34
Die späte Morgensonne fiel in hellen, fenstergroßen Streifen ins Wohnzimmer. Orla wachte auf, ihr Kopf und das linke Bein hingen von der Matratze hinab. Sie rieb sich den steifen Nacken und setzte sich auf. Hellwach und optimistisch. Eleanor Queen war bereits aufgestanden und klapperte in der Küche leise vor sich hin. Tycho, erschöpft von ihrem mitternächtlichen Ausflug, schlief immer noch, ausgestreckt auf einem für seine geringe Größe unverhältnismäßig großen Teil des Bettes. Orla gluckste. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte es sich gut an, wach zu sein, am Leben zu sein.
Zum Frühstück aßen sie die letzte Dose Lebensmittel – Thunfisch – und teilten sich einen Portionsbecher Apfelmus. Es sollte der letzte Morgen sein – Schhh –, also war Orla nicht übermäßig besorgt, die wertvollen Grundnahrungsmittel aufzubrauchen; sie brauchten Proteine, um ihre Mission zu erfüllen. Schhh .
»Gehen wir draußen spielen?«, fragte Tycho, als Orla ihm half, sich anzuziehen.
»Ja, das ist genau das, was wir tun werden.« Es war ganz und gar nicht das, was sie vorhatten, aber sie wollte sich nicht erlauben, die Wahrheit zu denken, geschweige denn sie auszusprechen. Eleanor Queen wusste es, aber Tycho war zu jung, um seine Gedanken zu unterdrücken, und so war es umso besser, wenn Sie nur seine Aufregung hörte und die Bilder in seinem Kopf sah, wie er im Schnee spielte.
Die Nacht hatte sie alle auf spürbare Weise geheilt. Tycho hatte keine Angst mehr, nach draußen zu gehen. Die Bewegungen von Eleanor Queen wurden nicht mehr durch Phasen der Unkonzentriertheit unterbrochen; was immer da draußen war, hatte aufgehört, ihre Aufmerksamkeit zu fordern. Der Vorhang des Schreckens hatte sich von ihren Augen gelüftet. Orla hoffte, betete, dass die Kreatur in der Nacht gestorben war, aber sie konnte ihre Flucht nicht riskieren, solange auch nur eine Ranke Ihres Bewusstseins übrig war.
Es hatte ein wenig geschneit, ein frischer Staub, der alte Fußabdrücke überzuckerte. Tycho stolperte in seiner mehr oder weniger sauberen Kleidung vor ihr die Treppe hinunter – sie benutzten das Obergeschoss immer noch als Lager für ihre Sachen –, aber Orla blieb im Zimmer von Eleanor Queen stehen, als sie ihre Tochter auf dem Bett sitzen sah. Sie hielt eines ihrer Lieblingsbücher in der Hand, und Orla befürchtete, dass sie ihre Meinung geändert hatte. Sie hatten vereinbart, nichts mitzunehmen, damit es nicht so aussah, als würden sie fliehen. Für den Fall, dass Sie nur schläft .
»Wir werden wiederkommen. Wieder und wieder und wieder«, flüsterte Orla. Lass Sie nicht die Wahrheit erfahren .
»Das ist es nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich ihr gestern Abend mehr hätte geben sollen. Eine bessere Gabe. Etwas, das ich liebe, wie das hier.«
»Du bist Ihr nichts schuldig. Weißt du noch, was wir beschlossen haben?« Sie murmelte die Worte nur, es war kaum mehr als ein Flüstern. In voller Lautstärke sagte sie: »Heute sind wir von Lächeln und Liebe erfüllt.«
Das war alles, was sie denken würden, wenn sie auf Zehenspitzen davonschlichen. Glückliche Gedanken. Wir haben dich lieb . Und sie würde Tycho vorschlagen, das Lied von den Rädern des Busses zu singen, »The wheels on the bus go round and round«, ein Lied, von dem sie ihm wegen seiner lästigen Wiederholungen immer wieder abgeraten hatten. Aber es würde ihn ablenken, und vielleicht würde diese musikalische Begleitung, die sie gemeinsam mit ihm murmeln konnten, eine solidere Barriere gegen ihre Gedanken bilden – und gegen die Aufregung, die in ihr aufstieg.
