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Einen Moment lang war es wie ein gewöhnlicher Weihnachtsmorgen. Eleanor Queens Gesicht erhellte sich in dem Moment, als sie den Fuß der Treppe erreichte und das lange, flache Paket sah, das gegen den gedrungenen Ofen lehnte.

Jetzt saß sie im Schneidersitz vor ihrer Mutter, scheinbar ohne zu bemerken, dass Orla ihr das Haar flocht, und war von dem begehrten Geschenk begeistert. Orla und Shaw hatten viel dafür bezahlt und waren sicher gewesen, dass es Eleanor Queen nichts ausmachen würde, weniger Geschenke als ihr Bruder zu bekommen. Wäre es anders gekommen, hätte Shaw die letzten geheimen Geschenke geholt (zu deren Kauf sie nie gekommen waren): ein Paar Plastikschlitten, einen für jedes Kind. Sie hatten noch nicht ganz herausgefunden, wohin sie zum Schlittenfahren gehen sollten; Shaw schlug die Straße vor, aber das klang für Orla gefährlich (lange bevor sie etwas wirklich Lebensbedrohliches erlebt hatte). Orla hatte geplant, Tycho auf seinem Schlitten nebenher zu ziehen, während Eleanor Queen ihr besonderes Geschenk ausprobierte.

»Er ist wunderschön.« Eleanor Queen sah zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig glücklich aus. Ihre Hand folgte der Kurve des Bogens und hielt am Holzgriff inne. Während Orla den ersten Zopf fertigstellte und das Ende mit einem Gummi umwickelte, hielt Eleanor Queen den Bogen hoch und testete die Elastizität der Sehne. Während ihre Mutter den zweiten Zopf flocht, legte das Mädchen alle Glasfaserpfeile in ihren neuen Hüftköcher.

»Ich bin sicher, du wirst genauso gut sein wie Katniss«, sagte Orla in ihr Ohr. Eleanor Queen zwinkerte ihr ein Grinsen zu. »Du bist jetzt eine Kriegerin. Mit einer besonderen Mission.«

»Bin ich das?«

»Das bist du.« Orla hatte zunächst nicht realisiert, was für eine gewalttätige Geschichte Die Tribute von Panem war, und nachdem sie es selbst gelesen hatte, hatte sie Eleanor Queen nicht erlaubt, die Fortsetzungen zu lesen. Aber sie hatte nie etwas dagegen gehabt, dass ihre Tochter sich für ein knallhartes Mädchen interessierte, das seine Schwester rettete und gegen ein despotisches Regime kämpfte. Sie wollte, dass ihre schüchterne Tochter eine Art Rebellin war; Katniss war dafür kein schlechtes Vorbild. Und für das, was Orla vorhatte, musste ihre Tochter mutig sein.

Sie zogen sich beide warm an, und Orla bereitete ein erbärmliches Frühstück aus Ketchup, Mayonnaise und Senf zu.

»Ich habe mir gedacht, ich könnte ihm mein neues Buch geben – das ist etwas Besonderes für mich, also wäre es eine gute Opfergabe –, und dann könnte es vielleicht lesen lernen. Das wäre hilfreich, wenn es Nachrichten schreiben könnte!« Eleanor Queen verschlang ihre kleinen roten und cremefarbenen Klumpen. Sie hasste Senf, also aß Orla ihn und leckte auch den Löffel ab.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Orla und verschwieg, was in der Nacht zuvor in Shaws Atelier passiert war und was sie dort erfahren hatte.

»Ich bin jetzt ganz, ganz nahe dran, Mama, ich werde herausfinden, was es von uns will.« Sie drückte eine weitere Portion aus den Tuben ihrer bevorzugten Soßen heraus.

Orla war nun im Besitz dieses Wissens, und sie konnte ihrer Tochter nicht sagen, dass sie es bereits wusste. Das Wesen war als ihr geliebter Ehemann erschienen, um sie zu trösten, um sie dazu zu bringen, vertrauensvoller zu sein. Aber Orla wünschte sich das genaue Gegenteil von dem, was Sie wollte: Eleanor Queens Zukunft lag woanders, in der menschlichen Welt, wo sie aufwachsen und alles werden konnte, was sie wollte.

