40
O rla blinzelte einmal heftig, dann noch einmal, wünschte sich mit aller Kraft, dass es sich um einen weiteren Teil der Illusion handelte. Wenn doch nur der Elchkönig als ihr Henker aufgetaucht wäre, als derjenige, der sie aufspießen sollte. Aber da saß ihre Tochter rittlings auf seinem muskulösen Rücken, den Bogen in der Hand, ein Lächeln auf dem Gesicht.
»Eleanor Queen …«
Ihre Tochter hielt sich an einem Fellbüschel hinter dem Kopf des Elchs fest. Sie sah so klein auf dem Tier aus wie eine Figur aus einem ihrer Lieblingsbücher, die auf einem Eisbären ritt. Die Herde wirkte recht friedlich, ganz im Gegensatz zu dem, was Orla über rasende Elche gehört hatte. Ein einziger Elch konnte einen Menschen zu Tode trampeln, hatte eine befreundete Tänzerin gesagt, die in Alaska aufgewachsen war. Aber das war im richtigen Leben, und sie waren nicht mehr in der richtigen Welt. Kleine Mädchen ritten auf riesigen Elchen – zahm und freundlich wie das Plüschtier, das Tycho so sehr geliebt hatte.
»Sie hat dich nicht gehen lassen …« Schnee sickerte durch ihre Hose, aber sie konnte nicht aufstehen.
»Ist schon gut, Mama.«
Orla schüttelte den Kopf.
»Sie sind sehr sanft.«
»Aber sie haben dich nicht gehen lassen.«
Der Elchkönig beugte sein Knie und senkte sich königlich hinab, damit Eleanor Queen von seinem Rücken rutschen konnte. Er blieb unten und verwandelte sich in einen unförmigen Eisklumpen, bevor er mit dem Boden verschmolz.
Als Eleanor Queen sich ihrer Mutter näherte, drehte sich der Rest der Herde im Gleichschritt um und löste sich im Nebel auf. Orla stieß ein bösartiges Lachen aus. »Du hättest einen von ihnen schießen sollen, als sie noch eine Gestalt hatten. Wenn wir hier nicht rauskommen, brauchen wir etwas zu essen.« Aber verirrte Wanderer und gestrandete Bergsteiger starben daran, dass sie Schnee aßen; er senkte ihre Körpertemperatur. Nein, Schneetiere, auch wenn sie wie echte Tiere aussahen, konnten sie nicht ernähren. Das war es, was der Hunger, das Delirium mit ihr machte. Jetzt habe ich den Verstand verloren .
Eleanor Queen ließ sich neben ihrer Mutter auf die Knie fallen – ihre Zöpfe, ihr Bogen und ihr Köcher mit Pfeilen, ihr Lächeln. Orla konnte nichts dafür; sie zuckte vor der Hand zurück, die sich nach ihr ausstreckte, nur für eine Sekunde, weil sie überzeugt war, dass ihre Tochter jemand anderes geworden war.
»Nein, es ist gut, Mama. Ich habe etwas gelernt, etwas sehr Wichtiges!«
»Hast du?« Orla klang erschöpft, halb tot. Das Versagen lastete auf ihr. Der Geist wollte Orla nicht, nicht einmal um mit ihr zu reden; sie hatte keinen Ausweg mehr. Und sie wusste bereits, was ihre Tochter sagen würde. »Sie will dich .«
Eleanor Queen lachte. »Wir sind es verkehrt herum angegangen!«
Orla erhob sich hastig von der Stelle, an der sie zu Boden gesackt war, mit einem Mal besessen von einer neuen Entschlossenheit. »Nein! Auf gar keinen Fall!«
»Mama …«
»Komm schon, wir gehen nach Hause.« Sie packte den Mantel von Eleanor Queen, und als das Mädchen sich wehrte, zog Orla sie vom Baum weg.