Orla hatte ihre Brieftasche, ihr Telefon und wichtige Papiere bereits in die Innentasche ihres Mantels gesteckt. Sie hatten nichts sonst bei sich. Die Geschichte lief wie ein alter Film vor ihrem geistigen Auge ab: Schlecht ausgeleuchtete Familien mit dem äußeren Anschein eines geselligen Ausflugs, bis auf die goldenen Davidsterne, schritten ohne Blickkontakt an den hakenkreuzgeschmückten Besatzern vorbei. Kein Gepäck. Die Eltern hatten Angst, dass ihr Herzklopfen den Alarm auslösen würde. Irgendwo hat immer irgendjemand versucht, sich unbemerkt zu entfernen: um seine lange vermisste Familie in Südkorea wiederzufinden, während eine Waffe auf seinen Rücken gerichtet war. Unsichtbare Grenzen zu überschreiten, um ein weniger gefährliches Leben zu führen. Sich fortzuschleichen . Sie schloss die Worte mit dem Fallbeil einer Guillotine aus ihren Gedanken aus.
Vielleicht würde Sie sie gehen lassen. Vielleicht reiste Sie mit Lichtgeschwindigkeit Ihrer nächsten Bestimmung entgegen. Vielleicht würde das gute Gefühl dieses Morgens anhalten. Aber Orla würde das Schicksal nicht herausfordern. Sie würde ihre Flucht nicht zur Schau stellen.
»Gehen wir bald nach Hause, Mama?«, fragte Tycho, als sie nach draußen traten. Er fragte alle paar Tage, aber nie tat er mehr, als zu murren und die Schultern hängen zu lassen, wenn sie Nein sagte.
»Das ist unser Zuhause«, sagte Orla. Siehst du, wir gehen nirgendwohin . Wie bald würde sie seine kleinen Rippen sehen können, weil sie durch seinen Pullover stachen? Gar nicht. Denn sie würde ihnen Essen besorgen. Und zwar bald.
»Sollen wir nach der Post sehen?«, fragte Eleanor Queen, genau wie sie es geplant hatten, bevor Tycho zu sehr mit der Renovierung seiner verlassenen Schneefestung beschäftigt war.
»Wollen wir einen kleinen Spaziergang zum Briefkasten machen?«, fragte Orla ihren Sohn. Sie hatte ihren morgendlichen Spaziergang zum Abholen der Post schon vor einiger Zeit aufgegeben, in der Hoffnung, das würde dem Postboten einen Grund geben, zum Haus zu kommen, oder er würde sich einfach Sorgen machen, wenn die Post der Familie nicht abgeholt würde.
»Okay!«, stimmte Tycho zu.
Es erleichterte Orla das Herz, zu sehen, dass ihre Kinder zu einem normaleren Verhalten zurückkehrten, auch wenn sie ihr nicht sagen wollten, wie oft sie hungrig waren. Sie ließ ihn die Einfahrt hinunterlaufen, um etwas von seiner aufgestauten Energie abzulassen. Er ging in den alten Spurrillen, obwohl ihm der Schnee fast bis zu den Oberschenkeln reichte, aber er stapfte weiter, als ob er durch tiefes Wasser waten würde.
»The wheels on the bus go round and round«, sang sie.
Tycho machte genau da weiter, wo sie aufgehört hatte, und fuhr mit den Versen fort, während sie den gewundenen Pfad hinunterschlenderten. Orla versuchte gar nicht erst, sich an die Seite mit der Leitschnur zu halten, um nicht zu vorsichtig zu wirken. Das Auto war verschüttet, der Fahrer tot.
