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Sie erinnerte sich, dass es einen kleinen weißen Sarg gab. Es war eine falsche Erinnerung. Ihr kleiner Bruder Otto war eingeäschert worden. Ihre Eltern waren praktisch veranlagte Menschen, ihre Mutter Aoife Apothekerin, ihr Vater Thomas Tierarzt. Sie wussten, dass Otto möglicherweise sterben würde, seit er eineinhalb Jahre alt gewesen war. Es begann mit etwas, das Aoife für eine Magenverstimmung gehalten hatte; der Arzt war zunächst nicht besorgt. Als das Erbrechen anhielt, brachten sie ihn schnell zu weiteren Untersuchungen. Wie sich herausstellte, war sein Verdauungssystem in Ordnung; es wurde ein Medulloblastom diagnostiziert, eine Art Hirntumor.

Die Krampfanfälle begannen in den Stunden vor seiner ersten Operation. Orla, die damals fast sechs Jahre alt war, erinnerte sich daran, dass sie Angst hatte und verwirrt war, aber vor allem, weil ihr normales Leben auf den Kopf gestellt wurde, als ihre Eltern abwechselnd bei Otto im Krankenhaus blieben. Es war, als wären sie von einer vierköpfigen Familie zu einer zweiköpfigen Familie geworden, die immer wieder in ihrer Zusammensetzung wechselte. Aber schließlich stellte sich eine neue Routine ein, und sie alle behandelten den kleinen Bruder wie ein federloses Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war.

Die kleine Orla fand es nicht seltsam, dass ihr kleinerer Bruder immer wie ein Baby wirkte. Er krabbelte, anstatt zu laufen, brabbelte, anstatt zu sprechen, selbst als er drei und dann vier Jahre alt war. Ihre Eltern sagten, das liege daran, dass er krank war und die Chemotherapie eine Sehr Anstrengende Medizin war. Otto war wie eine lebende Puppe, und Orla hatte ihn viel mehr lieb als eine ihrer beiden Katzen. Alle hatten gedacht, dass die Sehr Anstrengende Medizin ihn heilen würde, aber später setzten sich ihre Eltern mit ihr hin und erklärten ihr, dass die Sehr Bösen Zellen ihres kleinen Bruders nicht geheilt werden könnten.

Sie war acht, als er starb. Bei der Beerdigung weinten alle leise, als hätten sie Angst, zu viel Lärm zu machen. Die Menschen sprachen mit gesenkten Stimmen, sie bewegten sich sogar langsam. Beim Beobachten der Erwachsenen um sie herum dachte die junge Orla, dass der Tod eine höchst prekäre Situation sein musste, in der die frisch Verstorbenen leicht verunsichert werden konnten. Seine kleine Urne war von riesigen Blumensträußen in allen Farben des Regenbogens umgeben. Doch Orla erinnerte sich immer daran, einen weißen Sarg gesehen zu haben. Selbst zusammengerollt hätte er nicht in die Urne gepasst, obwohl er immer ein so kleiner und zierlicher Junge gewesen war. In ihrer Vorstellung schenkte sie ihm einen Sarg mit Kuscheltieren und weichen Decken. Sie ließ sogar noch viel Platz an allen Seiten, falls er noch wachsen sollte.

Die Leute sagten Dinge zu ihr wie: »Er war einfach nicht dazu bestimmt, lange hier zu sein«, was Orla dazu brachte, sich zu fragen, wo er denn stattdessen sein sollte und ob er dort mit neuen Eltern und jemand anderem als seiner Schwester aufwachsen würde. Darüber dachte sie viel nach, als sie noch klein war, in der Grundschule, und manchmal machte es sie traurig, dass Otto sie für eine andere Familie verlassen hatte, und manchmal machte es sie glücklich, dass er vielleicht doch nicht so tot war, wie alle zu glauben schienen.

In den Monaten nach seinem Tod sagten Verwandte und andere alte Leute zu ihr: »Er blickt jetzt vom Himmel auf dich herab.« Wenn ihre Mutter dabei war, verzog diese den Mund, zog die Brauen über den dunklen Augen zusammen und sagte: »Ich weiß, ihr meint es gut, aber bitte verwirrt sie nicht.« Wenn ihr Vater dabei war, blickte er auf seine Schuhe hinunter und sagte nichts. Sie konnten zu diesem Zeitpunkt keinen Weg finden, um dem einen Kind zu erklären, warum das andere gestorben war. Als Orla etwas älter wurde, fand sie es selbst heraus: Es gab keinen rationalen Grund für seinen Tod; niemand war schuld, und niemand hätte es verhindern können, weder Ärzte noch Priester. Sie konnte es ihren Eltern gegenüber nicht aussprechen, niemals, aber sie hatte damals verstanden, dass Otto einen Defekt hatte – irgendetwas stimmte nicht in seinem Kopf. Seine Zellen wuchsen völlig falsch und drückten auf sein Gehirn, und deshalb konnte er sich nur wie ein Baby verhalten. Und nie erwachsen werden. Ein todbringender Defekt .

