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Orla stapfte den Pfad entlang, den sie durch die Bäume getrampelt hatten. Sie kannte den Weg inzwischen, auch wenn der Neuschnee ihre Abdrücke verdeckt hatte. Ihre einst muskulösen Beine brauchten mehr Eiweiß; ihr Körper war am Verwelken. Ihr Herz pochte, fühlte sich groß und gekrümmt an. Es war zerschnitten worden, mit sauberen Linien, die an den Ecken angeheftet waren: ein schwarzer, eingesunkener Quadrant für Tycho, einer für Shaw. Der untere linke Quadrant trug eine ältere Wunde, trocken und verschrumpelt, vom Verlust Ottos. Der letzte Quadrant pumpte blubberndes Rot, während Eleanor Queen noch atmete. Wenn Orla ihre Tochter verlieren würde, gäbe es keinen Grund für ihr Herz, weiter Blut durch ihren Körper zirkulieren zu lassen. (Wie sehr hoffte sie, dass ihre Eltern nicht ähnliche Gedanken hegten, aber darüber konnte sie sich keine Gedanken machen.)

Ich werde Ihr mich geben.

Sie betete, dass das seltsame, mächtige Gespenst ihre letzte Gabe annehmen und ihre Tochter in Ruhe lassen möge.

Es war erst ein paar Tage her, dass sie die Papierkette um den Baum gehängt hatten. Ihr Anblick machte sie wehmütig. Tychos Fingerabdrücke waren im Klebstoff erhalten.

»Ich bin hier«, verkündete sie. »Ich bin hier, und ich bin bereit.« Ihr Körper war nicht mehr so stark wie früher, aber sie war sehr stolz auf das Gefäß, das sie sein konnte. Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sie körperlich hart gearbeitet. Sie hatte kaum mehr die Kraft oder Ausdauer dafür, aber es war der beste Weg, dem Wesen zu zeigen, wer sie war – dass sie würdig war, zäh, ein geeigneter Ersatz für den prächtigen Baum: Orla tanzte.

Es war an der Zeit. Das Wesen wusste über ihre Tochter Bescheid; jetzt musste Sie Orla annehmbar finden. Die Zehenspitzen in den Stiefeln zur Pointe gespreizt, fegte sie um den Baum herum, ein Winterwalzer mit ungeschickten Drehungen, die Arme fließend und übertrieben. Auf der Papierkette hatten sich Schneeklumpen angesammelt, und sie hob und senkte die Kette als Teil ihres Tanzes, um den Schnee freizugeben.

Manchmal strich sie mit einer unbehandschuhten Hand über die Rinde, um die Verbindung zwischen sich und dem fremdartigen Wesen im Baum zu stärken. Das Wort Hybrid kam ihr plötzlich in den Sinn; wie der verschmolzene Fuchs-Hase, den sie im Schnee gesehen hatte, hatte ein Mädchen aus dem 19. Jahrhundert ihre Seele mit einem unwahrscheinlichen, aber empfindungsfähigen Verbündeten verschmolzen. Würde Orla zu all ihnen werden, wenn der Geist ihren Körper übernahm?

Ihre Gedanken wurden zu Bildern. Orla zeigte Ihr die schwierigste Choreografie, die sie je gemeistert hatte, und die Leidenschaft, die sie mit Shaw geteilt hatte. Sie zeigte Ihr, wie sie sich geliebt hatten, erst zärtlich, dann heftig, und wie sie ihre Tochter, ihren Sohn herausgepresst hatte. Ich erschuf Leben. Wie sie sie an ihrer Brust stillte. Das überirdische Strahlen, das sie in ihren fragenden Kinderaugen sah. Wie sie durch sie wuchsen und gediehen.

Sie tanzte immer wieder um den Baum herum. Die Bewegungen kamen von innen. Sie beschleunigten und verlangsamten sich. Und einmal beugte sie sich vor, bis ihre Brust parallel zum Boden war, und hob ihr rechtes Bein hinter sich an, durch die Arabeske hindurch und in ein Penché hinein, bis ihre Zehe in den Himmel zeigte. Sie hielt das Bein dort, bis ihre Muskeln zu zittern begannen, weil sie mit ihrer Flexibilität, ihrer Kraft beeindrucken wollte. Ihrer Lebenskraft. Die ganze Zeit über spielte sie Filme in ihrem Kopf ab: Tychos wackelige erste Schritte. Die Entwicklung seines melodischen Geplappers zu richtigen Liedern. Orla wünschte, sie könnte Ihr zeigen, wie es sich anfühlte, ihn in ihre Arme zu schließen, während er kicherte oder in den Schlaf sank.