»Mama, du verstehst es nicht!«
»Nein, du verstehst es nicht!«
»Sie will mich nicht verletzen, sie fühlt sich mit mir verbunden, so wie ich mich mit ihr verbunden fühle. Ich verstehe das jetzt. Und deshalb will sie, dass wir zusammenleben …«
»Leben? Als was? «, schrie Orla ihr ins Gesicht, und es war ihr egal, dass Eleanor Queen vor ihr zurückwich. »Du verstehst nicht, was Sie von dir fordert …«
»Ich weiß mehr als du! Sie war einmal ein Mädchen, aber jetzt …«
»Was auch immer Sie einmal war, Sie ist nicht mehr dieses Mädchen. Sieh dir Ihre Macht an. Du kannst Ihr nicht … Wenn Sie in dir wäre, wo wärst du dann?«
»Sie wird mir nicht wehtun! Und Mama …«
»Sie wird dich ersetzen! «
Eleanor Queen blickte sie zornig mit ihren zu klugen, zu alten Augen an. Der Hunger, der sich in ihrem Gesicht eingenistet hatte und ihre Wangenknochen in Falten legte, ließ sie noch älter aussehen. »Du irrst dich, Mama. Sie hat den Baum nicht ersetzt. Der Baum hat die ganze Zeit über gelebt und es ging ihm gut. Vielleicht ist das der Grund, warum der Baum so lange gelebt hat. Du hörst immer noch nicht zu.« Geringschätzung und Mitleid troffen von ihren Worten.
Orla ergriff den Arm ihrer Tochter und marschierte weiter zurück zum Haus. Gewalttätige Gedanken jagten durch ihren Kopf, aber keiner davon war gegen ihre Tochter gerichtet. Nimm die Axt. Fäll den Baum. Das Ding hatte lange genug gelebt. Sie hatte keine weitere Chance verdient. »Alte Dinge sterben, Eleanor Queen. Das ist der Lauf der Dinge.«
»Aber dann können wir fortgehen. Ich versuche, dich zu retten, Mama!« Sie befreite sich aus dem Griff ihrer Mutter. »Dich und Tycho.«
Orla blieb stehen. Sie sah ihre Tochter mit einem Blick an, in dem sich Schrecken und Abscheu mischten. War es schon zu spät? Hatte die Kreatur bereits den Verstand ihrer Tochter verdorben, sie zu einer Betrügerin und Lügnerin gemacht, um zu bekommen, was Sie wollte?
»Tycho ist tot, das weißt du …«
»Nein, Tycho ist weg . Aber ich glaube, wir können – ich kann ihn zurückholen.«
»Wie?«
»Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Aber es ist Teil des … Wenn sie mich zu ihrem neuen Zuhause macht, dann …«
Als wollte Sie noch einmal zeigen, wie weit Sie von etwas Menschlichem entfernt war: Glaubte Sie wirklich, Orla würde ein Kind gegen das andere eintauschen? Sie legte ihre Hände auf die schmalen Schultern ihrer Tochter, ihr Zorn war verflogen. Sie konnte Eleanor Queen nicht vorwerfen, dass sie ihren Bruder retten wollte.
»Du bist Ihr nichts schuldig. Du schuldest mir nichts und auch Tycho nicht. Ich wusste … Ich habe mich Ihr angeboten. Das war ein fairer Kompromiss. Ich bin erwachsen, ich kann diese Entscheidung treffen. Was Sie von dir verlangt, kann eine Neunjährige nicht entscheiden. Ich habe Ihr das erklärt, aber Sie hat nicht zugehört. Man darf Ihr nicht trauen. Als Sie ein Mädchen war, praktizierte Sie Hexerei oder glaubte an etwas … Gefährliches. Deshalb ist das passiert. Sie hat Ihre Seele in einen verdammten Baum übertragen!« Orla nahm die Hand ihrer Tochter und setzte den Weg nach Hause fort. »Wir sind jetzt hier fertig, wir warten, bis es vorbei ist. Der Baum wird sterben, oder Sie kann sich einen anderen verdammten Baum aussuchen. Oder einen Fuchs oder ein Kaninchen – das ist nicht unser verdammtes Problem. Wir hätten nicht herkommen sollen, aber ich hole dich hier raus, nicht umgekehrt.«
»Ich wollte nur helfen«, sagte ihre Tochter mit leiser Stimme.