Orlas Herz klopfte schnell und hastig, als der Briefkasten früher als erwartet in Sicht kam. Sie lenkte sich selbst – und das Wesen – ab, indem sie mit neuem Überschwang das Lied mitsang. Eleanor Queen musste ähnliche Ängste haben, sich zu früh zu freuen und die Kontrolle über die Worte in ihrem Kopf und die Gefühle in ihrem Körper zu verlieren. Sie hasste das Lied noch mehr als Orla und hatte es bisher ihrer Mutter überlassen, ihren Bruder zu begleiten, aber nun stimmte sie ein und sang lauthals mit.
»The doors on the bus go …«
Dort war die Straße. 20 Schritte noch. Auf der anderen Seite türmte sich der Schnee, und es sah aus, als wäre er erst kürzlich beiseitegepflügt worden. Je näher sie kamen, desto bemerkenswerter war die Straße, weil sie noch – oder wieder – genauso aussah wie immer, wie vor dem Auftauchen des Gletschers. Der Schnee, platt gefahren und grau, war mit Reifenspuren übersät; das normale Leben war weitergegangen, während sie in der Isolation gefangen waren. Zu ihrer Rechten führte die Straße einen sanften Abhang hinunter, und zu ihrer Linken führte sie in einer Kurve weiter nach oben und verschwand zwischen zwei Baumreihen. Irgendwo zu ihrer Linken musste sich ein Nachbar befinden, und vielleicht ein Rastplatz, an dem Sommertouristen parkten, um die ausgewiesenen Wanderwege zu nutzen. Aber wenn sie rechts abbogen, würde ihre kleine Straße auf eine größere, stärker befahrene Straße treffen. Sie könnten ihr bis in den Ort folgen, zu Fuß. Vielleicht würden sogar Autos an ihnen vorbeifahren, und Orla könnte sie anhalten, um Hilfe bitten und ihre Kinder an einen sicheren Ort mit reichlich Nahrung bringen. Und wenn sie sich der Zivilisation näherten, konnte sie den Notruf wählen. Berichten, was geschehen war. Ihrem Mann das gebührende Gedenken geben, das er verdient hatte.
»The mommies on the bus say: ›Shush, shush, shush‹«, rief sie regelrecht und übertönte damit ihre übereifrigen Gedanken.
»Kann ich die Post rausholen?« Tycho war als Erster beim Kasten. Orla erwartete fast, dass er in einem aufwallenden Schneewirbel verschwinden würde. Aber das tat er nicht. Er grinste, eine Hand mit Fäustling bereit, einen Schatz zu finden, und wartete darauf, dass seine Mutter ihm die Erlaubnis gab, die kleine gewölbte Tür zu öffnen.
Orla und Eleanor Queen wechselten einen Blick. »Ich hab dich lieb und es ist ein wunderschöner Tag.«
Eleanor Queen nickte nur zur Antwort, ihr Gesicht war erwartungsvoll. Mit ihren vor Kälte geröteten Wangen sah sie so glücklich und gesund aus wie seit Wochen nicht mehr.
»Na klar, mach nur«, rief Orla zu Tycho hinüber.
Er grinste. Hätte es weniger Schnee gegeben, hätte er vielleicht nicht so leicht an das gelangen können, was sich darin befand. Er raffte mit beiden Händen, um alles festzuhalten. Orla und Eleanor Queen zögerten an der Grenze, wo die Auffahrt auf die Straße traf. Tycho reichte ihnen die Post weiter.
»Danke, was für ein guter Postabholer du doch bist.«
Ganz beiläufig machte Orla ein paar Schritte auf die Straße und sortierte die Post, bei der es sich anscheinend hauptsächlich um Weihnachtskarten handelte. Hinter ihr zupfte Eleanor Queen an der Jacke ihres Bruders, damit er ihnen folgte.
