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Eleanor Queen stapfte ins Haus, ohne sich die Mühe zu machen, den Schnee von ihren Stiefeln zu treten. Sie warf die Schneeschuhe neben die Tür, lehnte ihren Bogen gegen die Wand und warf sich in den hässlichen karierten Sessel. Orla schloss die Tür hinter ihnen. Und verriegelte sie.

»Warum schließt du sie ab?«, fragte Eleanor Queen.

Orla zuckte die Achseln. Abzuschließen war eine nutzlose Verteidigung, aber der Drang, Sie fernzuhalten, war stark. »Sei nicht böse.«

»Ich bin nicht böse.« Eleanor Queen zog ihren Pullover aus und warf ihn auf den Boden. »Ich könnte etwas tun, und du willst nicht, dass ich es tue.«

Orla wünschte sich, ihre Matratze läge an ihrem richtigen Platz, auf ihren Boxspringbe tten oben in ihrem Zimmer. Am liebsten wäre sie die Treppe hinaufgekrochen, hätte sich ins Bett gelegt, die Decke über den Kopf gezogen und wäre erst dann aufgewacht, wenn sie sicher war, dass der Baum – und das verfluchte Ding darin – tot war. Aber von dort aus konnte sie ihre Tochter nicht im Auge behalten. »Wie lautet das Sprichwort? ›Ich schlafe, wenn ich tot bin‹?«

»Du redest Unsinn.« Orla sah die falsche Tapferkeit in der Verzweiflung ihrer Tochter; Eleanor Queen war den Tränen nahe. Sie setzte sich auf die Armlehne des karierten Sessels und zog das Mädchen an sich. »Du erdrückst mich.« Sie schob Orlas bedürftige Arme weg.

»Ich versuche, dich zu beschützen.«

»Es ist zu spät, warum kannst du mich nicht einfach …«

»Es ist noch nicht zu spät. Sie stirbt zusammen mit dem Baum. Wenn der Baum tot ist, wird der Geist in ihm keine Bedrohung mehr für uns sein. Aber in der Zwischenzeit, bevor wir zu schwach dazu sind, müssen wir uns im Jagen versuchen.«

Eleanor Queen warf ihr einen vorsichtigen Blick zu. »Wie … Du meinst ein Tier töten?«

»Wir können nicht warten, bis es buchstäblich nichts mehr zu essen gibt. Und es gibt jetzt schon fast nichts mehr.«

Etwas Kompliziertes ließ die Muskeln im Gesicht ihrer Tochter zucken. »Wir müssen nicht alle sterben.« Die wehmütigen Worte kaum ein Flüstern.

»Ganz genau.« Die Wahrheit war, dass Orla sich nicht als Jägerin sah, die ein Tier häutet, während sein warmes Fleisch in der kalten Luft dampft. Sie sah sich auch nicht als Überlebenskünstlerin, die lernte, sich in den komplizierten Wäldern, die ihr Haus umgaben, zurechtzufinden. Sie hatten Wasser, Strom und Wärme. Und wenn sie sie beide mit Essen versorgen konnte …

»Manchmal …«, sagte Orla. »Ich habe vor langer Zeit etwas darüber gelesen, dass beim Sterben die elektrischen Impulse in den Nerven und im Gehirn verrücktspielen, und vielleicht ist das der Grund, warum manche Menschen, die kurz tot waren, zurückkommen und berichten, dass sie einen Lichttunnel oder Visionen aus ihrem Leben sehen. Ich weiß, dass du dich mit dem Geist, dem Mädchen, verbunden fühlst, aber das Sterben ist ein natürlicher Prozess.« Es sei denn, es wurde durch eine Waffe verursacht. »Ich glaube, was wir hier sehen, sind Ihre … Nervenbahnen. Die verrücktspielen. Wir haben versucht, Ihr zu helfen. Das haben wir wirklich. Aber ich denke, wir müssen Sie gehen lassen. Und wir müssen möglichst gesund und bei Kräften bleiben, während wir warten. Bist du damit einverstanden?«

»Mama, ich will nichts töten. Ich will kein Tier erschießen, und ich will nicht, dass der Geist … Es ist ein Leben, Mama. Ich glaube ihr – wir haben ihr Bild gesehen. Sie war ein Mädchen, das aus der Stadt hierherkam, wie ich. Wir haben eine Verbindung, und es ist einfacher für sie mit mir als mit Papa. Sie wollte nichts Böses tun – du hast doch selbst gesagt, es gab kein Heilmittel für Tuberkulose. Was hätte sie denn tun sollen?«

Natürlich konnte Orla es einer verängstigten jungen Frau nicht verübeln, dass sie leben wollte, aber was jetzt geschah, war nicht natürlich. Ein Mädchen verwandelte sich nicht einfach in ein übernatürliches Element, das in einem Baum lebte. Sie würde nicht zugeben, Mitleid mit dem Lebenslauf des Mädchens zu haben; es könnte Eleanor Queen noch mehr Gründe geben, Mitleid mit ihr zu haben.