Erst nach der Geburt von Eleanor Queen wurde Orla richtig klar, was ihre Eltern durchgemacht hatten. Damals zweifelte sie an ihrer eigenen Fähigkeit weiterzumachen, wenn ihrem Herzen etwas zustoßen würde – und genau das wurde ihre Tochter von dem Moment an, als sie geboren wurde: Orlas Herz, außerhalb ihres Körpers. Als Orla aufgewachsen war, hatten sie und ihre Familie Otto nie vergessen, aber er war zunehmend weniger Teil ihres Alltags. Als sie zehn Jahre alt war, entfernten sie den Teppichboden in seinem alten Zimmer und stellten einen Spiegel und eine Stange auf, damit sie tanzen üben konnte, wann immer sie wollte. Als sie 13 wurde, sprachen sie nicht mehr viel über ihn; er war ein Bild an der Wand, ein Geburtstag, ein Todestag.

Sie war so sehr mit dem Tanzen beschäftigt, und ihre Eltern unterstützten sie immens. Erst später fragte sie sich, ob sie sich so intensiv in ihre Interessen stürzten, um sich von ihrem Schmerz abzulenken. Aber sie arrangierten ihre Zeitpläne so, dass sie sie jeden Tag früh von der Schule abholten und zu ihren vorprofessionellen Tanzkursen fuhren. Einer von ihnen oder beide begleiteten sie, wenn sie bei Auswahlverfahren für Sommerkurse vortanzte. Und ihre Eltern sparten ihre Urlaubswochen auf, und dann reisten sie als Familie nach San Francisco, Toronto und schließlich nach New York City, nachdem sie nacheinander in jedes dieser Kursprogramme aufgenommen worden war.

Es war ihr nicht seltsam oder außergewöhnlich vorgekommen, dass sie sich nie über die Kosten für ihre Ausbildung oder die Ausgaben für Flugreisen, Hotelzimmer und neue Trikots und Schuhe beschwerten. Als sie allein in New York City lebte, wurde ihr erst klar, wie gesegnet – in finanzieller Hinsicht – sie aufgewachsen war und wie vorteilhaft es war, Eltern zu haben, die sie so unendlich unterstützten. Als sie Mitbewohnerinnen hatte, bevor sie mit Shaw zusammenlebte, hatte sie versucht, den Kühlschrank und die Schränke mit Lebensmitteln zu füllen, und ihre Mitbewohner nie gebeten, sich zu beteiligen. Einige von ihnen hatten ein verrücktes Pensum, nahmen zusätzlichen Tanzunterricht, arbeiteten nebenbei und versuchten so, sich in der Stadt durchzuschlagen. Sie hatte mehr als eine Hand an der Penn Station oder Port Authority gehalten, mehr als eine feuchte Wange geküsst, wenn eine Freundin oder baldige ehemalige Mitbewohnerin ihre Sachen packte und nach Hause ging. Die Stadt war erbarmungslos in der Zerschlagung und Entsorgung von Träumen.

Orla vergaß nie, dass ihr Talent und ihre harte Arbeit vielleicht nicht ausgereicht hätten; ihre Eltern – und deren Unterstützung – waren das magische Element in der Gleichung, die ihr Leben, ihre Träume, möglich machte. Ihre Eltern kamen, um sie in jeder neuen Rolle zu sehen, ein Wochenende hier, ein Wochenende dort, jede Saison, bis sie sich zur Ruhe setzte. Wie viele Kostüme hatten sie sie für die verschiedenen Rollen im jazzigen Nussknacker des ECCB tragen sehen? Ihr ganzes Leben lang gaben sie ihr das Gefühl, dass sie alles war, was sie sich jemals gewünscht hatten – und niemals das einzige Kind, das sie noch hatten .