»Bean?« Das Mädchen leckte sich den Ketchup vom Finger. »Ich habe gestern Abend eine Entscheidung getroffen. Ich habe mir etwas einfallen lassen, das funktionieren wird. Und dazu braucht es uns beide; wir müssen beide etwas sehr Wichtiges tun.«

Eleanor Queen sah sie an, und zwar nicht mit der schwankenden Unsicherheit, die ihr einst eigen war, sondern mit echtem Interesse. »Was?«

»Es … Sie mag dich.« Ihre Tochter nickte zustimmend. »Sie wird dir nicht wehtun.«

»Nein … Ich glaube, nicht.« Das Strahlen ihrer Augen nahm für einen Moment ab, und Orla war sicher, dass sie sich an ihren Papa, ihren Bruder erinnerte. Das Ding da draußen hatte den Menschen um sie herum Schmerzen bereitet, aber nicht ihr selbst.

»Du wirst zur Straße gehen«, sagte Orla. Über Nacht waren einige Zentimeter Neuschnee gefallen, aber sie hatte bereits eines der kleineren Schneeschuhpaare an die Haustür gestellt. Zusammen mit dem Bogen und dem Köcher von Eleanor Queen. Shaws Führerschein und ihren Personalausweis hatte sie in die Tasche von Eleanor Queens Mantel gesteckt, damit sie jemandem zeigen konnte, wer ihre Eltern waren. Dazu eine nur teilweise mit Wasser gefüllte Flasche, damit sie beim Gehen nicht zu schwer tragen musste. Shaws aufgeladenes Handy (ihr eigenes war nach dem Sturz ins gefrorene Meer zu sehr mit Wasser vollgesogen, um jemals wieder zu funktionieren). Den letzten abgestandenen Müsliriegel, den sie in der Tasche eines leichteren Mantels gefunden hatte – einer der Snacks, die sie immer dabeihatte, wenn sie mit den Kindern unterwegs war.

Eleanor Queen blickte sie mit großen, neugierigen Augen an. »Werde ich?«

»Ja. Die Einfahrt runter. Dann biegst du rechts auf die Straße ab. Dann rechts auf die größere Straße, wenn du sie erreichst. Autos werden vorbeifahren. Steig nirgendwo ein. Winke jemanden heran und bitte ihn oder sie, den Notruf zu wählen.«

Das misstrauische Mädchen in Eleanor Queen kehrte zurück. »Was ist mit dir?«

»Wir können nicht beide gehen. Aber Sie wird dir nicht wehtun. Und ich werde die ganze Zeit am Baum sein und mit Ihr reden.« Sie würde ihr eigenes Leben anbieten. »Sie versteht mich immer besser. Ich lege meine Hände an den Baum und erzähle Ihr mehr von uns, von mir. Ich glaube, dieses Mal wird Sie verstehen, wie ich Ihr helfen werde. Und es wird Ihr nichts ausmachen, wenn du gehst. Du kannst Leute finden, die helfen …«

Orla hörte auf zu sprechen, als der Kloß der Tränen ihre Kehle verengte. Sie durfte ihre Tochter keine Traurigkeit sehen lassen. Sie durfte ihr nicht sagen – auch wenn sie es so gern sagen wollte –, dass ihre Lola und ihr Lolo sie großziehen und wunderbare Eltern sein würden. Orla glaubte nicht, dass das Opfer, das sie bringen wollte, etwas anderes als ein Todesurteil sein konnte, ganz gleich wie sehr das Wesen versucht hatte, sie zu beruhigen – in der Gestalt ihres Mannes und mit der Erinnerung an das menschliche Mädchen, das es einst gewesen war.

Sie erkannte das Zögern in der starren Haltung ihrer Tochter, den zurückgekehrten Schrecken in ihren aufgerissenen Augen. Eleanor Queen war noch nie alleingelassen worden oder irgendwohin allein gegangen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie zufrieden, solange sie ihre Familie im Nebenraum wusste. Aber was Orla von ihr verlangte, überstieg ihre Lebenserfahrung bei Weitem.

