32
Tycho hielt ein Ende der langen Papierkette fest, während Eleanor Queen den Rest der Kette um den Baum führte. Orla hielt die Taschenlampe auf den Schnee am Fuß der riesigen Kiefer gerichtet. Sie hielt den Atem an, als der Umfang des Stammes ihre Tochter kurz verschwinden ließ; es war erschreckend einfach, sich vorzustellen, wie sie in der Dunkelheit verschluckt wurde: Tycho würde dort stehen und darauf warten, dass seine Schwester zurückkam, um ihr Ende an seinem zu befestigen, und ungeduldig werden, wenn sie nicht auftauchte. Und Orla würde verzweifelt ihren Spuren hinter dem Baum folgen und feststellen, dass sie auf halbem Weg aufhörten. Die Kette aus Bastelpapier würde als Ansammlung von verlassenen Ringeln im Schnee liegen.
Aber Eleanor Queen kam auf der anderen Seite des Baums wieder zum Vorschein und übernahm feierlich das Ende, das ihr Bruder in seinem Fäustling zerquetscht hatte. Orla zog ihre Handschuhe aus, um einen halb gefrorenen Klumpen Klebstoff auf einen letzten Papierstreifen zu drücken, und Eleanor Queen machte den letzten Kringel und verband die Enden der Kette miteinander.
»Passt perfekt«, sagte sie und sah mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zu dem Baum hinauf. »Als hätten wir sie speziell für dich gemacht.«
Orla überließ Tycho die Taschenlampe, während sie und Eleanor Queen den Schnee mit ihren Stiefeln feststampften und eine ebene Fläche am Fuß des Baumes schufen. Er leuchtete mit dem Licht den endlosen Stamm hinauf und dann quer durch den endlosen Wald und in ihr Gesicht und überall dorthin, wo es für die anstehende Aufgabe nicht hilfreich war. Aber sie beschwerten sich nicht. Sie und Eleanor Queen brauchten nicht viel Licht, um die dicken Kerzen aus dem Rucksack zu holen. Sie drückten sie in den Altar aus geglättetem Schnee.
Eleanor Queen reichte ihrer Mutter die große Schachtel mit Streichhölzern. Als Orla eines davon anzündete, nahm die Flamme für einen Moment ihr gesamtes Blickfeld ein. Die Kerzendochte fingen leicht an zu brennen, und sie stellte sich den Baum wie ein eifriges Kind vor, das das Aufblühen des Lichts auf einer Geburtstagstorte beobachtet. Sie spürte eine Wärme, das Gefühl, etwas Gutes zu tun, und war sich sicher, dass der Baum sich über ihre Gesellschaft freute, dass er sich über die Mühe freute, die sie sich machten. Sie konnte fast spüren, wie sich seine weiter entfernten Äste hinabbeugten, um einen genaueren Blick zu erhaschen.
»Weiß Es, dass wir hier sind?«, fragte sie ihre Tochter.
»Ja, es hört zu, es ist … neugierig.«
Das Stück Plastikplane, das sie im Keller gefunden hatte, war nicht sehr breit, aber Orla legte es so auf den Schnee, dass es zu den Kerzen zeigte. Wie besprochen entfaltete Eleanor Queen ein Badetuch und legte es darauf.
»Ich denke, wir sind bereit«, sagte Orla zu Tycho, bereit, ihm die Taschenlampe abzunehmen. »Oh. Vielleicht noch eine letzte …«
Mit einem behandschuhten Finger zeichnete sie einen Kreis in den Schnee. Und darin zeichnete sie einen Stern. Ein sterbendes Mädchen hatte in diesem Symbol Trost gefunden; vielleicht würde ein sterbendes Wesen in einem Baum das auch tun. Natur . Es war ein Symbol für die Natur, und so unnatürlich sich alles auch anfühlte, irgendwie war es doch in der lebendigen Welt um sie herum verwurzelt.
»Ein Pentagramm?«, fragte Eleanor Queen.
»Könnte helfen. Kann nicht schaden.« Orla setzte sich im Schneidersitz auf die eine Seite des Handtuchs, und Eleanor Queen nahm auf der anderen Seite Platz. Tycho setzte sich auf den Schoß seiner Mutter.