»Natürlich wolltest du das, denn du bist ein mutiges, kluges und starkes Mädchen. Vertrau mir, nicht Ihr. Was auch immer aus Ihr geworden ist, Sie ist nicht deine Freundin.«
Eleanor Queen betrachtete sie mit einem scharfsinnigen, abschätzenden Blick. Einem leicht misstrauischen Blick. Orla wünschte verzweifelt, sie könnte die Gedanken ihrer Tochter lesen, die Gedanken, die sie für sich behielt.
Den Rest des Heimweges legten sie schweigend zurück. Manchmal schüttelte Orla den Kopf. Es hätte zu Ende sein können. Die Kreatur war zu hartnäckig für Ihr eigenes Wohl. Oder vielleicht … Sie verdrängte den Gedanken. Wollte sich nicht daran erinnern, wie Eleanor Queen im Hof gestanden hatte, von Anfang an empfänglich für etwas, das die anderen nicht sehen konnten. Vielleicht war es Eleanor Queen, die Sie die ganze Zeit gewollt hatte. Die Vertrautheit eines Mädchens . Vielleicht hatte Shaw etwas geahnt, das er nicht verstehen wollte. Aber ihre Tochter war immer die Empfänglichere gewesen. Ein Feuerwerk an Unmöglichkeiten explodierte in ihrem Kopf. Dinge, die sie bereute. Als Shaw aufzutreten war der ultimative Versuch gewesen, sie zu beeinflussen. Nein, sich als Tycho auszugeben wäre noch schlimmer gewesen. Aber sie würde sich nicht täuschen lassen; man konnte Ihr nicht trauen. Und dennoch …
Welche besondere Verbindung, welche Magie besaß Eleanor Queen von Natur aus?
Vielleicht hat sich deshalb alles mit dem Umzug ergeben; vielleicht haben wir ein vorherbestimmtes Schicksal erfüllt und meine Tochter gehört …
Nein.
Denn sie erinnerte sich auch an die Angst ihrer Tochter. Diese klagende Frage, als sie auf die eingeschneiten, blinden Fenster gestarrt hatte: »Werden wir sterben?«
Eleanor Queen wollte das nicht. Sie hatte es nie gewollt. Sie wollte ein Haus in einer Wohnstraße und Kinder, mit denen sie spielen konnte. Ein normales Leben. Sie wollte so leise ein Musikinstrument üben, dass niemand sie verurteilen konnte.
Darauf zu warten, dass ein Baum starb, war nicht gerade die aktivste Maßnahme, die sie ergreifen konnte, aber ihre Tochter am Leben zu erhalten war ihre wichtigste Aufgabe. Sie vor dem Verhungern zu bewahren. Sie davon abzuhalten, noch mehr von sich herzugeben.
Orla wünschte sich, sie könnte allein fliehen und Hilfe holen. Aber wenn sie Eleanor Queen allein ließ oder ihr auch nur den Rücken zukehrte, würde das Mädchen in den Wald laufen und sich dem Wesen anbieten. Und dann würde das letzte Stückchen von Orlas Herz verdorren; die Moreau-Bennetts wären weg.
Die Familie von Shaws Bruder würde in ein paar Tagen zu Hause sein. Die Unfähigkeit sie zu erreichen würde vielleicht nicht sofort Anlass zur Sorge geben, aber sie würden kommen. In einer Woche, in zwei Wochen. Sie musste nur dafür sorgen, dass Eleanor Queen bis dahin in Sicherheit war – und am Leben blieb.