Die Luft um sie herum roch nach Weihnachtsmorgen. Nach einer Balsamtanne in einem geschlossenen Raum. Nach frisch gebrühtem Kaffee. Pfefferminz-Zuckerstangen, die von roten Zungen abgeleckt wurden. Schokoladenbonbons, die von kleinen Zähnen gekaut wurden. Der Duft neuer Artikel, wenn sie aus ihren Schachteln befreit wurden. Diese imaginären Gerüche verbargen die Wahrheit: ein wilder Wald, unerbittlicher Schnee, ihr leeres Haus. Aus der Ferne ein bleibender Hauch von Holzrauch, und Orla wünschte den anderen Familien in der abgelegenen Umgebung ein besseres Weihnachtsfest als ihr eigenes. Vielleicht würde einer von ihnen über ihre Tochter stolpern, und sie würde endlich wieder Kontakt zur Außenwelt aufnehmen können.

Sie drückte ihre Hände fest gegen den Baum, so fest, dass die kantige Rinde ihre zarten Handflächen zerschrammte.

»Aber selbst nach allem, was du mir genommen hast … werde ich dir mich geben. Du brauchst ein Zuhause? Du brauchst eine Freiwillige? Nun, nimm meinen Körper. Tu damit, was du musst.«

Sie erwartete einen Blitz, ein inneres Aufblitzen, das das Bewusstsein des Geistes anzeigte. Oder eine Vibration. Ein kleines Erdbeben. Oder kleine schwebende Flammen in den Ästen über ihr. Doch da war nichts. Und ohne Eleanor Queen hatte sie niemanden, den sie fragen konnte, ob das Wesen sie überhaupt wahrgenommen hatte. Ihre Bewegungen, ihre Bilder – war Orla auf irgendeiner Ebene zu Ihr durchgedrungen?

»Ich bin hier! Ich will dir helfen! Du kannst … die Kleine nicht haben, sie ist zu jung, um ein solches Versprechen aus freien Stücken zu geben. Aber du kannst mich haben, ich verstehe das Opfer, das ich bringe. Ich akzeptiere es. Ich bitte dich.«

Nicht einmal ein Windstoß. Der Baum – und was auch immer in ihm wohnte – schien tot zu sein oder zumindest nicht zu reagieren. Seine Rinde war blasser als die der Bäume um ihn herum. Als sie nach oben blickte, befürchtete sie zum ersten Mal, dass ihr bei zu viel Wind die leblosen Äste, von denen jeder so groß war wie einer der benachbarten Bäume, auf den Kopf fallen würden.

»Hallo? Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich nicht zuhöre, und dann mein Angebot ignorieren. Das ist es doch, was du wolltest. Du brauchst einen Menschen. Ich bin die Einzige, die das versteht und bereit ist.«

Ein Windhauch strich durch die Bäume wie ein Flüstern. Sie sah hin, unsicher, was sie erwarten sollte, doch dann wurde es wieder still. War es möglich, dass die letzten lebenden Zellen des Nadelbaums in der Nacht gestorben waren? Oder hatte Sie sich selbst übernommen, indem Sie als Shaw zu ihr gekommen war? Wenn der Baum starb, bevor der Geist des Mädchens weiterzog … könnte Sie jetzt in ihrem ehemaligen Wirt begraben sein? Safe as houses?

Könnte Orla ihre Tochter suchen und sie zurück in die Zivilisation bringen?

Sie empfand keine Traurigkeit, wenn das Wesen gestorben war. Aber das Ausbleiben einer Reaktion begann sie zu verärgern. Sie trat gegen den Baum, kickte die dicke, aber überraschend brüchige Rinde weg.