Als die Taschenlampe erloschen war, saßen sie einen Moment lang da und starrten auf das halbe Dutzend flammender Dochte. Jeder von ihnen tanzte zu seiner eigenen Musik, und ihre Bewegung, ihre gaukelnde Wärme, lullte sie in einen behaglichen Frieden ein.
Unisono holten sie scharf Luft, als über ihnen so etwas wie Glühwürmchen auftauchten und in der kalten Nachtluft tanzten. Zwischen den Ästen huschten schimmernde Feuertröpfchen hin und her, auf und ab.
»Leuchtkäfer!«, sagte Tycho.
Orla streckte die Hand nach oben. Als ein Lichtfleck ihren Handschuh berührte, erlosch das Glühen.
»Magie.« Eleanor Queen war voller Ehrfurcht.
Orla glaubte zu wissen, was hier geschah: Das Wesen erkannte sie und hatte endlich etwas mitgeteilt, das sie verstand. Dankbarkeit. Sie hatten Licht gebracht – Liebe – und Es dankte es ihnen, indem Es ihr Kerzenlicht mit Seiner eigenen Form der Verzauberung widerspiegelte. Sie spürte ein Aufwallen der Zuversicht in ihrer Tochter, die sich etwas aufrechter hinsetzte; diesmal hatten sie es richtig gemacht. Sie hatten genug gelernt, um sich zu unterhalten.
Die Sopranstimme von Eleanor Queen stieg wie eine Rauchfahne in die Nacht hinauf, lieblich und dem Anlass angemessen. »Si-i-lent night, ho-o-ly night … «
Orla hielt Tycho fester und begann sich langsam zu wiegen, während sie in das Lied ihrer Tochter einfiel. »All is calm, all is bright …«
Der Glanz des Kerzenlichts verengte ihr Sichtfeld auf den breiten Fuß des Baumes und die Lichtflecken in den Ästen darüber. In ihrer schemenhaften Vorstellung zuckten die Ohren von Tieren, und leuchtende Augen tauchten aus der Dunkelheit auf.
»Slee-eep in heavenly peace.«
Nach mehreren Wiederholungen ihres Liedes verfielen sie in einvernehmliches Schweigen. Eleanor Queen kniete sich hin und holte ihre Opfergabe, die sicher in einer Sandwichtüte verstaut war, aus der Außentasche ihres Rucksacks. In den Raum zwischen den Kerzen und dem Pentagramm legte sie drei ihrer kostbaren Cracker und drei leicht verschrumpelte getrocknete Aprikosen.
»Wir teilen mit dir, was wir haben«, sagte Orla zu dem großen Baum. »Es ist nicht viel, aber es kommt von Herzen. Vielleicht weißt du … wir haben nicht mehr viel.«
Eleanor Queen kuschelte sich an Orla und konzentrierte sich auf ihre lauschende Art und Weise auf den uralten Baum vor ihr – und auf etwas Nebulöses dahinter oder jenseits davon.
»Meine Tochter sagt mir, dass du im Sterben liegst. Wir wollten in dieser längsten Nacht hier bei dir sein, damit du weißt, dass es nicht das Ende ist. Es gibt kein wahres Ende: Dein Geist wird Teil des Universums, in dem du geboren wurdest.«
»Das gefällt ihm, Mama«, flüsterte Eleanor Queen.
»Hab keine Angst. Es ist uns eine Ehre, in den letzten Tagen deines langen Lebens hier bei dir sein zu dürfen. Es tut uns leid, dass es zu Missverständnissen gekommen ist. Wir hoffen, dass es dir auch leidtut …« Ihre Stimme brach und sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen.
»Ich spüre etwas, Mama.« Eleanor Queen griff mit beiden Händen nach Orlas Oberarm. Orla spürte die Anspannung in ihren Muskeln; ihre Tochter war bereit aufzuspringen.
