seine Verzweiflung schien nun offensichtlich, und in Ermangelung anderer Theorien nahm sie an, dass es einen Zusammenhang zwischen seinem drastischen Verhalten und dem beschleunigten Verfall der großen Weymouth-Kiefer gab, in der Es lebte.

Das Rudel Schneewalzen verfolgte jede ihrer Bewegungen, während sie auf den Stufen verweilte. Sie hatten keine Augen, aber sie spürte, dass sie sie beobachteten. Sie schätzten sie ein. Bereit, sich auf sie zu stürzen, wenn sie etwas Falsches tat.

Orla wollte sie beschimpfen, wollte dieses verdammte Wesen anschreien. Es war nicht fair, dass sie Es nicht verstehen konnte, aber Es konnte sie lesen. So viel zu ihrem Plan, das Auto fertig freizuschaufeln. Schnell wegzufahren.

Sie konnte sich nur allzu leicht vorstellen, wie die Horde auf sie zurollte und sie erdrückte. Und ihre Kinder zu Waisen machte.

Nein, sie wusste es besser.

»Okay. Wir versuchen es doch.« Sie streckte ihre Hände aus: Stopp . Erhob sie: Nicht schuldig . »Wir versuchen es.«

Die Schneewalzen warteten, ein unbeeindrucktes Publikum. Warteten auf den nächsten Akt.

Orla verließ die Bühne und verschwand im Haus.