»Wach auf! Du kannst nicht meine Familie terrorisieren, weil du Hilfe willst, und sie dann ablehnen, wenn sie dir angeboten wird! Wach verdammt noch mal auf!«

Ein Geräusch wie ein Horn schreckte sie auf, ein tiefer, hohler Ton. Zuerst hielt sie es für die Antwort, die sie verlangt hatte, doch dann erkannte sie, dass es aus der Ferne kam. Es war ein eindringliches Blöken, wie von einem tibetischen Langhorn. Doch je näher es kam, desto animalischer klang es. Dahinter hörte sie ein Schnaufen und Grunzen. Und als es noch näher kam, hörte sie das Knirschen von zertrampeltem Schnee und brechenden Ästen.

Sie drückte sich mit dem Rücken an den Baum, die Augen weit aufgerissen und wachsam auf das erste Anzeichen der Kreatur wartend, die sich auf sie zubewegte. Während sie durch die Äste nach oben geblickt hatte, hatte sich hinter ihr ein Nebel ausgebreitet, der die Sicht verdeckte und ihre Angst noch verstärkte, als die seltsamen Geräusche im Zwielicht widerhallten. Als das Rufen lauter wurde, zog sie ihre Handschuhe an und ballte die Fäuste. Bereit zum Kampf.

Am Horizont bewegte sich eine Masse von Bestien. In der trüben Nebelluft konnte sie zunächst nicht erkennen, um was es sich handelte, nur dass sie groß waren und dass es viele waren, die sich durch die Bäume auf sie zubewegten. Das tiefe Rufen ertönte erneut, diesmal ganz nahe. Lauter.

Orla kniff die Augen zusammen, als könnte sie die Tiere dann klarer erkennen. Sie war auf ihr Ende vorbereitet, aber sie mochte es nicht, nicht zu wissen, ob sie gleich verschlungen, zertrampelt oder auf irgendeine Weise von diesem traurig tönenden Ruf getötet werden würde. Sie sah zuerst die Geweihe, massiv und breit, die durch den Nebel ragten. Die Tiere bewegten sich in einem gleichmäßigen, bedächtigen Tempo, aber als sie sie erkannte – Elche, Dutzende von ihnen, alles schneeweiße Albinos –, zweifelte sie nicht an ihrer Absicht, sie gegen den Baum zu drücken und zu durchbohren.

Sie hätte weglaufen, sich umdrehen und tiefer als je zuvor in den Wald rennen können. Vielleicht würden sie ihr folgen, grunzend und mordlustig, oder vielleicht würde sie einfach vor Erschöpfung zusammenbrechen und irgendwo im Schnee sterben. Aber sie hatte ihrer Tochter gesagt, sie solle der Polizei sagen, dass sie bei dem Baum sein würde, und dort wollte Orla auch bleiben. Sollen diese Biester sie doch umbringen – sie hatte sich schließlich angeboten.

So etwas wie Freude kribbelte auf ihrer Haut. In Shaws Gestalt hatte Sie praktisch zugegeben, dass Sie nicht zwei Dinge gleichzeitig tun konnte: Wenn diese Kreaturen hier waren, dann war Eleanor Queen woanders, auf dem Weg fort von hier.

Die Elche verteilten sich und umringten sie. Sie wusste jetzt, dass die weißen Tiere nicht wirklich da waren, sondern durch die mächtige Magie des Geistes heraufbeschworen wurden. Aber genau wie Shaw sahen sie echt aus, klangen echt. Die Herde mit den langen Beinen und knubbligen Knien, schweren Geweihen und zotteligen Fellen kam ein paar Meter von Orla entfernt zum Stehen. Das Blöken verstummte, obwohl ein Teil der Herde immer noch grunzte und schnaubte.

Sie atmeten dichte Schwaden aus, und Orla fragte sich, ob das die Quelle des Nebels war. Vielleicht war Sie in ihren Lungen. Vielleicht hatte Sie ihr Opfer angenommen, und Orlas Verwandlung, ihre Reise, hatte begonnen. Doch dann bewegte sich ein letzter Elch durch die Trübnis, ein mächtiges Tier, und kam auf sie zu.

Orlas Freude warf Blasen, platzte, verfaulte schwarz, und ihre Beine gaben nach. Sie sank zu Boden, die Rinde riss den Stoff ihrer Jacke auf. Sie war hypnotisiert von dem, was sie sah, was sie nicht sehen wollte. Vom Boden sah sie die Tiere über sich aufragen.

»Nein!«