»Sieht aus, als hätten wir … eine Weihnachtskarte von Lola und Lolo. Und noch eine von Onkel Walker und Tante Julie. Und …« Sie hörte kurz auf zu berichten, als sie den Absender auf einer anderen Karte las: von Lawrence, Shaws bestem Freund in der Stadt. Doch dann fuhr sie fort. »Von Pilar und Gwen, Xin und Deshi.«
Der Blick auf die Handschrift ihrer Freunde drohte sie wehmütig zu machen und ihre Fassade zu zerstören. Sie blätterte durch die Post und fand den Werbemüll, auch wenn es nur wenig davon gab. Eine örtliche Firma bot an, ihre Einfahrt vom Schnee zu befreien (wenn sie doch nur zum Haus gekommen wären und nachgefragt hätten!). Ein Flugblatt des nächstgelegenen Lebensmittelgeschäfts. Kein Wunder, dass sich der Postbote keine Sorgen gemacht hatte; eine Handvoll Karten und ein paar Werbeblätter. Wahrscheinlich hatte er an den meisten Tagen nicht einmal an ihrem Briefkasten anhalten müssen. Orla setzte ihren lässigen Spaziergang fort, die Nase in der Post vergraben. Sie nahm die Spitze ihres Handschuhs zwischen die Zähne, um ihre Hand zu befreien, und begann, einen Umschlag aufzureißen.
»Mal sehen, was Lola und Lolo zu sagen haben.« Sie sehnte sich so sehr nach ihren Eltern, wie sie es noch nie getan hatte. »Sie haben einen warmen Dezember«, verkündete sie mit heiterer Stimme, während sie die Karte las.
Sie waren zweieinhalb Meter weit gekommen auf der Straße. Eleanor Queen und Tycho einen Schritt hinter ihr. Drei Meter. Vier.
Ein krachendes Geräusch, als würde etwas unter der Erde zerreißen.
Das Mahlen tektonischer Platten.
Ein scharfer Knall, lauter als ein Blitz, der aus nächster Nähe einschlägt.
Tycho schrie mit weit aufgerissenen Augen, und Orla griff nach hinten, um ihn zu packen. Eleanor Queen wimmerte, ihr Gesicht war schmerzverzerrt, als würde ihr Blut in die Augen laufen.
»Nein, Mama, nein, nein, nein, nein!«
Orla umklammerte sie ebenfalls. Sie riss die beiden herum und hetzte die Straße zurück. »Wir gehen zurück, siehst du? Wir wollten nicht …«
Der Boden rumpelte. Sie stolperte über den Straßenrand und brach als Häufchen Elend neben dem Briefkasten zusammen. Aber was auch immer jetzt geschah, es hatte gerade erst begonnen. Orla kauerte sich über ihre Kinder, als alles um sie herum bebte. Sie fürchtete, die Bäume würden sich aus der Erde lösen und sie unter den kratzenden, anklagenden Händen der wütenden Äste begraben.
»Es tut mir leid! Es tut mir leid!«, schrie Orla in die Kakofonie hinein. »Wir gehen nicht weg! Wir sind doch hier!«
Die Entität hatte sie entweder nicht gehört oder es war ihr egal.
»Sag es Ihr, Eleanor Queen, bitte Sie aufzuhören!«
Die Bäume schüttelten ihren Schnee ab und der Wind blies ihn ihnen ins Gesicht. Alles um sie herum färbte sich weiß, und der Boden unter ihnen bebte immer noch.
»Das kann ich nicht!«, jammerte Eleanor Queen. »Sie ist wütend, Mama! Wir waren ihre Freunde! Sie dachte, wir wären ihre Freunde!«
Ein heftiger Windstoß brauste über sie hinweg, und Orla lag auf ihren Kindern und hoffte, dass ihr Gewicht ausreichte, um zu verhindern, dass sie hochgehoben und weggefegt wurden. Vielleicht schrien die Kinder unter ihr, aber sie konnte sie nicht hören. Sie schloss die Augen und betete, dass das Wesen sie am Leben lassen würde. Wenn der Sturm weiter in dieser Intensität anhielt, würde er ihnen die Kleider vom Leib reißen oder sie gegen die massiven Stämme der umliegenden Bäume schleudern. Vielleicht wollte Sie sie auch begraben, wie die Asche in Pompeji, und eines Tages würde sie jemand ausgraben. Gefrorene Skulpturen, so wie sie im Moment ihres Todes gewesen waren, Eleanor Queen mit schmerzverzerrtem Gesicht, Tychos Hände, die nach seiner Mutter griffen.