»Du wirst deinen Bogen zum Schutz dabeihaben.« Eleanor Queen folgte ihrer Mutter ins Wohnzimmer. »Siehst du? Alles, was du brauchst. Wir gehen zur gleichen Zeit los, und du solltest etwa zur gleichen Zeit am Ende der Einfahrt sein wie ich am Baum. Du wirst nicht lange allein sein.« Auch wenn Orla nicht sicher war, ob das stimmte. Wie viel Verkehr würde wohl auf einer Straße im Norden am Weihnachtsmorgen herrschen? »Ich habe Papas Telefon in deinen Mantel gesteckt, und wenn du damit keinen Empfang hast oder niemand vorbeikommt, gehst du einfach weiter, bis du St. Armand erreichst. Dort werden viele Leute sein. Alles klar?«

Orla musste dafür sorgen, dass ihre Tochter an den Plan glaubte, dass sie darauf vertraute, dass ihre Mutter ohne Übersetzerin dem Wesen im Baum helfen konnte. Sie wollte nicht, dass Eleanor Queen umkehrte und Zeuge der letzten Momente im Leben ihrer Mutter wurde. Und Eleanor Queen musste ihre eigene Aufgabe erfüllen und die Last tragen, allein auf unbekannten Wegen zu gehen. Sie beobachtete, wie sich das Szenario auf dem Gesicht des Mädchens abspielte.

Schließlich nickte Eleanor Queen. »Okay. Aber du musst ihr helfen, sie zählt auf uns.«

»Das werde ich.«

»Und wenn ich Leute finde, kommen wir zurück und holen dich.«

»Natürlich werdet ihr das.« Es würde ihrem Kind das Herz brechen, aber es würde überleben. »Dieses Mal wirst du entkommen, Eleanor Queen. Sie wird dir nicht wehtun, und ich werde Ihr geben … was Sie braucht.«

»Ich wünschte, wir könnten zusammen gehen.«

»Ich weiß.«

Sie zogen sich ihre warmen Sachen an und traten auf die Veranda hinaus. Eleanor Queen richtete ihren Blick auf die schneebedeckte Einfahrt.

»Du schaffst das, es ist ein sicherer Weg«, sagte Orla. »Ich denke, jeder hier wird freundlich sein: ein Mädchen, das allein ist. Weihnachten. Und du bittest sie, den Notruf zu wählen.«

»Ich habe meinen Bogen.« In den Schneeschuhen und mit dem Bogen, den sie quer über dem Körper trug, sah ihre Tochter ganz wie eine Kriegerin aus, eine Überlebende der Arktis.

»Genau wie Katniss. Ich bleibe bei dem Baum, bis die Polizei mich holt. Du sagst ihnen, wo ich bin.«

Orla war nicht sicher, ob die Polizei sie jemals finden würde oder ob sie wie ihr kleiner Junge auf unerklärliche Weise vom Erdboden verschwinden würde. Aber das war ihr egal. Solange Eleanor Queen lebte und davonkam. Ihr Schicksal erfüllte. Sie wollte nicht, dass ihre Tochter sie weinen sah, wollte nicht, dass sie auch nur eine Sekunde lang dachte, dass dies ein letzter Abschied war.

Es kostete Orla einen Großteil ihrer Selbstdisziplin, sich nicht umzudrehen und ihr beim Weggehen zuzusehen, sie vor dem weißen Hintergrund kleiner werden zu sehen. Aber das Mädchen hatte seine eigene Rolle zu spielen, und Orla zwang sich wegzugehen. Sie hoffte, dass Eleanor Queen nicht stehen blieb und zurückblickte, in der Erwartung, dass sie winkte oder ein paar letzte aufmunternde Worte sprach. Sie mussten in entgegengesetzte Richtungen gehen.

Eine in Richtung Leben.

Eine auf etwas Unbegreifliches zu.