Orla dachte über diese Dinge nach, während die Stunden zu Tagen wurden. Es waren unglückliche Tage. Sie hörte wieder den bellenden Husten und wusste, dass es nicht Tycho war. Es war auch nicht Eleanor Queen, denn die war immer in ihrer Nähe und der Husten kam aus dem ersten Stock. Das Haus hatte auch angefangen, übel zu riechen, aber in ihrem verdrießlichen Zustand konnte Orla nicht sagen, ob es an ihnen lag, an ihren ungewaschenen Körpern und Kleidern, oder … an etwas anderem.

Sie konnten es nicht riskieren, erneut zu fliehen, und ein Teil von ihr wollte Tycho nicht zurücklassen. Er würde diesen Ort heimsuchen, und es könnte das Einzige von ihm sein, das sie überhaupt noch haben würde. Die Machtlosigkeit ihrer Situation lastete auf ihr, aber jedes Mal wenn sie Eleanor Queen dabei erwischte, wie sie sich konzentrierte und mit dem Wesen zu kommunizieren versuchte, unterbrach Orla ihre Verbindung. Sie schüttelte sie oder klatschte wütend mit ihren Händen vor ihrem Gesicht. Eleanor Queen bestand darauf, dass sie Antworten brauchten, dass dies der einzige Weg war, aber Orla konnte nicht zulassen, dass sie sich weiterhin zum Gefäß für ein so gefährliches Wesen machte. Sie versprach ihrer Tochter, sie würde sich etwas einfallen lassen. Sie sagte ihr, der Baum würde bald sterben und dann wären auch sie frei.

Was hatte sie immer noch nicht begriffen? Auch das quälte sie. Die Bildsprache in Shaws Gemälden. Das Pentagramm in der Hand eines sterbenden Mädchens. Und die geradezu körperlich wahrnehmbaren Dinge. Das Husten. Der ekelhafte Gestank. Wenn es ihr zu langweilig wurde, schnüffelte Eleanor Queen an den Wänden entlang und suchte nach einem toten Nagetier. Sie fand nie eines. Aber die Puzzlestücke waren überall, so zart und zerbrechlich wie Kirschblüten im starken Wind. Keine von Orlas Theorien ergab ein klares Bild, und Eleanor Queen beharrte, sie habe keine Vorstellungen davon, dass es sich um ein Mädchen handelte. Das Ding, das sie quälte, war vielleicht weiblich, aber Sie war kein Mensch.

In ihren schlimmsten Momenten fragte sich Orla, ob Eleanor Queen dem Wesen absichtlich oder versehentlich gesagt hatte, dass sie fortlaufen wollten. Vielleicht hatte ein Teil von Eleanor Queen nicht gehen wollen, der Teil, der immer noch Mitleid mit der Kreatur und Ihrer Notlage hatte. Oder vielleicht hatte Sie gespürt, dass sie das Land verließen, als sie die unsichtbare Schwelle am Briefkasten passierten.

Sie lebten im Wohnzimmer wie zwei vergessene Gefangene; ihre Vorräte gingen zur Neige, aber es kam niemand mit dem Schlüssel, um sie zu befreien. Sie waren oft schläfrig und geschwächt vom Nahrungsmangel. Eleanor Queen machte die Couch zu ihrem Revier; dort las sie ihre Bücher und von dort aus behielt sie ihre Mutter im Auge. Manchmal saß Orla in dem hässlichen karierten Sessel. Manchmal lag sie ausgestreckt auf der Matratze. Sie schimpfte in Gedanken mit sich selbst – Lass dir etwas einfallen! –, aber dann versank sie in abwesendes Starren und Gedanken an die Vergangenheit. Zu oft wurde Tycho zu Otto, und sie sah sich selbst als kleines Mädchen, das mit einem kleinen Bruder spielte, der sprach und lief und aussah wie ihr Sohn. Aber er endete trotzdem als knochiges Bündel, zusammengerollt in einer Urne mit einem Rückgrat wie schlecht zusammengesetzte fischertechnik.

Unweigerlich musste sie dabei auch an Shaw denken. Und an Ziploc -Beutel mit gefrierbrandigem Fleisch aus der Truhe. Würde er so aussehen, wenn sie hinausgehen und die Plane hochheben würde? Und was war mit Tycho? Das Beste, was sie sich erhoffen konnte, war, dass er eingeschlafen und in den Tod geglitten war, während seine Finger und Zehen von der trügerischen Hitze der Unterkühlung verbrannt wurden.