Weiteres Knacken und Rumpeln. Der Boden unter ihnen bewegte sich, gab nach, schwankte.
Es wurde wieder still, ein Decrescendo der zerstörerischen Geräusche. Aber selbst in der betäubten Stille tobte der Schneesturm weiter. Orla gefiel das ungebremste Gefühl der Bewegung nicht, als befänden sie sich an Deck eines kleinen Schiffes. War ihr nur schwindlig? Wenn sie aufstand, was würde dann passieren? Würde sie den Halt verlieren und in einen … was? In einen Abgrund stürzen? Sie ließ ein wenig von den Kindern ab, weil sie befürchtete, dass ihre Bemühungen, sie zu schützen, dazu führen würden, dass sie sie erdrückte. »Ist alles in Ordnung mit euch? Geht es euch gut?«
Sie konnte durch die weiße, schneewirbelnde Luft gut genug sehen, um die nickenden Köpfe zu erkennen. Sie traute dem schwankenden Boden so weit, dass sie sich hinkniete. Es war kein Schnee mehr unter ihr, sondern Eis.
»O nein.«
Das Plätschern von Wasser.
Sie waren nicht auf einem Boot, aber auch nicht mehr an Land.
Der Schneesturm lichtete sich plötzlich wie ein Vorhang zu Beginn einer Vorstellung und bestätigte, was Orla gerade erst zu befürchten begonnen hatte.
Die Welt um sie herum war nicht mehr so, wie sie einmal gewesen war. Keine Bäume. Kein Briefkasten und keine Straße. Stattdessen trieben sie in einem Meer aus Eisschollen.
»Nein, nein …«
Tycho versuchte aufzustehen, aber Orla packte ihn und zerrte ihn auf ihren Schoß. Sie griff nach der Schneehose von Eleanor Queen und zog sie mit wenig Kraftaufwand auf der eisigen Oberfläche näher heran. Die Kinder staunten über die neue Welt.
»Wow!« Tycho betrachtete die Landschaft, geblendet. Verwirrt.
»Es ist wie mein Traum.« Eleanor Queens verletzter Gesichtsausdruck sprach von Untergang, von persönlichem Scheitern, vom Verhängnis. »Es hat nicht geklappt, Mama.«
Orla hielt sie fest im Arm. »Wir haben Sie doch glücklich gemacht. Das haben wir.«
»Aber sie wollte trotzdem nicht, dass wir gehen. Ich hätte es wissen müssen, ich habe alles vermasselt!« Sie brach in Tränen aus.
»Es ist nicht deine …«
»Jetzt kommen wir niemals nach Hause. Sieh mal, es ist gar nicht mehr da!«
Sie hatte natürlich recht. Denn so weit sie in alle Richtungen sehen konnten, gab es nichts als eine gefrorene Weite, das sanfte Wogen eines Polarmeers. In der Ferne sah Orla einen Eiskontinent, dessen Ränder zerklüftet und leuchtend grün und blau waren. Inmitten all dessen waren sie auf einem schwimmenden Eisbrocken gestrandet. Manchmal kollidierte er mit einem anderen, und sie dümpelten in der halb gefrorenen See. Es war ein erstaunlicher Anblick: Geschnitzte grüne Torbogen und Säulen standen wie Eisinseln im Wasser. Aber sie konnten nirgendwohin gehen. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, in die prekäre Existenz ihres bescheidenen Hauses zurückzukehren. Orla wollte nicht, dass ihre Tochter in Panik geriet oder sich selbst die Schuld gab.