»Was ist es?«, sagte Orla. Das Mädchen begann zu weinen. »O Liebes.«
Eleanor Queen schüttelte den Kopf. »Ich bin das nicht, es ist der … nicht der Baum … Das Wesen weint.«
Orla wollte mehr wissen, hatte aber Angst, sie zu drängen. Weinte das Ding im Baum um sich selbst? Oder bedauerte Es das Leid, das Es verursacht hatte? Sie wollte immer noch Seine Absichten verstehen und den Umfang oder die Grenzen Seiner Macht. Hatte Es Fehler gemacht? Das war zwar ein schwacher Trost, aber immer noch besser als die anderen Möglichkeiten.
»Ich glaube nicht, dass es uns schaden will«, sagte Eleanor Queen. Und Orla fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ihre Tochter auch ihre Gedanken und Gefühle wahrnahm. »Oder … nein …«
»Ist es zu viel? Ihm so nahe zu sein?«
Eleanor Queen nickte und vergrub ihr zerknittertes Gesicht in Orlas Schal. »Es ist sehr, sehr bedürftig, Mama.«
»Okay, schhh.« Sie hielt ihre Kinder, eines in jedem Arm, und klärte ihren Geist, um die Kriegerin-Mutter zu sein, die für den geistigen Kampf bereit war.
»Uraltes Wesen …« Sie hatte keine Ahnung, wie sie Es nennen, wie sie Es sich vorstellen sollte, aber sie waren wegen Ihm hergekommen; sie schob ihre Bedenken beiseite und wollte aufrichtig klingen. »Wir haben für dich versucht zu verstehen – wir versuchen es doch immer noch. Aber du verursachst meiner Tochter und meinem Sohn Leid. Sie haben es nicht verdient, ihren Vater zu verlieren, und er wollte sie nicht verlassen. Aber wir wollen zu einer Einigung kommen und dir diese Zeit erleichtern, deinen Übergang ins nächste Leben …«
Obwohl sie Es uralt genannt hatte, war Es in ihren Augen zu einem unkontrollierbaren Kleinkind geworden. Es hatte Wutanfälle und handelte nach Lust und Laune. Sie erinnerte sich an Mamère – so hatte ihr Vater seine Mutter immer genannt, in dem Französisch, das er von seinem Vater gelernt hatte, also tat Orla das auch –, die in ihren letzten Jahren nach dem Schlaganfall so zerbrechlich gewesen war, das Gegenteil eines Kleinkindes. Ihre Haut wurde durchscheinend und ließ die Adern in ihren Armen und Händen sichtbar werden. Hätte sie den Unterleib ihrer Großmutter betrachtet, hätte sie vielleicht ihr gesamtes Innenleben sehen können, wie bei einem dieser Plastikmodelle aus der Anatomie: die Leber, die unter dem Brustkorb versteckt ist. Die grauen, wurmartigen Eingeweide, die so viel Platz einnahmen. Ihre 92-jährige Großmutter mit den skelettartigen Armen, die zarter waren als die eines Babys, und mit Fingern, die von Arthritis versteift waren, hätte niemals die Kraft für einen letzten Kampf aufbringen können, nicht einmal für eine Demonstration von Frustration oder Wut oder Angst vor dem Tod. Sie war in den letzten Monaten ihres Lebens stumm gewesen und schließlich ebenso still in ihren ewigen Schlaf gefallen.
Nein, Orla erwartete vom Alter Weisheit und Akzeptanz, keine gefährlichen Anfälle, die dafür sorgen konnten, dass ihre Kinder verhungern würden. Sie verdrängte diese Gedanken, aus Angst, Es könnte sie hören. Das Ding im Baum musste beruhigt werden, damit Es entschlummern konnte, damit Es sein unvermeidliches Ende akzeptierte.
»Ist es das, was Es wollte?«, flüsterte sie Eleanor Queen zu. »Unsere Gesellschaft? Hat Es weniger Angst?«
Das Mädchen konzentrierte sich und seine Augen wanderten den faltigen Baumstamm hinauf. »Ja …« Doch es klang zögernd. »Aber … ich glaube, da ist noch mehr.«
Orla dachte an Geister, deren Tod gerächt werden musste, bevor sie ruhen konnten. Was könnte dieser Geist wohl brauchen? »Sollen wir etwas für dich tun?«, fragte sie den Baum.