»Sie ist seit mehr als 100 Jahren kein Mädchen mehr. Sie weiß über … Dinge Bescheid, weit über …«

Aber Eleanor Queen ignorierte sie mit einem verzückten Gesichtsausdruck. »Es ist so krass, wenn ich sie in mir spüre, weil ich jetzt alles besser verstehe. Sie ist nicht böse. Sie ist ein wunderbares Geschöpf. Sie ist …« Sie suchte nach einem Wort und hatte Mühe, es zu finden. »Vielleicht … so wie damals, als wir in der Schule die griechischen Götter durchnahmen.«

»Sie ist keine …« Aber Orlas Leugnung blieb ihr im Hals stecken. Vielleicht war Sie eine. Aber das machte nichts von dem, was hier geschah, besser. Mit der Macht kam der Egoismus. »Wir haben versucht, Ihr Lebewohl zu sagen und Ihr zu helfen hinüberzugehen. Ich habe Ihr ein neues Zuhause angeboten, Bean. Sie sagte, das wolle Sie.«

»Ich weiß. Und ich weiß, dass du ihr das mit Tycho und Papa nie verzeihen wirst. Aber … es macht mich traurig. Ich kann sie hören, ich kann sie fühlen. Es ist, als ob auch in mir etwas stirbt, wenn sie versucht, mir ihr Leid verständlich zu machen.«

Orla spielte mit dem Haar ihrer Tochter, das am Ende der Zöpfe wie seidige Pinsel war. Das eingesperrte Tier in ihr wollte ihr letztes Baby auf den Rücken schnallen und so schnell wie möglich weglaufen. Eleanor Queen hatte recht; sie würde Ihr das mit Tycho und Shaw nie verzeihen, aber sie hegte auch einen unbändigen Groll gegen das Gefangensein. Manchmal war das Gefühl so stark, dass Orla nach Luft schnappte. Sie versuchte, sich mit ihrem Gefängnis abzufinden, aber er zerrte immer an ihr, der dringende Wunsch wegzukommen.

»Ich weiß, dass du helfen willst, aber Sie nutzt deine Güte aus. Ich hasse es, dass Sie dir Schmerz bereitet, aber Sie muss dich loslassen und du musst Sie loslassen. Du musst es versuchen. Baue eine Mauer in deinem Geist, deinem Herzen, wenn du spürst, dass Sie versucht, in dich einzudringen. So hilfst du Ihr hinüberzugehen und stellst sicher, dass Sie weiß, dass du nicht die Antwort bist. Schaffst du das?«

»Ich weiß es nicht.« Eleanor Queen ließ sich gegen die Armlehne sinken.

»Wenn Sie versucht hereinzukommen, sagst du es mir. Und ich erkläre dir, wie man eine Mauer baut, die Tür verschließt. Sie abschließt. Die Symbolik ist wichtig. Ich denke, Sie wird dich verstehen.«

Eleanor Queen nickte, wirkte aber nicht sehr zuversichtlich. Orla befürchtete, dass das Mädchen sich bereits zu sehr geöffnet hatte, dass eine Ranke des Bewusstseins des Wesens bereits in ihr war, sich ausbreitete und sich mit der Seele ihrer Tochter verband.

»Und wenn das nicht klappt, dann … schlage ich auf die Töpfe und Pfannen, mache Lärm und springe herum.« Orla führte einen verrückten Tanz auf, hüpfte umher, fuchtelte mit den Armen und stieß wahllose Rufe und Kampfschreie aus. Eleanor Queen kicherte. »So kann sich niemand konzentrieren. Oder?«

»Ich glaube, nicht.«

»Machen wir uns bereit, bevor es zu dunkel wird.«

Orla streckte ihre Hand aus, und Eleanor Queen wälzte sich vom Stuhl.