»Vielleicht ist es …« Je mehr sie überlegte, was sie sagen sollte, desto vernünftiger erschien es ihr. »Es ist wie das Nordlicht: Sie wollte uns etwas Wunderbares zeigen, nicht uns erschrecken. Sie versucht, uns etwas über Ihre Macht begreiflich zu machen …«
»Ja – ihre Macht, uns an der Abreise zu hindern!«, jammerte Eleanor Queen.
»Aber das heißt nicht, dass … Das ist vielleicht nur eine Vorführung, wir sind nicht verletzt …«
»Aber wir werden niemals entkommen!« Sie sprang wütend auf. »Ich verstehe nicht, was sie will, und alles, was hier passiert, ist meine …«
Orla griff erschrocken nach ihr, als das Eis wie ein instabiles Kanu schwankte. »Sei vorsichtig!«
Eleanor Queen wich ihrem Griff aus. »Wir werden hier sterben …«
Orla konnte nicht verhindern, dass es geschah. Die Füße von Eleanor Queen suchten auf dem Eis nach Halt, ihre Arme schlugen um sich.
Aber sie hatte ihr Gleichgewicht schon zu weit verloren, um sich noch zu fangen. Sie fiel rückwärts und ihr entfuhr ein Aufschrei, der schnell vom Wasser erstickt wurde.
Es war eine Frage von Sekunden. Sekunden bevor ihre Tochter im Kälteschock für immer unter die eisige Oberfläche gleiten würde. Sekunden bevor ein weiterer Eisbrocken sie treffen und sie in der mit Schollen verstopften Wasserstraße zerquetschen würde.
Sie hob Tycho von ihrem Schoß – »Nicht bewegen!« – und streckte sich auf dem Bauch aus, um nach der verzweifelt ausgestreckten Hand von Eleanor Queen zu greifen.
Die Lippen des Mädchens wurden bereits grau, und aus ihren großen Augen blitzte Panik. Sie schnappte nach Luft, halb spuckend, halb keuchend. Orla griff nach dem Ärmel ihres Mantels, versuchte, sie hochzuziehen, aber das Wasser drückte ihn nach unten, verwandelte ihre Schneehose und ihre Stiefel praktisch in Anker. Das eiskalte Wasser versuchte, ihre Tochter zu beanspruchen, sie in seine frostige, tödliche Tiefe zu ziehen.
»Das ist nicht das, was du willst!«, schrie Orla. Denn sie wusste, was auch immer das Wesen wollen mochte, dabei würde der Tod von Eleanor Queen nicht helfen.
Sie schlitterte auf den Rand der Eisscholle zu, griff und zerrte an dem durchnässten Ärmel ihrer Tochter. »Ich habe dich! Ich habe dich!«
Obwohl sein Mund offen stand, war das Mädchen zu verängstigt, zu unterkühlt, um zu schreien oder zu reagieren. Orla spielte Tauziehen mit dem eisigen Wasser. Aber mit jedem Zentimeter, den sie mit Eleanor Queen gewann, rutschte Orla weiter auf der Eisdecke. Bis …
»Mama!«, rief Tycho von seinem Platz auf der Scholle.
Orla stürzte ins Meer.
Sie sah Tycho auf den Knien über ihr, sein weinerliches Gesicht ragte über den Rand des Eises. Sein Bild schwankte über dem Wasser und er rief immer wieder »Mama!« , aber sie konnte ihn nicht hören. Die Kälte betäubte sie. Sie traf sie mit der Wucht eines rasenden Lastwagens. Sie erwartete, aufzutauchen und einen verzweifelten, lebensrettenden Schluck Luft zu würgen. Aber den Stoff von Eleanor Queens Mantel hielt sie noch immer in ihrer linken Hand. Obwohl das Gewicht ihrer sterbenden Tochter sie nach unten zerrte, konnte Orla nicht loslassen.