»Wir können nicht helfen, wenn wir nicht verstehen«, flehte Eleanor Queen. »Wir wollen helfen; du musst uns glauben!«
Während Orla zusah, konzentrierte sich ihre Tochter, als würde sie ihre Antennen auf eine unscharfe Frequenz ausrichten. »Spricht Es mit dir?«
»Ja … Ich verstehe nur … Ich höre immer nur eines. Nach Hause. Nach Hause. Nach Hause .«
In Orla kippte etwas und verdarb. Ihr Mitgefühl. In Sekundenschnelle schrumpfte es und zersetzte sich, und was zurückblieb, war Wut. Sie hob Tycho von ihrem Schoß und auf das Handtuch und stand auf, um sich dem Baum entgegenzustellen. Nach Hause . Was für eine Dreistigkeit, ihnen das vor den Latz zu knallen. Wollte Es, dass sie in das Haus zurückgingen und sich dort für immer verkrochen? Sie glaubte nicht, dass Es wollte, dass sie fortgingen, dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren.
»Alte Dinge sterben, das ist der Kreislauf des Lebens!« Sie trat gegen die Rinde. »Du kannst uns nicht hier gefangen halten, meine Familie zerstören und uns dann verhöhnen …«
»Es hört zu, Mama, du musst nicht schreien.«
»Ich muss schreien, weil ich wütend bin. Sag Ihm, Es soll deutlich sprechen. Wir können nicht ewig so weitermachen!«
Eleanor Queen kniff ihre Augen zusammen. Orlas Wut verflog und sie hätte sie fast angefleht, damit aufzuhören. Sie hasste die Rolle, die ihre Tochter spielte, die der Dolmetscherin – nein, schlimmer noch. Überträgerin, menschliche Verbindungsleitung. Und sie hasste es, dass sie diese Rolle so todernst nahm. Ihr Überleben und das Überleben des Wesens sollten nicht in der Verantwortung eines kleinen Mädchens liegen.
»Es ist das auch nicht gewohnt«, sagte Eleanor Queen mit zusammengekniffenen Augen. »Außerhalb seiner selbst zu sein. Bevor wir kamen, war es noch nie so weit außerhalb von sich selbst gewesen. Es fühlte etwas, etwas, das es erkannte, in Papa. Und dann in mir. Aber es hatte nie zuvor … kommunizieren müssen. Oder das Bedürfnis danach gehabt. Es hat versucht … hat uns zuerst seine Macht gezeigt. Aber wir hatten Angst davor.«
Die Flammenflecken lösten sich aus den Zweigen und schwärmten auf den Boden zu. Sie schwebten über dem Pentagramm, das Orla in den Schnee gezeichnet hatte, und ließen sich dann in der Form des Kreises, des Sterns, nieder, sodass sie glühten.
Orla kniete sich neben die Kinder, unsicher, was das zu bedeuten hatte, und bereit, sie zu beschützen, aber Eleanor Queen lachte, ohne Angst zu haben.
»Siehst du, wie es sich bemüht? Es versucht immer wieder, einen Weg zu finden, damit wir sehen und verstehen. Es will uns kennen, aber … es versteht noch nicht alles …«
Eleanor Queen schnappte plötzlich nach Luft und sackte zusammen. Tycho sah seine Mutter mit ängstlichen Augen an. Orla streckte jedem von ihnen eine tröstende Hand entgegen.
»O Bean!« Das war das meiste, was ihre Tochter bisher von Ihm erfahren hatte, aber die Information hatte ihren Preis. Eleanor Queen kauerte neben ihrem Bruder und wirkte nun wieder genauso klein und verängstigt wie er. »Das hast du toll gemacht, du warst so gut!« Und Orla wollte nicht, dass sie noch mehr tat. »Warum versuche ich es jetzt nicht einmal? Mal sehen, ob ich Ihm erklären kann, was und wer wir sind. Hört Es noch zu?«
Ihre Tochter nickte schwach und schlang die Arme um Tycho.