Sie schloss die Augen und ballte die Fäuste, die unsichtbaren, einst glatten Sorgensteine waren nun gezackt; ihre Handflächen trugen die blutigen Halbmonde ihrer Fingernägel, die sie zu oft und zu fest hineingegraben hatte. Aber es war die einzige Bewältigungsmethode, die sie hatte, um nicht ständig vor Eleanor Queen in Tränen auszubrechen. Auch wenn ihre Tochter sowieso zu aufmerksam war, um nicht zu wissen, was vor sich ging.

Sie spürte es, als Eleanor Queen neben ihr auf der Armlehne des hässlich karierten Sessels hockte. »Mama.«

Orla warf ihr einen Blick zu. Dann drückte sie sich die Nase zu, als ob ihre Emotionen nur darauf warteten, von irgendwoher hinauszutropfen. Eleanor Queen zog die Hand ihrer Mutter weg und blickte auf die roten Hieroglyphen, die in ihre Handfläche eingeprägt waren.

»Wir können uns nicht ewig verstecken.«

Sie nickte, weil ihre Tochter so vernünftig klang. Sie wollte schreien, nicht wegen Eleanor Queen, sondern wegen der grausamen Hoffnungslosigkeit ihrer Situation. Das Ding da draußen war unvernünftig; das hatte Es bewiesen (und vielleicht verdiente Es doch kein geschlechtsspezifisches Pronomen). Manchmal wünschte Orla, sie könnte sich in einen endlosen Schlaf fallen lassen. Wer war sie gewesen, dass sie so viele Jahre lang angenommen hatte, der Himmel sei eine Fantasie, eine Fiktion? Warum konnte es kein Marshmallow-Wunderland geben, in dem sich eine Milliarde Seelen wiedervereinigten? Sie wollte es ausprobieren, das Sterben. Würde Tycho dort sein? Shaw? Otto? Könnte sie eine dieser Mütter sein, die erst ihre Kinder opferten und dann Selbstmord begingen?

Der Gedanke traf sie wie ein Schlag in den Nacken. Nein. Es gab noch andere Dinge, die sie versuchen konnten. Und so würden sich weder ihre Gemeinschaft anmutiger Kriegerinnen verhalten noch die Frauen, die sich einen Platz am Tisch – oder auf dem Boden – der Dinnerparty verdient hatten.

Orla hob Eleanor Queen auf ihren Schoß und schloss sie in ihre Arme. Sie fühlte Rippen und Knochen durch den schmutzigen Pyjama ihrer Tochter. Sie hatten sich zuletzt von ekelhaften Dingen ernährt. Von Suppen, eigentlich nur dünnen Brühen aus Wasser, getrocknetem Oregano und Knoblauchpulver. Von Salatdressing, das auf ein paar Bissen Reis verrührt wurde. Orla spürte es an ihrem eigenen Körper, wie ihre Muskeln von der Leere schwanden. Sie war stark gewesen, aber irgendwann würden ihren Energie zehrenden Organen die Dinge ausgehen, aus denen sie Kalorien abzapfen konnten. Ihnen lief die Zeit davon. Sie schimpfte mit sich selbst, dass sie sich diese zwei Tage Zeit genommen hatte, um Tycho zu trauern – oder waren es drei gewesen? Und konnte sie das wirklich trauern nennen? Es war ja nicht so, dass sie Schiwa gesessen hatte, wie ihre jüdischen Freunde es taten, oder irgendetwas Praktisches getan hätte, um den Toten zu ehren.

Nein. Sie hatte sich in einen Treibsand aus schleimigem, klebrigem Selbstmitleid und Untätigkeit fallen lassen. Ihre Lider waren so schwer; sie war sich nicht sicher, ob sie die Kraft hatte, sich aus ihrem Elend zu befreien. Vielleicht war es der Mangel an Nährstoffen. Alles war so wolkig, so nebulös und schwer zu verfolgen: die Zeit, ihre Gedanken, ihre Bewegungen.

Wach auf!

»Ist heute Heiligabend?«, fragte sie ihre Tochter.

»Ich glaube, schon.«

»Okay. Okay.« Sie war nicht sicher, was sie tun wollte, aber sie wollte etwas tun, um Weihnachten und die Zukunft ihrer Tochter zu retten. »Du solltest früh ins Bett gehen, damit der Weihnachtsmann kommen kann.«

Die Skepsis machte aus dem immer schmaler werdenden Gesicht von Eleanor Queen eine gealterte, zweifelnde Maske. Aber sie küsste ihre Mutter auf die Wange und willigte ein.