In ihrem früheren Leben wäre sie nie auf die Idee gekommen, eines ihrer sensiblen Kinder auf die Jagd mitzuschleppen. Die beiden – in ihrem Herzen war sie immer noch die Mutter von zwei Kindern – hätten sich die Hände vor die entsetzten Gesichter gehalten, wenn das erste Blut in den Schnee tropfte. Aber selbst wenn Eleanor Queen sich nicht mit dem Wesen verbunden gefühlt hätte, hätte Orla sie auf keinen Fall zurückgelassen, nicht nachdem Shaw in Tiergestalt erschienen war. Und nicht seit die Kreatur ihre Tricks ständig verbesserte. Sie mochte behaupten, dass Sie ihrer Tochter nichts antun würde, aber es war zu einfach für Orla, sich vorzustellen, ein Reh zu erschießen, nur um dann von einer Leiche mit den braunen Augen von Eleanor Queen angestarrt zu werden.

Sie aßen ein wenig von dem süßen Gurkenrelish. Mittagessen. Tycho hatte das meiste davon gegessen – es war während ihrer mageren Tage zu einer Lieblingsbeilage geworden – und es war nicht mehr viel übrig. Eleanor Queen hatte sich bereit erklärt, ihren Bogen mitzunehmen, damit sie auf ein etwaiges Ziel schießen konnte. Orla hatte zwischen den Waffen hin und her überlegt. Das Gewehr blieb die logischere Wahl, um auf große Säugetiere zu schießen. Aber Orla beschloss, lieber einen Fasan oder eine Gans zu schießen, vielleicht sogar eine Krähe.

Sie redete sich ein, dass es sich nicht so sehr von der Zubereitung eines Truthahns zu Thanksgiving unterscheiden würde, auch wenn die Innereien des Truthahns praktischerweise separat in einer Plastiktüte geliefert wurden. Die Schrotflinte wäre auch für ein Kaninchen oder Eichhörnchen besser geeignet, obwohl sie vermutete, dass die hiesigen Eichhörnchen nicht ganz so zutraulich waren wie die, die sie in den Stadtparks bewundert hatte, furchtlose Bettler, die fast das Essen aus ausgestreckten Händen genommen hatten.

Sie hasste die Waffe und hasste es, sie zu laden. Als letzte Vorsichtsmaßnahme band sie das eine Ende eines Seils um die Taille von Eleanor Queen und das andere um ihre eigene Taille. So konnten sie nicht getrennt werden. Damit es keine Fehler gab. Damit Eleanor Queen nicht weglaufen kann . Ihre Tochter runzelte die Stirn und verdrehte die Augen.

Orla versuchte sich einzureden, dass es der Hunger war, der ihr liebes Kind mürrisch machte, und nicht der Einfluss eines mächtigen und verzweifelten Wesens. Sie nahm sich vor, im Kreis oder im Viereck zu gehen – nicht unähnlich dem Plan, den Shaw bei seinem ersten Ausflug aus dem Haus gehabt hatte – und erst dann entlang ihrer Schneespuren zurückzukehren, wenn es Zeit war, nach Hause zu gehen.

Während sie ihr dürftiges Mittagessen gegessen hatten, war der Waldrand wieder näher gerückt; er war nur noch wenige Meter vom Haus entfernt. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Stämme und drehten sich nach Bedarf, damit ihre Jacken nicht an der Rinde entlangschrammten. Eleanor Queen musste es auch gespürt haben, die Angst, dass einer der Bäume zum Leben erwachen und nach ihr schnappen könnte, wenn sie ihn mit einer Berührung erweckte. Orla befürchtete, dass, selbst wenn sie an einem anderen Tag die Energie für eine weitere Jagdrunde aufbringen könnte, die Bäume sie bis dahin vollständig eingekesselt haben könnten. Die sterbende Kreatur war unglücklich; sie las Ihren Unmut in der engen Anordnung der Bäume. Als sie den ehemaligen Waldrand hinter sich gelassen hatten, öffnete sich das Land ein wenig. Orla fing wieder an zu atmen.

Sie gingen in eine Richtung zwischen der Garage und dem riesigen Baum, und Orla hatte vor, beide zu umgehen; Eleanor Queen brauchte das Blau nicht zu sehen, das durch den Schnee ragte: die Plane, die die Leiche ihres Vaters verbarg.

»Wir gehen auf die Jagd, nicht fort«, rief Orla in Richtung des riesigen Baumes. »Eleanor Queen muss essen – du willst doch nicht, dass sie verhungert.«

In ihrer Vorstellung regnete es, und dann kam die Sonne zum Vorschein. Und die Blätter fingen das Wasser und das Licht auf und leiteten die Nährstoffe durch die Adern eines dicken Stammes nach unten in ein verborgenes Wurzelgeflecht. Das ist es, was Eleanor Queen braucht, damit sie nicht stirbt .

»Sie versteht den Hunger. Sie wünschte, sie könnte helfen«, sagte Eleanor Queen.

»Dann kann Sie mich also verstehen, wenn Sie will. Wie schön …«

»Aber du kannst sie nicht verstehen.«

Nun, sie konnte es, wenn die Kreatur wie ihr Mann aussah. Vielleicht würde sie später versuchen, Sie zu beschwören – war das wahr, was in der Nacht zuvor geschehen war? Wenn Sie nicht überzeugt werden konnte, Orla anstelle ihrer Tochter zu nehmen, konnte Orla vielleicht mehr von Ihrer Energie, Ihrer Lebenskraft verschwenden. Orla erinnerte sich deutlich daran, dass Sie gesagt hatte, wie anstrengend es sei, so direkt zu sprechen. Was für ein Sieg wäre es, wenn sie Sie dazu bringen könnte, sich selbst zu Tode zu reden.

»Sie hat nicht viel Zeit, Mama …«

»Baue deine Mauer, Eleanor Queen.«

»Es ist schwer zu ignorieren, wenn etwas weint …«

Orla drehte sich um, sprang auf ihre Tochter zu und muhte dabei wie eine verrückte Kuh.

Das Mädchen kreischte und wurde dann wütend. »Was machst du denn?«

»Die Konzentration stören.«

Eleanor Queen warf ihr einen bösen Blick zu, und sie setzten ihren Weg fort. Orla mochte weder die Stille, die sich zwischen ihnen einstellte, noch den konzentrierten Ausdruck auf dem Gesicht des Mädchens. Hörte sie gerade Ihr zu? Oder war Eleanor Queen jetzt diejenige, die redete? Verriet sie Orla an die Kreatur und erzählte ihr, dass ihre Mutter nicht mehr wollte, dass sie zusammen abhingen? Mama sagt, du bist eine Lügnerin . Orla durfte ihren Einfluss auf ihr eigenes Kind nicht verlieren.

»Warum probierst du nicht mal deinen Bogen aus? Sieh mal, ob du den umgestürzten Baum dort treffen kannst.« Ablenkung, der praktische Notfallplan einer Mutter, wenn Argumente oder Bitten versagten.

Sie blieben auf einem Teil des Grundstücks stehen, auf dem sie noch nie zuvor gewesen waren, und Eleanor Queen spannte einen Pfeil auf ihren Bogen. Orla stand schweigend da und beobachtete, wie sie sich konzentrierte. Sie hatte keine Ratschläge zu geben, da sie nichts über das Bogenschießen wusste, und vertraute darauf, dass Eleanor Queen, eine eifrige Leserin, irgendwann einmal etwas recherchiert hatte. Die Geduld ihrer Tochter war beeindruckend. Sie schob den Bogen von ihrem Körper weg und visierte ihr Ziel an: einen morschen Baum, der zur Hälfte aufrecht stand und von einem lebenden Baum gestützt wurde. Als sie bereit war, ließ sie den Pfeil los.

Er fand sein Ziel mit einem dumpfen Schlag, der sie beide zum Grinsen brachte. »Gut gemacht, du bist ein Naturtalent darin.«

Verbunden durch ihre Seilnabelschnur stapften sie durch die tieferen Verwehungen, um den Pfeil einzusammeln. Orla entschied sich dafür zu glauben, dass die Verbindung ihrer Tochter zu dem Wesen abnahm, je weiter sie sich von der großen Kiefer entfernten, und dass sie mehr sie selbst war, abwechselnd wachsam gegenüber der Welt um sie herum und in ihre privaten Gedanken vertieft. Sie kauerte ein paar Meter hinter ihrer Mutter, wann immer Orla die Flinte anlegte, und hielt sich die Ohren zu, wenn sie schoss. Im Gegensatz zu Eleanor Queen traf Orla nie ihr Ziel und verschwendete wertvolle Schrotpatronen. Ihr Abendessen flog kreischend davon. In Panik. Vielleicht traten sie zu schwer auf, machten zu viel Lärm. Wahrscheinlicher war, dass sie schlicht nicht schießen konnte. Ihr einziger Triumph war, dass sie sich nicht verirrt hatten und ihre Fußabdrücke den Weg zurück zu ihrem Gefängnis wiesen.

Was für ein Misserfolg. Sie musste ein Abendessen auf den Tisch bringen, vermochte aber nur ein stationäres Ziel von der Größe eines Bären zu treffen, der einen verängstigten Mann verbarg.